Seefahrt ist not!. Gorch Fock
Mewes sich freudig und heilig vor, einen Fahrensmann aus ihm zu machen, einen Seefischer, einen so furchtlosen und verwegenen, wie Finkenwärder noch keinen gehabt hatte. Noch diesen Sommer wollte er ihn mit nach See nehmen, ob auch die Mutter weinte und die Leute den Kopf schüttelten. Lachend wollte er ihnen trotzen, denn er war es nicht gewohnt, auf andere zu hören, weder an Land noch auf See. Wie seinen Ewer, so steuerte er auch sein Leben selbst.
Ja, Klaus Störtebeker sollte ein Fischermann werden!
Der Junge hieß Klaus Mewes, wie er selbst, aber das ganze Eiland, mit Ausnahme von Gesa, nannte ihn Klaus Störtebeker, einmal, weil er wirklich ein großer Strömer und Liekedeeler war, ein Brite und Tunichtgut, dann, weil sein grüner Kahn diesen Seeräubernamen an Steven und Gatt trug, schließlich auch wegen des Großvaters, dem er noch ähnlicher sehen sollte als seinem Vater, wie die alten Leute behaupteten, — der auch Klaus Mewes geheißen hatte, wegen seines Freibeutertums aber allgemein Störtebeker genannt worden war. Was den kleinen Klaus Mewes anbetraf, so war der mit seinem Seeräubernamen so einverstanden, daß er auf seinen wirklichen nicht mehr hörte: rief einer Klaus, so sagte er: Klaus gifft en ganzen barg! — nannte ihn einer Klaus Mewes, so erwiderte er: dat is mien Vadder, du anner! — erst bei Störtebeker ließ er sich ermuntern und antwortete.
Klaus Mewes freute sich. Wie treu der Junge Wache ging, wie genau er das Deck abmaß! Da war kein Schritt zu viel und keiner zu wenig! Wenn er sich beim Birnbaum umdrehte, vergaß er niemals, nach dem Kompaß zu sehen und die Segel zu überholen; wenn er beim Apfelbaum angekommen war, spähte er luvwärts und leewärts über die See. Mit großem Behagen und einiger Verwunderung bemerkte der Seefischer diese Einzelheiten, die ihm sagten, daß der Junge ihm und den anderen Fahrensleuten schon viel mehr abgeguckt hatte, als er glauben wollte. Nichts störte den kleinen Fischer, der wußte, daß er auf See war und kein Land in Sicht hatte, und sich weder um die vorbeigehenden Kinder bekümmerte, noch den vorüberrollenden Wagen nachlief.
Daß der Seefischer bei diesem Ausguck viel von der Predigt hörte, war nicht zu verlangen: er wurde kaum gewahr, daß der goldene Stern oben an der Orgel klingend lief, einem Hochzeitspaare zur Feier, und hätte sogar den Klingelbeutel übersehen, wenn der ihm nicht pall unter die Nase gehalten worden wäre. Nur der Gesang lenkte ihn eine Zeitlang von seinem Jungen ab, denn es brauste gewaltig durch die Kirche: Krist Kyrie, komm zu uns auf die See! Im Innersten ergriff es ihn, denn das war kein Gesang mehr: wie ein weher Ruf, wie ein todesbanger Schrei hörte es sich an und schlug wie Meereswogen um die kahlen Pfeiler, es war, als wenn die Stürme sich wieder erhöben und die See und die Herzen aufwühlten, die Segel und die Seelen zerrissen, als wenn Geisterlaute, die Stimmen der Ertrunkenen, der Verschollenen sich hineinmischten. So furchtbar drückte der Küster auf die Tasten, der an seinen gebliebenen Sohn dachte, so übermächtig sangen die Fahrensleute.
Klaus Störtebeker sah sich besorgt um und dachte, es komme Wind auf, weil es mit einem Male so brauste. Aber er durfte und wollte sich nicht bange machen lassen und ging deshalb wieder auf und ab zwischen den Bäumen, deren Stämme der Hasen und der Raupen wegen mit Kalk bestrichen waren. Unverdrossen hielt er aus, bis der Mond aufging, der stille, milde Freund der Menschen: Peter Wittorfs rundes, glänzendes Vollmondsgesicht erschien in der Schalluke auf dem Turm. Die Glocke mit der Aufschrift: Ut dat Füer bün ik floten / Peter Struve hett mi goten — begann, sich leise knarrend zu wiegen, schwang sich höher und höher, bis der Klöppel dröhnend gegen den Mantel schlug und das helle Geläut sich erhob. Die Türen wurden aufgestoßen, die Jungen stürmten heraus, als sei drinnen eine Feuersbrunst ausgebrochen, die Mädchen drängten nach, dann kamen die Fahrensleute und die Frauen: da ging das Nachthaus bellend in die Binsen und war nicht wieder in Sicht zu bekommen, so laut Störtebeker auch rief und pfiff. Aber wenn er nun auch ohne Kompaß war, so hielt er dennoch getreulich aus und verließ seinen Posten nicht, bis sein Vater lachend zu ihm trat und ihn erlöste.
Ob er auch Haverei gehabt hätte? Nein, nur das Nachthaus wäre siebenmal über Bord gekommen! Ob der Fang gut gewesen sei? Ja, bannig gut, ein feiner Streek, hundert Stiege, große Südschollen!
„Deubel ok, du kannst dat ober!“ lobte Klaus Mewes.
„Jä, Vadder, dat harrst di woll ne dacht, wat? Nimm mi man mit no See, denn schallst mol sehn, wat wi de Fisch belurt!“ sagte der Junge mit blitzenden Augen und fuchsklugen Nasenlöchern.
Der Seefischer aber warf ihm das Gesangbuch hin und erwiderte, sie wollten erst mal sehen, ob die Klütjen noch schmeckten. „Kumm, Seemann!“ Und er schechtete groß und heiter auf dem Kirchenweg entlang und überholte eine dunkle Reihe nach der andern. Immer größer wurden seine Schritte, so daß Störtebeker in Sprüngen laufen mußte, um mitzukommen, und Seemann, der weite Wege gar nicht gewohnt war, weil er sonst nur von Backbord nach Steuerbord zu wackeln brauchte, seine rote Zunge als Notflagge aussteckte, was Klaus Mewes aber nicht bewegen konnte, sich aus der Fahrt laufen zu lassen.
Der Seefischer lachte und sprach laut, ohne sich an die mißbilligenden Blicke der Alten zu kehren. Was ging es ihn an, daß auf dem Kirchenwege nicht gelacht werden sollte? Er tat, was er wollte, und aß, was ihm schmeckte, der große Klaus Mewes, der getrost seine Segel dem Winde bot, weil er keinen mürben Kram fuhr, der wußte, daß er den besten Ewer unter den Füßen hatte, mit dem sich etwas beschicken ließ, und der Herr und König seines Lebens war. Nicht umsonst hatte er Tag und Nacht, bei jedem Wind und Wetter, seine deutsche Flagge auf der Besan wehen: das war der Tiefe seines Wesens entsprungen und entsprach seiner Liebe zu seinem Fahrzeug, seiner Wikingerlust an der Seefahrt. Hatte der Wind das bunte Tuch zerfetzt, dann zog er unbekümmert eine neue Flagge auf und ließ weder Furcht noch Aberglauben in seine Seele hinein. Sonnigen Herzens pflügte der glückliche Fischer die See, lachend strich er den reichen Segen ein, den sie für ihn hatte, und wenn der Fische noch so viele waren. Fremd war ihm das alte heidnische Gefühl, das den Bauer bewog, sein Feld nicht ganz zu mähen, sondern eine Ecke Hafers stehen zu lassen, für die Götter, für Wotans Schimmel.
Sie sagten, man solle und dürfe niemand aufs Wasser weisen. Wer den Weg nach dem Schiff nicht von selbst finde, aus dem könne doch kein Seemann werden: am besten aber sei es immer noch gewesen, wenn einer gegen seiner Eltern und aller Willen zur See gegangen sei. Was scherte das Klaus Mewes, den Lachenden? Er sprach mit seinem Jungen nichts als Fischerei und Seefahrt und erfüllte ihn mit nichts anderem, als daß er Fahrensmann werden müsse und solle. Was für Last haben die Frauen am Deich, daß sie die Kinder vom Graben und von der Elbe fernhalten, daß sie sie aus den Böten und Kähnen herausbringen! Goh man ne bit Woter! ist ihr zweites und drittes Wort. Was tut Klaus Mewes? Er lacht und sagt: „Goh man betjen bit Woter, Störtebeker! Schipper man mol, klüs man mol not Fohrwoter raf, seil man betjen, swümm man mol, dor liggt de Boot, dor is de Kohn!“
Und eines brannte er dem Jungen wie mit glühendem Eisen ins Herz und drückte es tief und unverwischbar, unauslöschlich ein: Ne bang warrn! Nicht bange werden, sonst kommst du nicht mit nach See! Nicht bange werden, zu keiner Zeit und Stunde, einerlei, ob es hell oder dunkel ist, ob es donnert oder blitzt oder weht, weder auf dem Wasser noch an Land, weder in den Masten noch auf den Bäumen, weder vor Menschen noch vor Tieren, weder vor Lebendigen noch vor Toten! Nicht bange werden, nicht bange werden!
Und der Junge nahm es auf, wie das Segel den Wind. Bang dött ik ne warrn, ans komm ik ne no See, sagte er sich immer wieder, wenn ihm etwas Furcht einjagen wollte, und wurde dreist und verwegen, wie sein Vater es wollte.
Sie hatten die Höhe des Deiches erreicht, und Klaus Mewes blickte aufatmend über die Elbe. Und wenn er auch die Fischerewer noch im Wintereise sitzen sah, das nicht von den Schallen schmelzen wollte, so fischte und segelte er doch im Morgenlicht mit allen Segeln bei Helgoland. Und wenn Störtebeker sich auch noch mit dem Gesangbuch abschleppte, so hatte er ihn doch schon an Bord und wies ihm die Feuerschiffe vor der Elbe und die Lotsenschoner auf See.
Da grüßte sein Ewer über das Eis, er sah seine Flagge flattern — und seine Seele faßte noch mehr Wind, als sie schon bereichte, denn sie setzte die letzten und höchsten Segel.
Zweiter Stremel.