Die ungleichen Schalen: Fünf einaktige Dramen. Jakob Wassermann
Daß ich endlich einen Mann finde, dem ich mein volles und bedrücktes Gemüt eröffnen kann! (Emphatisch.) Warum hat uns das Geschick nicht früher einander näher kommen lassen!
Rasumowsky
Mein Los ist Einsamkeit seit langem, Graf Orlow. Fast kenne ich die Welt nicht mehr, und fremd ist mir geworden, was sich außerhalb dieser Schwelle begibt.
Orlow
So dacht ich mir’s, Erlaucht, und nur mit frommen Empfindungen bin ich genaht.
Rasumowsky
Unheilig war stets, was mir von draußen kam, das ist wahr. Doch liebe ich die Jugend, wenn schon vieles mir unbegreiflich an ihr ist.
Orlow
(geschmeidig und beredt)
Wie Sie leicht ermessen können, Erlaucht, begegnet die edle Absicht der Kaiserin dem Widerstand aller Großen des Reichs. Man beneidet mich, man legt mir Fallstricke, man zettelt Verschwörungen an, ja man schreckt nicht vor offenbaren Beleidigungen zurück, denen mein Gleichmut unmöglich gewachsen ist.
Rasumowsky
Ja, ja, ja. Es ist geblieben, wie es immer war.
Orlow
Ich habe mich beherrschen gelernt, Erlaucht. Mein Vater hat mich in Demut und Gehorsam erzogen. Niemals, in meinen verwegensten Träumen nicht, konnte ich ahnen, daß der Blick meiner gnädigen Herrscherin auf mich fallen würde. Wer kann es mir verargen, Erlaucht, daß mein ganzes Blut sich in Hingebung für diese Frau entflammte, daß ich bereit bin, meine Seligkeit für sie zu opfern, daß mir nichts mühevoll, nichts unerreichbar mehr erscheint, seitdem sie mich erwählt hat?
Rasumowsky
Wohl kann ich dies verstehen, Graf Orlow.
Orlow
(schwärmerisch)
O, ich wußte es, Erlaucht, ich wußte es. Dank, allen Dank meines armen Herzens.
Rasumowsky
Ein Herz wie das Ihre ist nicht arm, Graf Orlow.
Orlow
Doch scheint mir’s so in Ihrer Nähe. Aber hören Sie weiter, Erlaucht. Vor wenigen Tagen wurde die Zarin, deren Geist in quälender Unschlüssigkeit irgend einen Weg suchte, von einem ruchlosen Ratgeber auf Ihre Ehe –
Rasumowsky
(unterbricht hastig)
Ich weiß, ich weiß ...
Orlow
Sie wissen, Erlaucht? Ich atme auf. Dies mindert die Schwierigkeit meiner Sendung.
Rasumowsky
Ich bin erstaunt, daß Ihre Majestät ein solches Mittel nötig zu haben glaubt. Jede Handlung ist gerechtfertigt, die sie gutheißt.
Orlow
Ganz meine Meinung, Erlaucht. Aber Katharina ist gewissenhaft und dankbar, zwei Eigenschaften, die den Fürsten das Regieren erschweren.
Rasumowsky
Und Ihre Mission ist also –
Orlow
Der Plan war, den Großkanzler zu schicken –
Rasumowsky
(nickt)
Auch dies ist mir bekannt.
Orlow
Ich wollte es um jeden Preis verhindern, selbst auf die Gefahr, ungehorsam gegen meine Wohltäterin zu sein. Der Kanzler Woronzow ist ein vortrefflicher Diener, aber er ist nur ein Diener. Seine Rauheit, sein mürrisches Wesen, seine Unfähigkeit, zarte Dinge zart zu packen, hätte Sie unbedingt verletzt, Graf Alexei. Ich begriff das Ungeheuerliche des Auftrags wie die Delikatesse, mit der er behandelt werden mußte, vom ersten Augenblick an. Ich habe tief mit Ihnen gefühlt, Erlaucht, ich fürchtete die Dazwischenkunft des Kanzlers, und – ich habe ihn gefangen setzen lassen.
Rasumowsky
Was Sie getan haben, ist höchst tadelnswert, Graf Orlow, doch kann ich dem Edelmut, der Sie antrieb, meine Bewunderung und meinen Dank nicht versagen.
Orlow
Und so bin ich gekommen – (zaudert.)
Rasumowsky
Gekommen –?
Orlow
(leise, als schäme er sich)
Sie um die Dokumente Ihrer Ehe mit der Zarin Elisabeth Petrowna zu bitten.
Rasumowsky
Mein Erstaunen wächst, Graf Orlow. Wie kann man mit einer Tatsache rechnen, mit der die Öffentlichkeit niemals behelligt worden ist, die niemals zugegeben worden ist und die daher niemals Gegenstand weder einer politischen, noch einer privaten Aktion werden kann?
Orlow
Ich ehre diese Entrüstung, Erlaucht, und finde sie gerecht. Aber es gibt Dinge, die so lange verschwiegen werden bis jedes Kind um sie weiß.
Rasumowsky
Wahrlich, was Sie da sagen, betrübt mich aufs äußerste, Graf Orlow. Mir ist, als sei ich bestohlen worden. Mir ist, als hätte man meine Brust durchwühlt, um ihr das Teuerste zu rauben, und als riefe man mir zu: du bewahrst es umsonst, denn die Hunde beschnüffeln es schon wie ein Aas.
Orlow
Schwer wird es mir, Ihnen zu widersprechen, Erlaucht.
Rasumowsky
Und wenn ich nun antworten würde: eine Ehe zwischen mir und der hochseligen Herrin Elisabeth Petrowna hat niemals stattgefunden?
Orlow
(beißt sich auf die Lippen; dann gleißnerisch)
So würde ich Ihre Beweggründe zu erforschen suchen.
Rasumowsky
Wenn ich Ihnen versichern würde, daß ich keine Dokumente besitze –? Wie, Graf Orlow?
Orlow
(düster)
Sie würden damit mein Leben zerstören, Erlaucht.
Rasumowsky
Und wenn ich den Besitz der Dokumente zugebe, warum soll ich sie ausliefern? Was könnte mich veranlassen, ein Jahr um Jahr, Jahrzehnt um Jahrzehnt gehaltenes Übereinkommen schmählich zu verletzen? Nur weil ein Jüngling, den die Jugend begehrlich und begehrenswert macht, in meinen Frieden tritt und die Hand ausstreckt nach meinem Gut?
Orlow
Es ist nichts in Ihren Worten, Alexei Grigorjewitsch, was ich mir nicht auch selbst schon ins Gewissen gerufen hätte. Doch erwägen Sie, Erlaucht: mein Glück ist auch das Glück der Kaiserin.
Rasumowsky
Ich werfe mich in den Staub vor Ihrer Majestät, aber sie hat keine Macht über die Geheimnisse meiner Seele.
Orlow
So flehe ich, Erlaucht, um Ihr Vertrauen ...
Rasumowsky
Mein Vertrauen zu den Menschen ist so gering, Graf Orlow, daß jeder Appell daran verschwendet ist. Ich habe zu viele Worte gehört und zu viele Taten gesehen. Ich bin meiner selbst kaum gewiß, um wie viel weniger eines andern. Ein Ozean von Geschwätz ertränkt die edelste Handlung, und die niedrigste versteckt sich nicht mehr, wenn ihr ein Vorteil winkt.
Orlow
Bedenken Sie, Alexei Grigorjewitsch, ein Mann, für den so Ungeheueres sich entscheiden soll, muß ein Verworfener werden, wenn es mißlingt.
Rasumowsky
Also ist es nur der Erfolg, der tugendhaft macht?
Orlow
Ein