Die ungleichen Schalen: Fünf einaktige Dramen. Jakob Wassermann
Fedor Alexandrowitsch ... mir ist jetzt selbst als hätten sie in der Wachtstube davon berichtet. Zuviel drängt sich in einen Tag.
Chidrowo
So war’s ... (Mit Gesten, als ob er auf einen Plan wiese.) Da ist die Morskaja. Da ist die Gasse von den Kasernen. Da ist eine enge Gasse zum Newski-Prospekt. Orlow hatte die Regimenter Astrachan und Ingermanland zum Gehorsam gezwungen. Mit seinen zwanzig oder dreißig Getreuesten stürmt er zum Winterpalast, um es der Kaiserin zu melden. Rast auf seinem Gaul an der Spitze der Schar mitten durch die Stadt. Die Funken spritzen, das Pflaster dröhnt. So gelangen sie auf die Morskaja. Da spielen zwei Kinder auf der Straße, schöne, blonde Kinderchen, ein Mädchen und ein Knabe, sitzen friedlich da und spielen. Denken offenbar, die Reiter werden ausweichen, denn die Straße ist ja breit, und so staunen sie dem Schauspiel entgegen und freuen sich. Orlow aber sprengt mittenwegs auf sie zu, als könnt er nicht, wollt er nicht aus der Bahn, zu spät rufen Leute aus den Fenstern, strecken die Arme, zu spät erkennen die Kleinen die Gefahr und starren, gütige Unschuld, wie wenn ihr Schutzpatron sie geblendet hätte. Orlow fletscht die Zähne, spornt noch das Roß, starrt gerade vor sich hin, als sähe er nichts, Weiber kreischen, Männer stürzen aus den Häusern ... alles umsonst, die beiden Mäuschen sind unter den Hufen verschwunden, eh’ man’s denkt, zerrissen, zertreten, und man schaut nur noch blutige Klumpen.
Lassunsky
O Menschheit!
Chidrowo
Im selben Augenblick kommt Alexei Rasumowsky aus der engen Gasse, wohin die Reiter wollen, und vor der sie sich stauen wie Wasser vor einem Wehr. Rasumowsky blickt hin über die Luft, blickt hin auf die blutige Erde und ruft: Graf Orlow! Orlow reißt den Zügel und hält. Die hinter ihm sind, vom tollen Ritt noch, mit ihren Gäulen dicht an ihn gedrängt. Ganz stille wird’s auf einmal. Graf Orlow! ruft Alexei Grigorjewitsch und hebt den Arm, die gemordeten Seelchen werden sich um deine Füße klammern, wenn du vor Gottes Thron gehst. Mit nichten wirst du schreiten können, mit nichten.
Lassunsky
Und Orlow? hat er geantwortet?
Chidrowo
Nun geschah das Sonderbare. Orlow zieht den Dolch, beugt sich vor, schließt wie im Krampf die Augen und stößt seinem Pferd von oben her den Stahl mitten in die Brust. Während das Tier zusammenbricht, springt er ab, geht an Rasumowsky vorüber, grüßt ihn schweigend und setzt schweigend und bleich seinen Weg zu Fuß fort.
Lassunsky
Rätselhaft.
Chidrowo
So hat mir’s der Hauptmann Woropanow erzählt, der an Orlows Seite ritt.
Lassunsky
Was war der Zweck solcher Tat?
Chidrowo
Sicherlich trägt er glühenden Haß gegen Alexei Grigorjewitsch.
Lassunsky
Das dünkt mich unwahrscheinlich.
Chidrowo
Wie ... unwahrscheinlich –?
Lassunsky
Es sieht wie Demut und Buße aus, was er getan.
Chidrowo
Hohn ist’s, sag ich dir, Hohn und Bosheit. Seine Blutgier wollte noch ein Opfer haben.
Lassunsky
Warum sollt es nicht Scham und Reue gewesen sein?
Chidrowo
Willst du Orlow verteidigen? Schönfärben den wüsten Mord?
Lassunsky
Fast könnt ich Mitleid haben mit ihm.
Chidrowo
So seid ihr alle, lammsherzig und matt.
Lassunsky
Acht’ auf deine Worte.
Chidrowo
Acht’ du auf deine Freiheit, auf deine Männlichkeit!
Lassunsky
Stünden wir nicht hier, Fedor Alexandrowitsch –
Chidrowo
(wild)
Hier oder anderswo. Wer gut von Orlow redet, spricht schlecht von mir.
(Graf Alexei Rasumowsky tritt langsam von rechts ein. Er ist mit einem langen, schwarzen Sammetgewand bekleidet und hat eine goldne Kette um den Hals. In der Hand trägt er die Kasansche Bibel. Er erscheint zunächst häßlich mit seinem eingefallenen, alten, mißtrauisch finstern Gesicht, an dem die Backenknochen stark hervortreten und die schneeweißen Brauen wie dicke Wülste hängen, indes der Kinnbart schütter und zottig ist. Aber sein Wesen hat eine bewundernswerte Würde, und wenn er, um zu schauen, die Lider hebt, was nicht häufig geschieht, ist sein Blick strahlend rein und von seltsamer, kindlicher Wehmut. Die beiden Offiziere wenden sich von einander und begrüßen ihn mit schweigender tiefer Verbeugung.)
Rasumowsky
Streit in meinem Hause? (Langes Schweigen.) Was ist geschehen, Rittmeister Chidrowo, daß Ihre Augen so funkeln?
Chidrowo
(finster)
Üble Neuigkeiten, Erlaucht.
Rasumowsky
Nichts Schlimmeres in der Welt als Neuigkeiten. Weshalb sind Sie hier, zu so früher Stunde?
Chidrowo
Ich sollte den Großkanzler Woronzow anmelden.
Lassunsky
Graf Woronzow ist auf der Fahrt hierher von Soldaten überfallen worden.
Rasumowsky
Hat Rußland keinen Zaren mehr?
Chidrowo
Es hat eine Zarin.
Rasumowsky
Gott schenke ihr Weisheit. (Kopfschüttelnd.) Woronzow auf dem Weg zu mir ... Was hat das zu bedeuten?
Lassunsky
Die Zarin hat den Kanzler wegen der neuen Mariage zu Euer Erlaucht geschickt.
Rasumowsky
Wegen der neuen Mariage? Bin ich ein Pope?
Lassunsky
Der Kanzler sollte eine geheime Erkundigung einziehen.
Rasumowsky
(läßt sich auf dem Armsessel vor dem Kamin nieder und legt die Bibel auf seinen Schoß)
Das gehört auch zu den Neuigkeiten der Welt, daß mit lauter Geheimnissen regiert wird.
Lassunsky
Die Sache verhält sich so, Erlaucht: Da ganz Petersburg gegen die projektierte Heirat der Zarin mit Orlow gestimmt ist, so hat man endlich ein Mittel gefunden, um die Geister zu beschwichtigen, man hat auf die Ehe Euer Erlaucht mit der verstorbenen Kaiserin Elisabeth Petrowna hingewiesen.
Rasumowsky
Wie? So weit hätte man sich vermessen? Und wem ist dieser schamlose Gedanke gekommen?
Lassunsky
Offenbar stammt er von den Brüdern Orlow. Was ihr für unmöglich haltet, sagten sie, ist ja schon einmal geschehen, ohne daß die Welt eingestürzt ist. Graf Rasumowsky ist ja da, gehen wir hin zu ihm.
Chidrowo
Die Narren!
Rasumowsky
Und was sagte die Kaiserin dazu?
Lassunsky
Die Kaiserin soll gesagt haben: von dieser Ehe weiß die Welt nichts, aber wenn ihr mir den schriftlichen Beweis erbringt, daß zwischen dem