ALTE WUNDEN (Black Shuck). Ian Graham
»Verzeihung, Sir. Dr. Garvinton will es so. Mr. McIver darf keinem Verhör unterzogen werden, bis ein eindeutiger Befund über seinen Gesundheitszustand vorliegt.«
Constance wollte das Wartezimmer verlassen, doch Castellano hielt sie zurück.
»Ich muss wirklich dringend möglichst bald mit Ihrem Mann sprechen. Hier haben Sie meine Karte. Meine Mobilnummer ist auch angegeben. Ich möchte, dass Sie mich sofort anrufen, wenn er in der Lage ist, mit mir zu reden.«
Constance nickte. »Werde ich.«
Er sah zu, wie sie die Visitenkarte in eine Tasche ihrer Jacke steckte und hinausging. Zunächst wollte er ihr folgen, blieb dann aber in der Tür stehen und beobachtete sie weiter, als sie an die Seite eines Rollbetts trat, das gerade aus einem Raum in den Flur geschoben wurde. Ein Pfleger bugsierte den Patienten zum Schwesternzimmer, wobei Castellano erstmals einen Blick auf den Mann werfen konnte, dessentwegen er gekommen war. Declan McIvers Aussehen deckte sich mit der Beschreibung des Sanitäters, doch im Gegensatz zu den Behauptungen des übrigen Personals machte er einen völlig geistesgegenwärtigen Eindruck, während er die Hand seiner Frau festhielt und sich im Gang umschaute.
Nachdem Castellano die Klinik durch die automatische Flügeltür verlassen hatte, stand er unter dem Dach des Hintereingangs und nahm sein Handy aus einer Tasche des Trenchcoats. Der Nieselregen, der bereits den ganzen Abend gefallen war, hatte sich zu einem regelrechten Wolkenbruch ausgewachsen, der auf die Dächer der Autos auf dem Parkplatz neben der Ambulanz prasselte. Seth presste sein Ohr ans Telefon, während ein Freizeichen ertönte.
»Ich bin es wieder«, sagte er schließlich, als sich David Kemiss meldete. »Wir haben ein Problem.«
Kapitel 12
10:02 Uhr, Eastern Standard Time – Samstag, Virginia Baptist Hospital, Lynchburg, Virginia
»Mr. McIver«, sagte ein Arzt, der sich die Wertetabelle auf seinem Notizbrett ansah, während er das Patientenzimmer betrat. »Ich würde Sie als einen der größten Glückspilze bezeichnen, die mir hier seit Langem untergekommen sind, aber das wäre nach letzter Nacht nicht richtig; Gott sei Dank hatten dort draußen eine Menge Menschen Glück.«
Declan setzte sich in seinem Krankenbett auf. Nachdem er dem Tod nur knapp von der Schippe gesprungen und aus der provisorischen Notaufnahme im Erdgeschoss verlegt worden war, hatte er in einem Beobachtungszimmer ausruhen können.
»Ich schätze, was man über Iren und deren Glück sagt, ist nicht ganz aus der Luft gegriffen«, fuhr der Mann lächelnd fort. »Sie sind doch Ire, nicht wahr?«
»Richtig«, bestätigte Declan. Im Grunde sah er sich selbst als Amerikaner, da er seit 15 Jahren in den Vereinigten Staaten lebte, doch wann immer er redete, wurde er an seine Wurzeln erinnert.
»Mir wäre es lieber, wenn Sie nicht fernsehen würden«, deutete der Arzt an. »Es ist wichtig, dass Sie sich in den nächsten Tagen viel Ruhe gönnen. Übelkeitsanfälle mit Erbrechen und in einigen seltenen Fällen auch Bewusstseinsverlust sind unter Patienten mit Schädeltrauma durchaus nicht unüblich. Sie hatten wirklich großes Glück, denn viel hätte nicht gefehlt, und die Schäden infolge Ihrer Verletzungen wären von Dauer gewesen, doch so, wie es aussieht, können wir Ihnen die Fäden an der Hand wohl nächste Woche ziehen, und bis dahin sollten sie nichts mehr merken. Keines der Röntgenbilder, die wir in den letzten zwölf Stunden gemacht haben, deutet auf weitere Schwellungen hin. Abgesehen von der harmlosen Platzwunde über Ihrem Auge zeugt nichts davon, dass Sie überhaupt geschlagen worden sind. Ich werde meinem Kollegen von der Nachmittagsschicht Bescheid geben, Sie später zu entlassen. Bis zum Abendessen dürften sie draußen sein, aber ich weise Sie dennoch darauf hin, dass Sie es langsam angehen lassen sollten.«
Declan nickte zustimmend, während er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr er sich darüber freute, endlich aus dem Krankenhaus raus zu kommen.
»Sie haben Besuch«, fügte der Arzt hinzu, während er sich das Notizbrett unter einen Arm klemmte. »Ich rufe ihn herein.«
»Fassen Sie sich kurz«, hörte Declan ihn auf dem Flur zu jemandem sagen. »Er hat heute Morgen schon gegen mein Anraten mit zwei Mitarbeitern von Ihnen gesprochen. So schnell er auch zu genesen scheint, braucht er weiterhin Ruhe, statt ständig an alles erinnert zu werden, was er erlebt hat.«
Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, trat ein großer Mann mit braunen Haaren in einem dreiteiligen Anzug mit makellosen Bügelfalten in den Raum. Er trug eine dicke Kartonmappe bei sich und hatte einen Seitenscheitel, der steif war vor Gel. Ein Hauch von Seife umwehte ihn, als er zum einzigen Stuhl im Zimmer ging und Platz nahm.
»Mr. McIver, ich bin der Assistenzsonderbevollmächtigte Seth Castellano vom FBI-Außenbüro in Richmond«, sagte er, während er die Aktenmappe öffnete. »Freut mich, dass wir endlich die Gelegenheit bekommen, uns zu unterhalten.«
Er hatte etwas flegelhaft Hochmütiges an sich, weshalb sich Declan innerlich etwas versteifte. Da er nicht sicher war, ob es an seiner Abneigung gegen arrogante Schlipsträger oder etwas anderem lag, nickte er nur und behielt sich eine Antwort vor.
»Wie mir das Personal hier mitteilte, haben Sie bereits mit der örtlichen Polizei gesprochen, ist das richtig?«
Declan nickte wieder.
»Eines möchte ich direkt klarstellen, Mr. McIver: Diese Ermittlungen fallen nicht in die Zuständigkeit der hiesigen Polizei. Es handelt sich um eine bundesstaatliche Angelegenheit und fällt als solche in meinen Verantwortungsbereich, verstanden?«
»Halten Sie es nicht für unangemessen, in einer solchen Situation das Kompetenzgerangel zwischen den Behörden zu einem Politikum zu machen?«
»Das ist kein Kompetenzgerangel. Die Polizei hier hat überhaupt nichts zu sagen. Sheriff Andy und Deputy Fife würden in diesem Fall nur Stümperei betreiben, indem sie ihre Männer in die städtische Moschee schicken, um die Kameltreiber mit Turban aufzuscheuchen.«
»Es waren Tschetschenen und Türken, vielleicht auch ein, zwei Armenier, aber niemand aus dem Mittleren Osten.«
»Tschetschenen, Türken und Armenier, das ist Ihre Story?«
Declan nickte ein weiteres Mal, auch wenn sich Castellano in seiner Wortwahl vergriffen hatte, wie er fand. Was genau unterstellte ihm der Agent mit »Story«? Dass er Declans Aussage gegenüber der Polizei anzweifelte?
»Ich habe mich selbst mit den Zuständigen hier unterhalten«, begann Castellano erneut in einem Tonfall, der Ungläubigkeit suggerierte. »Sie behaupten, mit angesehen zu haben, wie ein Terrorist Mr. Kafni enthauptete und den Kopf dann triumphal hochhielt, ist das korrekt?« Er ballte seine Fäuste, als würde er jemandem in die Haare greifen, und imitierte die Handlung.
»Das habe ich nicht ausgesagt. Ich hörte lediglich, wie der Anführer der Gruppe meinte, er würde das tun.« Declan machte eine kurze Pause, um tief Luft zu holen. »Ich hörte, wie er Kafni ankündigte, ihm den Kopf abzuschneiden und an seine Angehörigen zu schicken. Dann sah ich, wie die Gruppe das Gebäude verließ und einer – wohl der Anführer – einen weißen Sack trug, dessen Unterseite sich rötlich einfärbte. Bewachen Sie Kafnis Familie? Sie dürfen nicht zulassen, dass irgendjemand etwas bei ihr abliefert.«
»Dann können Sie bestimmt nachvollziehen, weshalb ich Bedenken bezüglich der Polizei hier habe«, erwiderte Castellano, ohne auf die Frage einzugehen. »Die wäre imstande, jedermann weiszumachen, dass der kopflose Reiter tatsächlich existiert – mit Kürbis, Säbel und allem Drumherum –, und eine Massenfahndung nach ihm loszutreten.«
Declan packte die erhöhten Bettseiten so fest, dass seine Mittelhandknochen weiß wurden. Castellano bedrängte ihn aus irgendeinem Grund. Das beunruhigte ihn.
»Wer also waren diese Männer? Sie erzählten den Beamten, es seien Muslime gewesen, mir gegenüber hingegen erwähnten Sie etwas von Tschetschenen, Türken und Armeniern. Woher wissen Sie, dass der mit dem Sack ihr Anführer war? Von wie vielen Attentätern sprechen wir?