Der Weltkrieg, Deutsche Träume. August Niemann
dieser Art muß für uns die Frage nach dem Verhalten der anderen Großmächte sein. Wer wird für uns und wer wird gegen uns sein? Englands politische Kunst hat sich seit der Zeit Oliver Cromwells hauptsächlich in der geschickten Ausnutzung der kontinentalen Mächte offenbart. Es ist keine Uebertreibung, zu sagen, daß Englands Kriege vornehmlich mit kontinentalen Heeren geführt worden sind. Das ist keine Herabsetzung der Kriegstüchtigkeit Englands. Wo immer die englische Flotte und englische Armeen auf dem Kriegsschauplatze erschienen sind, hat sich die Energie, die Zähigkeit und Tapferkeit ihrer Offiziere, ihrer Seeleute und Soldaten stets im glänzendsten Lichte gezeigt. Die Tradition der englischen Truppen, die einst Frankreich unter Führung des Schwarzen Prinzen und Heinrichs V. siegreich durchzogen, ist in den Kriegen gegen Frankreich im 18. Jahrhundert und gegen Napoleon lebendig geblieben. Ungleich größere Erfolge aber als durch diese eigenen Waffentaten hat England dadurch errungen, daß es fremde Völker für sich kämpfen ließ und auf dem Kontinent die Truppen Oesterreichs, Frankreichs, Deutschlands und Rußlands gegeneinander führte. Seit zweihundert Jahren sind überhaupt sehr wenig Kriege ohne Englands Zutun und ohne Nutzen für England geführt worden. Diese wenigen Ausnahmen sind die nur zum Vorteile und zum Ruhme des eigenen Volkes geführten Kriege Bismarcks, der darum auch der bestgehaßte Mann der Engländer war. Während das europäische Festland von inneren Kriegen zerrissen wurde, die Englands Staatskunst angeschürt, hat Großbritannien seinen ungeheuren Kolonialbesitz erworben. Uns selbst hat England in Feldzüge verwickelt, die lediglich seinen Vorteil bildeten. Ich erinnere nur an den blutigen, opfervollen Krieg von 1877/78 und an den verhängnisvollen Frieden von San Stefano, wo Englands Intriguen uns um den Lohn unserer Siege über den Halbmond brachten. Ich erinnere weiter an den Krimkrieg, wo eine kleine englische und eine große französische Armee uns zum Vorteil Englands bekriegten. Daß jetzt hinter unseren japanischen Angreifern wiederum nur England steht, ist von den Vorrednern bereits betont worden. Unsere Gegner haben eben nicht die mindeste Veranlassung, von ihrer so gut bewährten Politik abzugehen, und die Aufgabe der unsrigen mußte es deshalb sein, uns der Bundesgenossenschaft oder wo dies durch die Umstände ausgeschlossen war, wenigstens der wohlwollenden Neutralität der übrigen kontinentalen Großmächte für den Fall eines Krieges gegen England zu versichern. Was zunächst unseren Alliierten, die französische Republik, betrifft, so war eine befriedigende Lösung der Aufgabe schon durch die bestehenden Verträge gesichert. Immerhin verpflichten dieselben die französische Regierung nicht, uns für den Fall eines Krieges, der in den Augen kurzsichtiger Beobachter vielleicht als ein von uns heraufbeschworener Angriffskrieg erscheinen wird, seine militärische Unterstützung zu gewähren. Wir haben deshalb durch unsern Botschafter Verhandlungen mit Mr. Delcassé, dem Minister der auswärtigen Angelegenheiten Frankreichs, und mit dem Präsidenten selbst führen lassen. Es gereicht mir zur besonderen Genugtuung, Ihnen das Ergebnis dieser Verhandlungen in folgender, heute eingetroffener Depesche unseres Botschafters vorlegen zu dürfen. Dieselbe lautet in der Hauptsache wie folgt: „Ich beeile mich, Eurer Exzellenz mitzuteilen, daß mir von seiten des Herrn Delcassé namens der französischen Regierung die bindende Zusage erteilt worden ist, Frankreich werde England sofort den Krieg erklären, wenn Seine Majestät der Zar seine Armeen gegen Indien marschieren ließe.“ Ueber die Erwägungen, von denen die französische Regierung zu diesem Beschlusse geführt worden sei, sprach sich Mr. Delcassé in unserer heutigen Unterredung ungefähr dahin aus: „Schon Napoleon hat vor mehr als 100 Jahren mit genialem Scharfblick erkannt, daß England der eigentliche Feind aller kontinentalen Völker ist und daß der europäische Kontinent keine andere Politik verfolgen sollte, als die der gemeinsamen Abwehr dieses großen Seeräubers. Der grandiose Plan Napoleons war die Vereinigung Frankreichs mit Spanien, Italien, Oesterreich, Deutschland und Rußland, um dem System der Ausbeutung von seiten Englands entgegenzutreten. Und er würde diesen Plan wahrscheinlich durchgeführt haben, wenn nicht Rücksichten der inneren Politik den Zaren Alexander I. trotz seiner Verehrung für das Genie Napoleons zum Widerstande gegen seine Absichten bestimmt hätten. Die Folgen der Niederlage Napoleons haben sich in dem gewaltigen Anwachsen der englischen Macht während der letzten 100 Jahre deutlich genug gezeigt. Darum sollte man die gegenwärtige politische Konstellation, die der vom Jahre 1804 in vielen Stücken sehr ähnlich ist, dazu benützen, den Plan Napoleons wieder zu beleben. Rußland hat an einer Niederwerfung Englands allerdings das nächste und dringendste Interesse; denn es gleicht einem Riesen, dem Hände und Füße gebunden sind, so lange Großbritannien alle Meere und alle wichtigen Küstenstriche beherrscht. Aber auch Frankreich ist in seiner natürlichen Entwickelung gehemmt. Seine blühenden Kolonien in Amerika und im Atlantischen Ozean wurden ihm im 18. Jahrhundert durch England entrissen. Aus seinen Niederlassungen in Ostindien wurde es durch diesen übermächtigen Gegner verdrängt, und — was vom französischen Volke vielleicht am schmerzlichsten empfunden wird — Aegypten, das der große Napoleon mit dem Blute seiner Soldaten für Frankreich erkaufte, wurde ihm durch englisches Gold und englische Intriguen genommen. Der von dem Franzosen Lesseps erbaute Suezkanal ist im Besitz der Engländer. Er erleichtert ihnen den Verkehr mit Indien und sichert ihnen die Weltherrschaft. Frankreich wird also für seine Bundesgenossenschaft gewisse Forderungen stellen — Bedingungen, die so loyal und billig sind, daß ihre Annahme von seiten des alliierten Rußland von vornherein keinem Zweifel unterliegen kann. Frankreich verlangt, daß ihm seine Erwerbungen in Tonking, Kochinchina, Kambodscha, Annam und Laos garantiert werden, daß Rußland ihm behilflich sei, Aegypten zu erwerben, und daß es sich verpflichte, die französische Politik in Tunis und im übrigen Afrika zu unterstützen.“ Nach den mir gewordenen Instruktionen glaubte ich, Monsieur Delcassé die Annahme dieser Bedingungen zusichern zu dürfen. Auf meine Frage, ob ein Krieg gegen England in Frankreich populär sein würde, erhielt ich die Antwort: ‚Das französische Volk wird zu jedem Opfer bereit sein, wenn wir Faschoda zu unserer Parole machen.‘ Niemals hat sich der britische Uebermut brutaler und beleidigender geoffenbart als in diesem Falle. Unser braver Marchand war mit einer überlegenen Mannschaft am Platze, und Frankreich befand sich in seinem guten Recht. Aber die bloße Aufforderung eines englischen Offiziers, dem keine andere Macht als die moralische der englischen Fahne zur Seite stand, zwang uns unter den damaligen politischen Verhältnissen, unsere begründeten Ansprüche aufzugeben und den tapferen Führer zurückzurufen. Wie das Volk diese Niederlage aufnahm, haben wir deutlich genug gesehen. Die Pariser begrüßten Marchand jubelnd, wie einen Nationalhelden, und die französische Regierung rechnete allen Ernstes mit der Möglichkeit einer Revolution. Jetzt könnten wir Revanche nehmen für die Demütigung, die wir damals aus vielleicht allzugroßer Vorsicht über uns ergehen ließen. Schreiben wir den Namen Faschoda auf die Trikolore, und es wird keinen waffenfähigen Mann in ganz Frankreich geben, der uns nicht mit Begeisterung folgte. Es schien mir ratsam, mich zu vergewissern, ob die Regierung oder die von ihr inspirierte Presse dem Volke vielleicht auch die Wiedererwerbung Elsaß-Lothringens als Preis eines siegreichen Krieges verheißen würde. Aber der Minister verneinte mit aller Entschiedenheit. ‚Die Frage Elsaß-Lothringen muß gänzlich aus dem Spiele bleiben, sobald wir uns anschicken, Realpolitik zu treiben,‘ erklärte er. ‚Nichts könnte verhängnisvoller sein, als die Erregung einer Mißstimmung in Deutschland. Denn der deutsche Kaiser ist das Zünglein an der Wage, auf der die Geschicke der Welt gewogen werden.‘ Daß England von ihm, den es nicht als einen Deutschen, sondern als einen Engländer ansieht, keine Feindseligkeiten zu befürchten habe, ist eine feststehende Ueberzeugung bei unsern Nachbarn jenseits des Kanals. Und diese Zuversicht ist eine der stärksten Stützen des britischen Uebermuts. Die immer wiederholten Versicherungen des deutschen Kaisers, daß er den Frieden und nichts als den Frieden wolle, scheinen ja die Richtigkeit dieser Auffassung zu bestätigen. Aber ich bin gewiß, daß Kaiser Wilhelms Friedensliebe da eine Grenze hat, wo das Wohl und die Sicherheit Deutschlands ernstlich in Frage stehen. Er ist trotz seines impulsiven Temperaments nicht der Herrscher, der sich von jeder Aeußerung der Volksstimme beeinflussen und von jeder aufrauschenden Strömung zu entscheidenden Handlungen treiben ließe. Aber er ist weitblickend genug, eine wirkliche Gefahr rechtzeitig zu erkennen und ihr mit der ganzen Wucht seiner Persönlichkeit entgegenzutreten. Ich halte darum die Hoffnung, ihn als Alliierten zu gewinnen, nicht für eine Utopie, und ich hoffe, daß die russische Diplomatie sich mit der unsrigen vereinigen werde, dieses Bündnis zustande zu bringen. Ein Krieg gegen England ohne die Unterstützung Deutschlands würde immerhin ein bedenkliches Unternehmen bleiben. Wir sind ja bereit, uns um unserer Freundschaft für Rußland und um unserer nationalen Ehre willen darauf einzulassen, aber wir würden uns einen sicheren Erfolg nur von einem geschlossenen