Gesammelte Werke. Alfred Adler

Gesammelte Werke - Alfred  Adler


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zu machen, wenn es für den Standpunkt der seelischen Bewegung notwendig ist und umgekehrt, etwas im Unterbewußtsein zu belassen oder es unbewußt zu machen, wenn dies für den gleichen Zweck erforderlich erscheint.

      Im ersten Fall handelt es sich um einen jungen Mann, der als Erstgeborener neben einer Schwester aufwuchs, dessen Mutter gestorben war, als er im 10. Lebensjahr stand. Von da an mußte der Vater, ein sehr intelligenter, wohlwollender und ethisch sehr hochstehender Mann, die Erziehung leiten, wobei er immer bestrebt war, den Ehrgeiz des Sohnes zu entfalten und anzuspornen. Dieser trachtete auch immer, in der vordersten Reihe zu stehen, entwickelte sich ausgezeichnet und stand tatsächlich in bezug auf seine ethischen und wissenschaftlichen Qualitäten in seinem Kreis immer an erster Stelle, sehr zur Freude seines Vaters, von dem er schon frühzeitig ausersehen worden war, im Leben eine wichtige Rolle zu spielen.

      Im Verhalten dieses jungen Mannes zum Leben trat aber so manches in Erscheinung, das dem Vater Sorge machte und das er zu ändern suchte. Dem Burschen war in seiner Schwester eine hartnäckige Rivalin erwachsen. Sie entwickelte sich ebenfalls sehr gut und war immer bestrebt, mit den Waffen des Schwächeren zu siegen und ihre Geltung auf Kosten des Bruders zu vergrößern. Sie gewann auch ziemlich Raum in der kleinen Häuslichkeit und für den Bruder war dieser Kampf ein hartes Stück Arbeit. Bei ihr konnte er nicht erreichen, was ihm sonst so leicht fiel zu erreichen, Ansehen, Geltung und eine gewisse Unterordnung, wie sie ihm zufolge seiner Fortschritte von Seiten seiner Kollegen regelmäßig zuteil wurde. Der Vater bemerkte bald, daß der Junge, besonders als er in die Pubertät kam, im gesellschaftlichen Leben eine sonderbare Art annahm, die kurz darin bestand, daß er überhaupt nicht gesellschaftlich wurde, eine Abneigung bekundete, mit Bekannten oder gar fremden Leuten zusammenzukommen und geradezu Reißaus nahm, wenn es sich um Bekanntschaften mit Mädchen handelte. Anfangs schien dies dem Vater recht zu sein. Später nahmen aber diese Erscheinungen solche Dimensionen an, daß der Junge fast gar nicht mehr aus dem Haus ging, daß ihm sogar Spaziergänge, außer in späten Abendstunden, unangenehm wurden. Er schloß sich so sehr ab, daß er seine Bekannten nicht einmal grüßen wollte. Dabei war seine Stellung in der Schule und dem Vater gegenüber immer durchaus untadelig und man konnte jederzeit mit seinen Qualitäten rechnen.

      Als es so weit gekommen war, daß man ihn überhaupt nirgends mehr hinbringen konnte, kam der Vater zum Arzt, und es konnte nach einigen Unterredungen folgendes festgestellt werden: der junge Mann stand auf dem Standpunkt, daß er zu kleine Ohren habe und man ihn deshalb für häßlich halte. In Wirklichkeit war dies durchaus nicht der Fall und auf den Einwand, daß seine Argumente nicht gebilligt werden könnten, da er, darauf gestützt, sich dem Verkehr mit der Gesellschaft entziehen wolle, behauptete er, auch seine Zähne und Haare seien häßlich, was ebenfalls nicht zutraf. Dagegen zeigte es sich, daß er von einem ungeheurem Ehrgeiz erfüllt war. Von diesem wußte er und er führte ihn zum Teil darauf zurück, daß der Vater immer in ihn gedrungen habe, bestrebt zu sein, eine hohe Stellung im Leben zu erreichen. Seine Zukunftspläne gipfelten darin, daß er sich der Wissenschaft ergeben wollte. Das wäre weiter nicht auffällig, wenn damit nicht der Hang verbunden gewesen wäre, der Gemeinschaft, der Mitmenschlichkeit, auszuweichen. Wie kam er zu solchen, geradezu kindischen Argumentationen? Die Argumente hätten ihn, wären sie richtig gewesen, wohl berechtigen können, mit einer gewissen Vorsicht und Ängstlichkeit ins Leben hinauszutreten; Häßlichkeit kann ihrem Träger unzweifelhaft zuweilen Schwierigkeiten bereiten.

      Die weitere Untersuchung ergab folgendes: Der junge Mann hatte ein Ziel vor Augen, das er mit heftigem Ehrgeiz verfolgte. Er war bisher der Erste gewesen und wollte es auch weiterhin bleiben. Zur Erreichung dieses Zieles stehen nun verschiedene Mittel zu Gebote, wie Konzentration, Fleiß u. dgl. Offenbar war ihm das zu wenig. Er suchte außerdem krankhaft alles ihm überflüssig Scheinende aus seinem Leben auszuschalten. Wohl hätte er sich ausdrücklich bewußt sagen können: »Da ich berühmt werden und mich daher ganz meinen wissenschaftlichen Arbeiten widmen will, bin ich genötigt, mich auch jeder gesellschaftlichen Beziehung zu entschlagen.« Das hat er aber weder gesagt noch gedacht, sondern er richtete zu diesem Zweck sein Augenmerk auf die Kleinigkeit seiner angeblichen Häßlichkeit. So hat die Hervorhebung dieses geringfügigen Umstandes für ihn den Wert, daß sie ihm gestattete, was er in Wirklichkeit wollte. Er mußte nur die nötige Verve aufbringen, um falsch zu argumentieren, übertrieben zu begründen, um sein geheimes Ziel verfolgen zu können. Jeder hätte dasselbe sofort durchschaut und verstanden, wenn er gesagt hätte, er wolle, um der Erste zu werden, wie ein Asket leben. Obwohl ihm der Gedanke, eine erste Rolle spielen zu wollen, innerlich vertraut war, war in seinem Bewußtsein nichts davon zu finden, denn den Gedanken, daß er für dieses Ziel alles andere in die Schanze schlagen wolle, hat er nicht gedacht. Hätte er sich bewußt vorgenommen, seinem Ziel alles zu opfern, so wäre er lange nicht so sicher gewesen als dadurch, daß er sagte, er sei ein häßlicher Mensch und dürfe nicht in die Gesellschaft gehen. Auch macht sich einer, der offen sagt, er wolle der Erste sein und wolle daher auf mitmenschliche Beziehungen verzichten, vor seiner Umgebung lächerlich und würde auch selbst vor diesem Gedanken erschrecken. Dieser Gedanke ist als solcher nicht denkfähig. Es gibt Gedanken, die man der andern und auch seiner selbst wegen nicht klar fassen will. Daher ist ihm dieser Gedanke mit Recht unbewußt geblieben.

      Macht man einem solchen Menschen diese Haupttriebfeder klar, die er sich selbst nicht klarmachen durfte, um sein Verhalten beibehalten zu können, dann stört man natürlich seinen ganzen seelischen Mechanismus. Denn nun tritt das ein, was er ja verhindern mußte, das Klarwerden eines Gedankenganges, der nicht gedacht werden kann, der denkunfähig ist und dessen Bewußtwerden sein Vorhaben stören würde. Überlegt man diese Erscheinung, die darin besteht, daß jemand Gedanken beiseite schiebt, die ihn hindern, und jene aufgreift, die ihn in seiner Stellungsnahme fördern, so wird man finden, daß das eine allgemein menschliche Erscheinung ist. Denn alle Menschen erwägen meist nur Dinge, die für ihre Anschauung und Einstellung förderlich sind. Bewußt wird also, was uns fördert und unbewußt bleibt, was unsere Argumentation stören könnte.

      Der zweite Teil betrifft einen sehr fähigen Jungen, dessen Vater Lehrer war und seinen Sohn mit großer Strenge dazu drängte, immer der Erste zu sein. Auch in diesem Fall war der Primat des jungen Menschen unangefochten. Wo er auftrat, war er derjenige, der am besten beschlagen war. In der Gesellschaft war er einer der liebenswürdigsten Menschen und hatte auch einige Freunde.

      Ungefähr in seinem 18. Lebensjahr trat nun eine große Veränderung ein. Er zog sich von allem zurück, nichts freute ihn mehr, er war verdrossen und mißmutig. Kaum hatte er eine Freundschaft geschlossen, ging sie schon wieder in Brüche. Jeder nahm an seinem Verhalten im Leben Anstoß bis auf seinen Vater, dem das zurückgezogene Leben seines Sohnes insofern gelegen kam, als er dabei hoffte, er werde sich dadurch um so besser dem Studium hingeben können.

      Bei der Behandlung beklagte sich der Junge fortwährend, daß ihm sein Vater das Leben verleidet habe, daß er kein Selbstvertrauen und keinen Lebensmut aufbringen könne und daß ihm nur übrig bleibe in der Einsamkeit sein Leben zu vertrauern. Seine Fortschritte im Studium hatten schon nachgelassen und er war an der Hochschule durchgefallen. Wie er erzählt, hatte die Veränderung damit begonnen, daß er einmal in der Gesellschaft wegen seiner geringen Kenntnisse in der modernen Literatur verlacht worden war. Als sich Ähnliches öfters wiederholte, begann er sich immer mehr zu isolieren und von allen menschlichen Beziehungen Abstand zu nehmen. Dabei war er völlig von dem Gedanken beherrscht, daß es sein Vater sei, der die Schuld an seinem Mißerfolg trage. Das Verhältnis zwischen beiden wurde täglich schlechter.

      Die beiden Fälle sind einander in mancher Beziehung ähnlich. Im ersten Fall war der Patient am Widerstand seiner Schwester gescheitert, hier war es der Vater, mit dem ein kämpferisches Verhältnis bestand. Beide Patienten hatten als Leitlinie ein Ideal, das wir als Heldenideal zu bezeichnen pflegen. Beide waren in ihrem Heldenrausch so ernüchtert worden, daß sie am liebsten die Flinte ins Korn geworfen und sich gänzlich zurückgezogen hätten. Man würde aber fehlgehen, wenn man meinte, der letztere hätte sich eines Tages gesagt: »Da ich dieses Heldendasein nicht weiterführen kann, da mir andere überlegen sind, ziehe ich mich zurück und werde mir das ganze Leben verbittern.« Gewiß hatte sein Vater unrecht, die Erziehung war schlecht. Es war auffällig, daß er für nichts anderes Augen hatte, als für diese seine schlechte Erziehung, die er immer wieder betonte. Dadurch aber, daß


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