Wachtmeister Studer. Friedrich C. Glauser

Wachtmeister Studer - Friedrich C.  Glauser


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Er nahm ein Fo­lio­blatt, leg­te es vor sich hin und schrieb ganz oben, in die Mit­te des Bo­gens, das Wort:

      BILANZ

      Dann be­gann er nach­zu­den­ken. Aber auch hier soll­te er nicht wei­ter­kom­men. Eine der Haup­tei­gen­schaf­ten des Fal­les Wit­schi schi­en die zu sein, dass es un­mög­lich war, ir­gend­ei­nen Teil zu ei­nem Ab­schluss zu brin­gen. Hat­te er nicht zum Bei­spiel ges­tern das Ver­hal­ten El­len­ber­gers und des Ge­mein­de­prä­si­den­ten beim ›Zu­ger‹ be­ob­ach­ten wol­len? Was war da­zwi­schen ge­kom­men? Na­tür­lich ein Te­le­fon, dann die Ent­de­ckung Schrei­er­s…

      Und jetzt mel­de­te sich selbst­ver­ständ­lich das Schril­len der Te­le­fon­klin­gel. Stu­der hob den Hö­rer ab, sag­te, wie er es in sei­nem Büro in Bern ge­wohnt war:

      »Ja?«

      »Bist du’s, Stu­der?« frag­te eine Stim­me. Es war der Po­li­zei­haupt­mann.

      »Ja«, sag­te Stu­der. »Was ist los?«

      »Also pass auf. Der Rein­hardt hat heut’ mor­gen die Waf­fen­ge­schäf­te ab­ge­klopft. Gleich beim ers­ten hat er Glück ge­habt. Der Be­sit­zer war schon im La­den, und er hat sich gut er­in­nert, dass er vor vier­zehn Ta­gen einen Brow­ning ver­kauft hat. Mar­ke stimmt, Num­mer stimmt. Er er­in­nert sich auch an den Mann, der ihn ge­kauft hat…«

      »Und?« frag­te Stu­der, da der Haupt­mann schwieg.

      »Bist un­ge­dul­dig? Kei­ne Auf­re­gung, Stu­der. Du bla­mierst dich ja doch wie­der… Hä?… Du bist so still, Stu­der. Also, der Rein­hardt hat mir er­zählt, der Waf­fen­händ­ler er­in­ne­re sich noch gut an den Käu­fer. Es war ein al­ter Mann, dem alle Zäh­ne ge­fehlt ha­ben, er hat ein halb­lei­ni­ges Kleid ge­tra­gen. Dem Ver­käu­fer ist noch auf­ge­fal­len, dass der Mann brau­ne mo­der­ne Halb­schu­he ge­tra­gen hat und schwar­ze sei­de­ne So­cken. Er hat kei­nen Na­men an­ge­ge­ben…«

      »Das ist auch nicht nö­tig ge­we­sen.« Stu­der sprach sto­ckend. Es war ei­ner­seits schwie­rig, die­se Neu­ig­keit zu ver­dau­en, an­de­rer­seits hat­te man et­was Ähn­li­ches er­war­tet…

      »Du, pass gut auf«, sag­te Stu­der. »Ich schick’ dir einen Brow­ning, ich geb’ ihn ex­press auf, und dann wird dir das Ge­richts­me­di­zi­ni­sche die Ku­gel schi­cken, die im Schä­del vom Wit­schi ste­cken­ge­blie­ben ist. Hast du einen Sach­ver­stän­di­gen bei der Hand? Ja? Gut. Du über­gibst ihm bei­des und lässt dir ein Gut­ach­ten ma­chen, ob die im Kop­fe des Wit­schi ge­fun­de­ne Ku­gel aus dem Brow­ning stammt, den ich dir schi­cke. Und der Rein­hardt soll noch die an­de­ren Ge­schäf­te ab­klop­fen. Vi­el­leicht ist eine zwei­te Waf­fe von der glei­chen Mar­ke ver­kauft wor­den. Ver­stan­den? – Und das Gut­ach­ten brauch’ ich heut’ abend. Spä­tes­tens um fünf. Auf Wie­der­se­hen…«

      Stu­der hing den Hö­rer ganz vor­sich­tig an die Ga­bel, stütz­te die Wan­ge auf sei­ne Faust. Da­bei fiel sein Blick auf das Wort ›BILANZ‹, das er sorg­fäl­tig an den Kopf ei­nes wei­ßen Fo­lio­blat­tes ge­setzt hat­te. »Das hat Zeit«, dach­te er, strich das Wort durch, fal­te­te das Blatt vor­sich­tig zu­sam­men und steck­te es in die Rock­ta­sche.

      Nas­se So­cken sind un­an­ge­nehm. Be­son­ders wenn man fühlt, dass der Schnup­fen, der sich vor zwei Ta­gen ge­mel­det hat, im Be­grif­fe ist, sich in einen schwe­ren Ka­tarrh zu ver­wan­deln. Schließ­lich, in ei­nem ge­wis­sen Al­ter, wird man emp­find­li­cher, man hängt mehr am Le­ben, man fürch­tet sich vor ei­ner Lun­gen­ent­zün­dung, man möch­te tro­ckene Wä­sche an­zie­hen, um die­ser Ge­fahr zu ent­ge­hen. Aber wenn dies nicht mög­lich ist (man kann doch einen hoch­e­le­gan­ten Un­ter­su­chungs­rich­ter mit sei­de­nem Hemd nicht ein­fach bit­ten: »Kön­nen Sie mir viel­leicht ein Paar tro­ckene So­cken lei­hen?…«), so beißt man die Zäh­ne zu­sam­men, auch wenn die Zäh­ne den un­dis­zi­pli­nier­ten Vor­satz ge­fasst ha­ben, ein klap­pern­des Geräusch zu er­zeu­gen…

      Das kam da­von, wenn man sich wie ein Zwan­zig­jäh­ri­ger auf ein Töff setz­te und im strö­men­den Re­gen fünf­und­zwan­zig Ki­lo­me­ter fuhr. Und es war ei­gent­lich gar kein Trost, dass Son­jas St­rümp­fe auch nass wa­ren.

      Be­sag­te Son­ja war­te­te drau­ßen im Gang. Sie saß klein und zu­sam­men­ge­kau­ert auf ei­ner Holz­bank, und ein Po­li­zist pa­trouil­lier­te vor ihr auf und ab.

      Stu­der saß wie­der auf dem all­zu klei­nen Stuhl, der si­cher für die An­ge­klag­ten be­stimmt war, saß dem Un­ter­su­chungs­rich­ter ge­gen­über, der an sei­nem mit ei­nem Wap­pen ge­schmück­ten Sie­gel­ring dreh­te und sag­te:

      »Ich be­grei­fe Sie nicht, Herr Stu­der. Die Sa­che ist doch er­le­digt. Wir ha­ben das Ge­ständ­nis des Bur­schen, es ist voll­stän­dig, er gibt an… er gibt an…« Der Un­ter­su­chungs­rich­ter ließ den Ring sein und such­te ner­vös auf dem Tisch. End­lich kam der blaue Papp­de­cke­lum­schlag zum Vor­schein, des­sen Eti­ket­te die Wor­te trug: ERWIN SCHLUMPF MORD.

      »Er gibt an…« sag­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter zum drit­ten Mal und kämpf­te mit den auf­säs­si­gen Sei­ten, »ah… hier: Ich habe dem Herrn Wit­schi ab­ge­passt, habe ihn mit vor­ge­hal­te­nem Re­vol­ver ge­zwun­gen ab­zu­stei­gen. Er ist mir in den Wald ge­folgt, all­wo ich ihn ge­zwun­gen habe, mir sei­ne Brief­ta­sche aus­zu­lie­fern, so­wie sei­ne Uhr und sein Por­te­mon­naie. Ich weiß nicht, was mich dazu be­stimmt hat, ihn nach­her mit ei­nem Schus­se nie­der­zu­stre­cken, aber ich den­ke, ich habe Angst ge­habt, dass er mich er­kannt hät­te, ob­wohl ich ein schwar­zes Tuch über die un­te­re Hälf­te mei­nes Ge­sich­tes ge­bun­den hat­te… (Auf Be­fra­gen) Ich brauch­te not­wen­dig Geld, um mir ein Fahr­rad zu kau­fen.«–

      Der Un­ter­su­chungs­rich­ter stock­te. Stu­der schneuz­te sich und blies Trom­pe­ten­si­gna­le, un­ter­brach sie, nies­te, aber das Nie­sen ge­mahn­te an ein un­ter­drück­tes Ki­chern. Schließ­lich be­ru­hig­te er sich und frag­te mit trä­nen­den Au­gen:

      »Hat das Schlumpf­li wort­wört­lich so ge­spro­chen? Ich mei­ne, Sät­ze wie: ›all­wo ich ihn ge­zwun­gen habe, mir sei­ne Brief­ta­sche aus­zu­lie­fern…‹ und: ›… was mich dazu be­stimmt hat, ihn nach­her mit ei­nem Schus­se nie­der­zu­stre­cken…‹ Hat er das wirk­lich so ge­sagt?«

      Der Un­ter­su­chungs­rich­ter war be­lei­digt.

      »Sie wis­sen doch, Wacht­meis­ter«, sag­te er streng, »dass es uns ob­liegt, die Aus­sa­gen zu for­mu­lie­ren. Wir kön­nen doch nicht das gan­ze Ge­re­de ei­nes An­ge­klag­ten ste­no­gra­fie­ren. Die Ak­ten wür­den zu Bän­den an­wach­sen…«

      »Ja, se­hen Sie, Herr Un­ter­su­chungs­rich­ter, das scheint mir im­mer ein großer Feh­ler. Ich wür­de die Wor­te der An­ge­klag­ten so­wohl, als auch der Zeu­gen, nicht nur ste­no­gra­fie­ren, son­dern die Wor­te auf Plat­ten auf­neh­men las­sen. Man be­käme dann je­den Ton­fall her­aus…«

      Schwei­gen. Der Un­ter­su­chungs­rich­ter war an­schei­nend be­lei­digt. Stu­der be­schloss, ihn zu ver­söh­nen. Er stand auf, ging zum of­fe­nen Ka­min, der in ei­ner Ecke des Rau­mes stand – und ein Holz­feu­er fla­cker­te dar­in, im Mai! – stell­te sich mit dem Rücken da­ge­gen und wärm­te sich die Schuh­soh­len.

      »Die Sa­che ist die, Herr Un­ter­su­chungs­rich­ter, dass ich ei­ni­ge Merk­wür­dig­kei­ten


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