Gesammelte Werke. Alfred Adler

Gesammelte Werke - Alfred  Adler


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schreckt sie von weiteren Annäherungsversuchen an die Umgebung ab, was damit endet, daß sie sich einer lieblosen Welt gegenüber glauben, an die eine Anknüpfung nicht möglich ist.

      Beispiel: Ein Patient macht sich dadurch auffällig, daß er immer wie durch eine Last gedrückt einherschreitet und immer betont, wie sehr er von Pflichtbewußtsein und von der Wichtigkeit seiner Handlungen durchdrungen ist. Mit seiner Frau lebt er im denkbar schlechtesten Verhältnis. Beide Teile sind Menschen, die immer haarscharf auf einer Linie operieren, deren Endpunkt die Überlegenheit über den andern bildet. Die Folge davon sind Entzweiungen, Kämpfe, in deren Verlauf die gegenseitigen Vorwürfe immer schärfer und schwerer werden, bis das Band zerrissen ist und sie den Zusammenhang miteinander nicht mehr herstellen können. Sicherlich hatte dieser Mensch einen Teil seines Gemeinschaftsgefühls bewahrt. Was er aber seiner Frau, seinen Freunden und seiner sonstigen Umgebung bieten konnte, war durch seinen Hang, den Überlegenen zu spielen, gedrosselt.

      Aus seiner Lebensgeschichte erzählt er folgendes: Bis zu seinem 17. Lebensjahr war er körperlich gar nicht entwickelt, er war nicht gewachsen, seine Stimme war noch die eines Knaben, es fehlte der Bartwuchs und hinsichtlich seiner Körpergröße gehörte er zu den Kleinsten. Heute ist er 36 Jahre alt. Nichts fällt an ihm auf, seine äußere männliche Erscheinung ist durchaus untadelig. Die Natur hat an ihm alles eingebracht, was sie ihm bis zum 17. Jahre vorenthalten hatte. Er hatte aber acht Jahre lang unter diesem Entwicklungsabbruch gelitten und konnte damals nicht wissen, daß dies von selbst wieder verschwinden werde. So war er die ganze Zeit über von dem Gedanken gequält, er werde körperlich zurückbleiben und immer als das »Kind« durchs Leben gehen. Schon damals zeigten sich an ihm die Ansätze zu dem, was später an ihm sichtbar wurde. Sobald er mit jemand zusammenkam, versuchte er ununterbrochen ihm klarzumachen, daß er nicht etwa das Kind sei, als das er erscheine. Das tat er so, daß er sich immer wichtig nahm und wichtig machte und alle Bewegungen und Ausdrucksmittel in den Dienst des Bestrebens stellte, sich vorzudrängen. So kamen im Lauf der Zeit die Eigenschaften an ihm zustande, die man heute an ihm sieht. Auch seiner Frau suchte er fortwährend begreiflich zu machen, daß er eigentlich größer sei als sie glaube, und daß ihm daher viel mehr Bedeutung zukomme, als ihm zuteil werde, während diese, ähnlich geartet, ihn wieder darauf verwies, daß er eigentlich kleiner sei als er annehme. Auf diese Weise konnte kein freundschaftliches Verhältnis Zustandekommen und die Ehe, die schon in der Verlobungszeit deutliche Anzeichen von Zerwürfnis gezeigt hatte, ging vollends in Brüche. Damit zugleich aber auch das ohnehin schon stark angegriffene Selbstbewußtsein dieses Menschen, der nun, durch diesen Mißerfolg schwer erschüttert, zum Arzt kam. Mit diesem gemeinsam mußte er nun erst Menschenkenntnis betreiben, um zu verstehen, welche Fehler er im Leben gemacht hatte. Der Irrtum seiner vermeintlichen Minderwertigkeit zog sich durch sein ganzes Leben.

      3. Leitlinie und Weltbild

       Inhaltsverzeichnis

      Wenn man solche Untersuchungen anstellt, empfiehlt es sich, den Zusammenhang etwa so herzustellen, als ob, von einem Kindheitseindruck angefangen, bis zum vorliegenden Tatbestand eine Linie führen würde. Auf diese Weise wird es in vielen Fällen gelingen, die geistige Linie zu ziehen, auf der sich ein Mensch bisher bewegt hat. Es ist die Bewegungslinie, auf der sich das Leben des Menschen seit seiner Kindheit schablonenartig abspielt. Manche werden vielleicht den Eindruck haben, als ob dies ein Versuch wäre, menschliche Schicksale zu bagatellisieren und als ob wir die Neigung hätten, das freie Ermessen, die Schmiede des eigenen Schicksals zu leugnen. Das letztere trifft in der Tat zu. Denn was wirklich wirkt, ist immer die Bewegungslinie eines Menschen, deren Ausgestaltung wohl gewissen Modifikationen unterliegt, deren hauptsächlichster Inhalt und deren Energie, deren Sinn jedoch fest und unverändert von Kindheit an besteht, nicht ohne Zusammenhang mit der Umgebung des Kindes, die später von der größeren Umgebung der menschlichen Gesellschaft abgelöst wird. Hierbei muß man stets versuchen, die Geschichte eines Menschen bis in seine früheste Kindheit zurückzuverfolgen, denn bereits die Eindrücke in der Säuglingszeit weisen das Kind in eine bestimmte Richtung und veranlassen es, auf die Fragen des Lebens in bestimmter Weise zu antworten. Für diese Antwort wird alles verwendet, was das Kind an Entfaltungsmöglichkeiten ins Leben mitbringt, und der Druck, dem es bereits in der Säuglingszeit ausgesetzt ist, wird bereits seine Art der Lebensbetrachtung, sein Weltbild, in primitiver Weise beeinflussen.

      Es überrascht daher nicht, daß sich die Menschen seit ihrer Säuglingszeit eigentlich nicht sehr in ihrer Haltung zum Leben verändern, wenn auch ihre Äußerungen von denen ihrer ersten Lebenszeit sehr verschieden sind. Deshalb ist es wichtig, bereits den Säugling unter solche Verhältnisse zu bringen, unter denen es ihm nicht leicht ist, eine falsche Lebensauffassung zu gewinnen. Maßgebend ist hier vor allem die Kraft und Ausdauer seines organischen Bestandes, die soziale Lage des Kindes und die Eigenart der Erzieher. Wenn auch im Anfang die Antworten nur automatisch, reflektorisch erfolgen, so wird im Sinn einer Zweckmäßigkeit seine Haltung bald in der Weise abgeändert, daß nicht mehr nur die äußeren Faktoren der Bedürftigkeit sein Leiden und sein Glück ausmachen, sondern, daß es später imstande ist, sich aus eigener Kraft dem Druck dieser Faktoren zu entziehen. In ihrem Geltungsstreben trachten solche Kinder, sich dem Druck ihrer Erzieher zu entwinden und werden so zu Gegenspielern. Dieser Vorgang fällt in die Zeit der sog. Ichfindung, ungefähr die Zeit, da das Kind von sich oder in der Ich-Form zu sprechen beginnt. In diesem Zeitpunkt ist auch das Kind bereits dessen bewußt, daß es in einem festen Verhältnis zur Umgebung steht, die, durchaus nicht neutral, das Kind zwingt, Stellung zu nehmen und seine Beziehungen zu ihr so einzurichten, wie es sein, im Sinne seines Weltbildes aufgefaßtes Wohlbefinden erfordert.

      Wenn wir nun das über die Zielstrebigkeit im menschlichen Seelenleben Gesagte festhalten, so wird uns von selbst klar, daß dieser Bewegungslinie als besonderes Merkmal eine unzerstörbare Einheitlichkeit anhaften muß. Diese ist es auch, die uns in die Lage versetzt, einen Menschen als einheitliche Persönlichkeit zu begreifen, was besonders für den Fall wichtig ist, wenn ein Mensch Ausdrucks­bewegungen aufweist, die einander zu widersprechen scheinen. Es gibt Kinder, deren Verhaltungsweise in der Schule der in der Familie völlig entgegengesetzt ist und auch sonst im Leben begegnen wir Menschen, deren Charakterzüge sich in einander scheinbar so widersprechenden Formen darbieten, daß wir über das wahre Wesen dieser Menschen getäuscht werden. Ebenso kann es sein, daß Ausdrucksbewegungen zweier Menschen äußerlich einander völlig gleichen, sich aber bei näherer Untersuchung des Falles der ihnen zugrundeliegenden Bewegungslinie nach als so geartet erweisen, daß die eine das völlige Gegenteil der andern ist. Wenn zwei dasselbe tun, ist es nicht dasselbe; wenn aber zwei nicht dasselbe tun, so kann es doch dasselbe sein.

      Es handelt sich eben darum, die Erscheinungen des Seelenlebens, ihrer Vieldeutigkeit zufolge, nicht einzeln, voneinander isoliert, sondern gerade umgekehrt, in ihrem Zusammenhang und zwar alle als einheitlich auf ein gemeinsames Ziel gerichtet zu betrachten. Es kommt auf die Bedeutung an, die eine Erscheinung im ganzen Zusammenhang des Lebens eines Menschen für ihn hat. Erst die Erwägung, daß alles, was an ihm in Erscheinung tritt, einer einheitlichen Richtung angehört, ebnet uns den Weg zum Verständnis seines Seelenlebens.

      Haben wir begriffen, daß das menschliche Denken und Handeln der Zielstrebigkeit unterliegt, final bedingt und gerichtet ist, dann verstehen wir auch die Möglichkeit der größten Fehlerquelle, die für das Individuum dadurch gegeben ist, daß der Mensch alle Triumphe und sonstigen Vorteile seines Lebens gerade wieder auf seine Eigenart bezieht und im Sinne einer Festigung seiner individuellen Schablone, seiner Leitlinie verwertet. Das ist nur deshalb möglich, weil er alles ungeprüft läßt, im Dunkel des Bewußtseins und Unbewußtseins empfängt und verwaltet. Erst die Wissenschaft ist es, die hier Licht hineinfallen läßt und uns instand setzt, den ganzen Vorgang zu erfassen, zu begreifen und schließlich auch zu ändern.

      Wir beschließen unsere Auseinandersetzungen über diesen Punkt mit einem Beispiel, wobei wir versuchen wollen, jede einzelne Erscheinung mit Hilfe der bisher gewonnenen individualpsychologischen Erkenntnisse zu analysieren und zu erklären.

      Eine junge Frau meldet sich als Patientin und klagt über eine unüberwindliche Unzufriedenheit, deren Ursache sie dem Umstand


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