Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Rudolf Virchow
Masse, welche zwischen den Zellen liegt (Zwischen- oder Grundsubstanz, Intercellularsubstanz), können wir selten von vornherein übersehen, inwieweit ein bestimmter Theil davon der einen, ein anderer der anderen Zelle angehöre; sie erscheint als ein gleichmässiger Zwischenstoff.
Fig. 9. Epiphysenknorpel vom Oberarme eines Kindes, an der Ellenbeuge. Das Object war zuerst mit chromsaurem Kali und dann mit Essigsäure behandelt. In der homogenen Grundsubstanz (Intercellularsubstanz) sieht man bei a. Knorpelhöhlen mit noch dünner Wand (Capsel), in welchen die Knorpelzellen, mit Kern und Kernkörperchen versehen, sich deutlich abgrenzen. b. Capseln (Höhlen) mit zwei, durch Theilung der früher einfachen entstandenen Zellen. c. Theilung der Capseln nach Theilung der Zellen. d. Auseinanderrücken der getheilten Capseln durch Zwischenlagerung von Intercellularsubstanz. — Knorpelwachsthum.
Nach der Ansicht Schwann's war die Intercellularsubstanz Cytoblastem, für die Entwickelung neuer Zellen bestimmt. Dies halte ich nicht für richtig, vielmehr bin ich durch eine Reihe von Erfahrungen zu dem Schlusse gekommen, dass die Intercellularsubstanz, wie sie von den Zellen gebildet (abgeschieden) wird, so auch in einer bestimmten Abhängigkeit von ihnen bleibt, in der Art, dass man auch in ihr Grenzen ziehen kann, und das gewisse Bezirke von ihr der einen, gewisse der anderen Zelle angehören. Durch pathologische Vorgänge werden diese Grenzen scharf bezeichnet, und es lässt sich direct zeigen, wie jedesmal ein bestimmtes Gebiet von Zwischensubstanz beherrscht wird von dem zelligen Elemente, welches in seiner Mitte gelegen ist.
Es wird jetzt deutlich sein, wie ich mir die Zellen-Territorien denke: Es gibt einfache Gewebe, welche ganz aus Zellen bestehen, Zelle an Zelle gelagert (Fig. 10, A.). Hier kann über die Grenze der einzelnen Zelle keine Meinungsverschiedenheit bestehen, aber es ist nöthig, hervorzuheben, dass auch in diesem Falle jede einzelne Zelle ihre besonderen Wege gehen, ihre besonderen Veränderungen erfahren kann, ohne dass mit Nothwendigkeit das Geschick der zunächst liegenden Zellen daran geknüpft ist. In andern Geweben dagegen, wo wir Zwischenmassen haben (Fig. 10, B.), versorgt die Zelle ausser ihrem eigenen Inhalt noch eine gewisse Menge von äusserer Substanz, die an ihren Veränderungen Theil nimmt, ja sogar häufig frühzeitiger afficirt wird, als das Innere der Zelle, welches durch seine Lagerung mehr gesichert ist, als die äussere Zwischenmasse. Endlich gibt es eine dritte Reihe von Geweben (Fig. 10, C.), deren Elemente unter einander in engeren Verbindungen stehen. Es kann z. B. eine Zelle mit anderen zusammenhängen und dadurch eine reihen- oder flächenförmige Anordnung entstehen, ähnlich der bei den Capillaren und anderen analogen Gebilden. In diesem Falle könnte man glauben, dass die ganze Reihe beherrscht werde von irgend Etwas, was wer weiss wie weit entfernt liegt, indessen bei genauerem Studium ergibt sich, dass selbst in diesen ketten- oder hautartigen Einrichtungen eine gewisse Unabhängigkeit der einzelnen Glieder besteht, und dass diese Unabhängigkeit sich äussert, indem unter gewissen äusseren oder inneren Einwirkungen das Element nur innerhalb seiner Grenzen gewisse Veränderungen erfährt, ohne dass die nächsten Elemente dabei betheiligt sind.[4]
Fig. 10. Schematische Darstellung der Zellenterritorien. A. Einfaches Zellengewebe (Epidermis). B. Gewebe mit Intercellularsubstanz (Knorpel), in welchem nach unten hin die Zellenterritorien abgegrenzt sind. C. Kernhaltiges, scheinbar homogenes Gewebe (Capillargefäss), in welchem die Territorien durch punktirte Linien angedeutet sind.
Das Angeführte wird zunächst genügen, um zu zeigen, in welcher Weise ich es für nothwendig erachte, die pathologischen Vorgänge zu localisiren, sie auf bekannte histologische Elemente zurückzuführen, warum es mir z. B. nicht genügt, von einer Thätigkeit der Gefässe oder von einer Thätigkeit der Nerven zu sprechen, sondern warum ich es für nothwendig erachte, neben Gefässen und Nerven die grosse Zahl von kleinen Theilen ins Auge zu fassen, welche thatsächlich die Hauptmasse der Körpersubstanz ausmachen. Es ist nicht genug, dass man, wie es seit langer Zeit geschieht, die Muskeln als thätige Elemente daraus ablöst; innerhalb des grossen Restes, der gewöhnlich als träge Masse betrachtet wird, findet sich noch eine ungeheure Zahl wirksamer Theile.
In der Entwickelung, welche die Medicin bis in die letzten Tage genommen hat, finden wir den Streit zwischen den humoralen und solidaren Schulen der alten Zeit immer noch erhalten. Die humoralen Schulen haben im Allgemeinen das meiste Glück gehabt, weil sie die bequemste Erklärung und in der That die plausibelste Deutung der Krankheitsvorgänge gebracht haben. Man kann sagen, dass fast alle glücklichen Praktiker und bedeutenden Kliniker mehr oder weniger humoralpathologische Tendenzen gehabt haben; ja diese sind so populär geworden, dass es jedem Arzte äusserst schwer wird, sich aus ihnen zu befreien. Die solidarpathologischen Ansichten sind mehr eine Liebhaberei speculativer Forscher gewesen; sie sind nicht sowohl aus dem unmittelbaren pathologischen Bedürfnisse, als vielmehr aus physiologischen und philosophischen, selbst aus religiösen Erwägungen hervorgegangen. Sie haben den Thatsachen Gewalt anthun müssen, sowohl in der Anatomie, als in der Physiologie, und haben daher niemals eine ausgedehnte Verbreitung gefunden. Meiner Auffassung nach ist der Standpunkt beider ein unvollständiger; ich sage nicht ein falscher, weil er eben nur falsch ist in seiner Exclusivität; er muss zurückgeführt werden auf gewisse Grenzen, und man muss sich erinnern, dass neben Gefässen und Blut, neben Nerven und Centralapparaten noch andere Dinge existiren, die nicht ein blosses Substrat der Einwirkung von Nerven und Blut sind, auf welchem diese ihr Wesen treiben.
Wenn man nun fordert, dass die medicinischen Anschauungen auch auf dieses Gebiet sich übertragen sollen, wenn man andererseits verlangt, dass auch innerhalb der humoral- und neuropathologischen Vorstellungen man sich schliesslich erinnern soll, dass das Blut aus vielen einzelnen für sich bestehenden und wirkenden Theilen besteht, dass das Nervensystem aus vielen thätigen Sonder-Bestandtheilen zusammengesetzt ist, so ist dies eine Forderung, die freilich auf den ersten Blick manche Schwierigkeiten bietet. Aber wenn man sich erinnert, dass man Jahre lang nicht bloss in den Vorlesungen, sondern auch am Krankenbette von der Thätigkeit der Capillaren gesprochen hat, einer Thätigkeit, die Niemand gesehen hat, die eben nur auf bestimmte Doctrinen hin angenommen worden ist, so wird man es nicht unbillig finden, dass Dinge, die wirklich zu sehen sind, ja die, wenn man sich übt, selbst dem unbewaffneten Auge nicht selten zugängig sind, gleichfalls in den Kreis des ärztlichen Wissens und Denkens aufgenommen werden. Von Nerven hat man nicht nur gesprochen, wo sie nicht dargestellt waren; man hat sie einfach supponirt, selbst in Theilen, wo bei den sorgfältigsten Untersuchungen sich nichts von ihnen hat nachweisen lassen; man hat sie wirksam sein lassen an Punkten, wohin sie überhaupt gar nicht vordringen. So ist es denn gewiss keine unbillige Forderung, dass dem grösseren, wirklich existirenden Theile des Körpers, dem „dritten Stande“, auch eine gewisse Anerkennung werde, und wenn diese Anerkennung zugestanden wird, dass man sich nicht mehr mit der blossen Ansicht der Nerven als ganzer Theile, als eines zusammenhängenden einfachen Apparates, oder des Blutes als eines bloss flüssigen Stoffes begnüge, sondern dass man auch innerhalb des Blutes und des Nervenapparates die ungeheure Masse kleiner wirksamer Centren zulasse. Dann wird sich nicht nur ein neues, grosses Gebiet, das der zelligen Gewebselemente, in die ärztliche Betrachtung einfügen, sondern es wird möglich sein, auch Blut und Nerven von dem Standpunkte der Cellularphysiologie aus zu würdigen, und so den alten Streit der Humoral- und Solidarpathologie in einer einigen Cellularpathologie zu versöhnen.
Die wesentlichen Hindernisse, welche bis in die letzte Zeit in dieser Richtung bestanden, waren nicht so sehr pathologische. Ich bin überzeugt, man würde mit den pathologischen Verhältnissen ungleich leichter fertig geworden sein, wenn es nicht bis vor Kurzem unter die Unmöglichkeiten gehört hätte, die wirklichen Elementartheile des thierischen Leibes zu ermitteln und eine einfache Uebersicht der physiologischen Gewebe zu liefern. Die alten Anschauungen, welche zum Theil