Der Weltkrieg, Deutsche Träume. August Niemann
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August Niemann
Der Weltkrieg, Deutsche Träume
Veröffentlicht im Good Press Verlag, 2020
EAN 4064066113711
Inhaltsverzeichnis
I.
Eine glänzende Versammlung hoher Würdenträger und Militärs war es, die sich im kaiserlichen Winterpalast zu St. Petersburg zusammenfand. Von den einflußreichen Persönlichkeiten, die durch ihre amtliche Stellung oder durch ihre persönlichen Beziehungen zum Herrscherhause berufen waren, beratend und bestimmend auf die Geschicke des Zarenreiches einzuwirken, fehlte kaum eine einzige. Aber es konnte kein festlicher Anlaß sein, der sie hier zusammen führte; denn in allen Mienen war der Ausdruck tiefen Ernstes, der sich hier und da bis zu banger Sorge steigerte. Und die in leisem Flüsterton geführten Gespräche bewegten sich um sehr bedeutsame Dinge.
Die breiten Flügeltüren gegenüber dem lebensgroßen Bilde des regierenden Zaren wurden weit geöffnet, und unter lautloser Stille der Versammelten betrat der greise Präsident des Reichsrats, der Großoheim des Zaren, Großfürst Michael, den Saal. Zwei andere Mitglieder des Kaiserhauses, die Großfürsten Wladimir Alexandrowitsch und Alexis Alexandrowitsch, die Brüder des verstorbenen Herrschers, befanden sich in seiner Begleitung.
Huldvoll erwiderten die Prinzen die tiefen Verbeugungen der Anwesenden. Auf einen Wink des Großfürsten Michael gruppierte man sich um den langen, mit grünem Tuch überzogenen Konferenztisch inmitten des säulengetragenen Saales. Noch herrschte tiefe, ehrfurchtsvolle Stille; aber auf ein Zeichen des Präsidenten erhob sich nunmehr der Staatssekretär Witte, Vorsitzender des Minister-Komitees, um, gegen die Großfürsten gewendet, zu beginnen:
„Kaiserliche Hoheiten und verehrte Herren! Eure Kaiserliche Hoheit haben zu einer dringenden Beratung befohlen und mich mit dem Auftrage betraut, deren Ursachen und Zweck darzulegen. Wir alle wissen, daß Seine Majestät, der Kaiser, unser erhabener Herr und Gebieter, die Erhaltung des Weltfriedens als das höchste Ziel seiner Politik bezeichnet hat. Die christliche Idee, daß die Menschheit eine Herde unter einem Hirten sein soll, hat in unserm erlauchten Herrscher ihren ersten und vornehmsten Vertreter auf Erden gefunden. Die Liga für den Weltfrieden ist das eigenste Werk Seiner Majestät, und wenn wir berufen worden sind, um unsere untertänigsten Vorschläge zur Beseitigung der dem Vaterlande in diesem Augenblick drohenden Gefahr dem Allerhöchsten Herrn zu unterbreiten, so dürfen unsere Beratungen immer nur von jenem Geiste erfüllt sein, der dem christlichen Gebot der Menschenliebe entspricht.“
Unterbrechend erhob Großfürst Michael die Hand.
„Alexander Nikolajewitsch,“ wandte er sich an den Protokollführer, „vergiß nicht, diesen Satz wörtlich niederzuschreiben.“
Der Staatssekretär machte eine kurze Pause, um dann mit etwas erhobener Stimme und nachdrücklicherem Ton fortzufahren:
„Es bedarf keiner besonderen Beteuerung, daß bei solcher hochsinnigen Denkungsart unseres höchsten Herrn ein Bruch des Weltfriedens niemals von uns ausgehen konnte. Ein heiliges Besitztum aber, das wir von niemandem antasten lassen dürfen, ist die nationale Ehre, und der Angriff, den Japan im fernen Osten