Südwärts. Ernest Henry Shackleton
Endurance wandte sich Richtung Süden, und das tapfere Schiff tauchte in die südwestliche Dünung12 ein. Am Vormittag fiel Sprühregen, aber später am Tag klarte es auf, und wir hatten gute Sicht auf die Küste Südgeorgiens, als wir unter Dampf und Segel südostwärts fuhren. Der Kurs führte uns von den Inseln weg und dann südlich von Süd-Thule. Im Laufe des Tages frischte der Wind auf und alle Rahsegel13 wurden gesetzt, das Focksegel14 jedoch gerefft15, damit der Ausguck klare Sicht voraus hatte, denn wir wollten nicht riskieren, mit einem »Growler« zu kollidieren, einem dieser trügerischen Eisbrocken, die knapp unter der Wasseroberfläche treiben. Das Schiff lag einigermaßen ruhig in der von achtern16 anrollenden See, sah aber gewiss nicht so schmuck aus wie vor vier Monaten bei der Ausfahrt vor der englischen Küste. In Grytviken hatten wir Kohle geladen und diesen zusätzlichen Brennstoff an Deck verstaut, wo er die Bewegungsfreiheit nicht wenig beeinträchtigte. Der Schiffszimmermann hatte ein Behelfsdeck gebaut, das sich vom Heck bis zum Kartenhaus erstreckte. Zudem hatten wir für die Hunde eine Tonne Walfleisch an Bord genommen. Die großen Fleischstücke wurden in die Takelage gehängt, außer Reich-, aber nicht außer Sichtweite der Hunde, und als die Endurance rollte und stampfte17, hielten sie mit Adleraugen nach Fallobst Ausschau.
Ich war sehr zufrieden mit den Hunden, die überall im Schiff an den bequemsten Plätzen angebunden waren, die wir für sie finden konnten. Sie befanden sich in hervorragender Verfassung, und ich hatte das Gefühl, dass die Expedition über die richtigen Zugtiere verfügte. Es waren große, kräftige Tiere, ausgewählt aufgrund ihrer Ausdauer und Stärke, und wenn sie ebenso begierig darauf sein werden, unsere Schlitten zu ziehen, wie sie es jetzt sind, miteinander zu kämpfen, wäre alles bestens. Die Hundeführer verrichteten ihre Arbeit mit Begeisterung, und der Eifer, den sie dabei zeigten, Wesen und Gewohnheiten ihrer Schützlinge zu studieren, ließ hoffen, dass es später kaum Probleme mit den Hunden geben würde.
Während des 6. Dezembers legte die Endurance ein gutes Stück Wegstrecke Richtung Süden zurück. Die nördliche Brise war über Nacht aufgefrischt und brachte eine hohe See von Achtern mit sich. Es war dunstig, und wir passierten zwei Eisberge, mehrere Growler und zahllose Eisbrocken. Forscher und Besatzung erledigten ihre alltägliche Arbeit. Vom Schiff aus konnten wir eine vielfältige Vogelwelt beobachten, unter anderem Kap-, Blau- und Riesensturmvögel, Dunkel- und Wanderalbatrosse und Seeschwalben. Unser Kurs sollte durch die Passage zwischen Saunders Island und Candlemas Volcano führen. Der 7. Dezember brachte den ersten Dämpfer. Um 6 Uhr morgens änderte sich die Farbe des Meeres, das den ganzen Tag zuvor grün gewesen war, plötzlich zu einem tiefen Indigo. Das Schiff hielt sich gut in der rauen See, und einige Mitglieder der wissenschaftlichen Besatzung verstauten die an Deck gelagerte Kohle in die Kohlebunker18. Am frühen Nachmittag kamen Saunders Island und Candlemas in Sicht, und die Endurance steuerte um sechs Uhr abends zwischen beiden hindurch. Worsleys Beobachtungen ergaben, dass Saunders Island sich ungefähr drei Meilen östlich und fünf Meilen nördlich von ihrer auf der Karte eingezeichneten Position befand. Westlich der Insel trieben eine große Anzahl von Eisbergen, die meisten hatten die Form von Tafelbergen, und wir sahen, dass viele von ihnen gelb vor Kieselalgen waren. Ein Eisberg hatte an den Seiten große Flecken rotbrauner Erde. Das Vorkommen so vieler Eisberge war unheilvoll, und gleich, nachdem wir die Inseln passiert hatten, gerieten wir in Treibeis. Wir holten alle Segel ein und fuhren langsam unter Dampf weiter. Zwei Stunden später, fünfzehn Meilen nordöstlich von Saunders Island, stieß die Endurance auf einen Gürtel aus schwerem Packeis, der sich von Nord nach Süd erstreckte und etwa eine halbe Meile breit war. Dahinter lag freies Meer, aber die starke südwestliche Dünung machte das Packeis in unserer Umgebung undurchdringlich. Das war beunruhigend. Mittags befanden wir uns auf 57° 26' südlicher Breite, und ich hatte nicht erwartet, so weit im Norden auf Packeis zu stoßen, obwohl die Walfänger von Packeis bis hinauf nach Süd-Thule berichtet hatten.
Gegen Abend spitzte sich die Lage zu. Wir drangen in das Packeis vor, in der Hoffnung, die freie See dahinter zu erreichen, und fanden uns nach Einbruch der Dunkelheit auf einer Wasserfläche wieder, die kleiner und kleiner wurde. Das Eis mahlte in der starken Dünung um das Schiff herum, und ich hielt mit Sorge Ausschau nach Anzeichen, dass der Wind auf Ost dreht, da eine Brise aus dieser Richtung uns an die Küste drücken würde. Worsley und ich blieben die ganze Nacht auf Deck und wichen dem Packeis aus. Um 3 Uhr nachts fuhren wir südwärts, indem wir einige Öffnungen ausnutzten, die sich aufgetan hatten, stießen aber auf schnell treibendes Packeis, das offensichtlich schon alt und zum Teil großem Druck ausgesetzt gewesen war. Dann dampften wir Richtung Nordwest und entdeckten nordöstlich offenes Wasser. Ich drehte den Bug der Endurance dorthin, und wir kamen unter Volldampf frei. Dann wandten wir uns in der Hoffnung auf bessere Eisverhältnisse nach Osten, und nach fünf Stunden und einigen Ausweichmanövern hatten wir das Packeis umschifft und konnten wieder die Segel setzen. Dieses erste Geplänkel mit dem Packeis war zuweilen beängstigend gewesen. Eisbrocken und -berge jeglicher Größe tanzten in der starken südwestlichen Dünung und rieben gegeneinander. Trotz aller Vorsicht rammte die Endurance einige große Brocken mit dem Vordersteven19, doch konnten die Maschinen rechtzeitig gestoppt werden, sodass kein Schaden entstand. Den ganzen Tag über bot sich uns ein prächtiges Schauspiel für Auge und Ohr. Die Dünung klatschte gegen die Flanken der riesigen Eisberge und spritzte bis hinauf zu deren eisigen Klippen. Im Süden lag Saunders Island, von der ein paar Felsspitzen aus den Nebelwolken hervorlugten, die sie die meiste Zeit verhüllten. Das Meer donnerte in die Eiskavernen, die Dünung brandete schäumend am Treibeis, und das Packeis wogte auf der steilen Dünung, deren Kraft wegen der Eismassen auf der Luvseite20 gebrochen war, anmutig auf und ab.
Bei gutem Wetter, einer leichten Brise aus Südwest und bedecktem Himmel umrundeten wir zwischen zahlreichen Eisbergen hindurch die nördliche Grenze des Packeises. Am Morgen des 9. Dezembers brachte eine Brise von Osten diesiges Wetter und Schnee. Um 4:30 Uhr nachmittags stießen wir bei 58° 27' S und 22° 08' W erneut auf den Rand des Packeises. Es war einjähriges Eis mit älteren Einsprengseln, es lag unter einer dicken Schneedecke und erstreckte sich von WSW nach ONO. Um 5 Uhr drangen wir hinein, kamen aber nicht voran, sodass wir um 7:40 Uhr wieder hinaussteuerten. Dann nahmen wir Kurs ONO und verbrachten den Rest der Nacht damit, das Packeis zu umfahren. Tagsüber hatten wir Adelie- und Zügelpinguine gesichtet sowie einige Buckel- und Finnwale. Ein weißes Glitzern im Westen ließ in dieser Richtung auf Packeis schließen. Nach Umfahrung des Packeises steuerten wir S 40° O, und am Mittag des 10. erreichten wir die Position 58° 28' S und 20° 28' W. Beobachtungen ergaben, dass die Abweichungen des Kompass anderthalb Grad geringer waren als auf der Karte verzeichnet. Ich hielt die Endurance bis Mitternacht auf Kurs, als wir etwa neunzig Meilen südöstlich von unserer Mittagsposition in loses Treibeis gerieten. Es war dem Packeis vorgelagert, und wir kamen nur noch langsam voran. Bei gutem Wetter rollte eine lange Dünung mit leichter Brise aus nördlicher Richtung. Vor dem Packeis trieben zahlreiche Eisberge.
Die Endurance dampfte bis zum 11. Dezember um 8 Uhr durch das lockere Eis, als wir bei 59° 46' S und 18° 22' W wieder in das Packeis eindrangen. Wir hätten weiter ostwärts gekonnt, aber das Packeis dehnte sich weit in diese Richtung aus, und der Versuch, es in einem Bogen zu umfahren, hätte uns zu weit nördlich bringen können. Ich wollte nicht die bereits errungene südliche Breite aufs Spiel setzen. Die zusätzlichen Meilen hätten für ein Schiff mit einem größeren Kohlevorrat, als die Endurance ihn besaß, keine Rolle gespielt, aber wir konnten uns nicht leisten, ohne Not Treibstoff zu verschwenden. Das Packeis war nicht sehr dicht und bereitete für den Augenblick keine Probleme. Wir setzten das Focksegel, um den Wind von Norden auszunutzen. Das Schiff prallte gelegentlich gegen das Eis und erhielt einige schwere Stöße. Ein oder zwei Mal kam die Endurance vor massiven Schollen komplett zum Stillstand, aber sie nahm keinen Schaden. Die Hauptsorge galt der Schiffsschraube und dem Steuerruder. Schien eine Kollision unvermeidlich, befahl der wachhabende Offizier die Maschinen auf »langsame Fahrt« oder »halbe Kraft voraus« zu drosseln. Dann wurde das Steuerruder zum Eis hin umgelegt, um die Schraube dagegen abzuschirmen, und das Schiff setzte seine Fahrt fort. Worsley, Wild und ich übernahmen mit drei Offizieren drei Wachen, während wir uns durchs Packeis vorarbeiteten, sodass sich jederzeit zwei Offiziere an Deck befanden. Der Schiffszimmermann hatte auf der Brücke einen sechs Fuß hohen Signalmast aus Holz errichtet, damit der Steuermann21 dem Rudergänger22