Im Sonnenwinkel Staffel 4 – Familienroman. Patricia Vandenberg
»Ich bin weiß Gott ein friedlicher Mensch«, platzte er heraus, »aber das ist ein bisschen zu viel, Anschi!«
»Hast du den Brief schon gelesen?«, fragte sie.
»Er ist nicht für mich bestimmt.«
»Er ist für einen Stefan Behrend bestimmt, dessen Tochter in Göttingen geboren ist.«
»Glaubst du denn wirklich, dass ich dich so belügen könnte!«, fragte er.
»Nein, nicht wissentlich«, erwiderte Anschi sanft. »Aber vielleicht war das so eine Studentenliebe.«
»Na, höre mal, an den Namen müsste ich mich doch zumindest erinnern können. Außerdem hatte ich wirklich andere Dinge im Kopf als Affären. Mein Geld reichte kaum für mich selbst.«
»Es hat jetzt keinen Sinn zu streiten und zu rätseln, Stefan. Lies den Brief. Lesen wir ihn gemeinsam, wenn du willst.«
Zögernd öffnete er den Umschlag.
Sehr geehrter Herr Behrend!
Entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen Sabine auf etwas ungewöhnliche Weise schicke, aber ich weiß mir keinen andern Rat. Ich werde mit meinem zukünftigen Mann ins Ausland gehen, und nachdem ich zwei Jahre für Sabine gesorgt habe, möchte ich Sie ersuchen, nun die Verantwortung für Ihre Tochter selbst zu übernehmen.
Meine Schwester ist vor zwei Jahren an einem Gehirntumor gestorben. Sabine war drei Jahre in einem Heim. Die Krankheit war schrecklich, aber Erika hatte so viel Stolz, dass sie niemandem zur Last sein wollte. Ich denke, das sollten Sie ihr anrechnen.
Ich habe mich erkundigt und erfahren, dass Sie in guten Verhältnissen leben. Also wird es Ihnen nicht schwerfallen, für das Kind zu sorgen. Alle Papiere, aus denen einwandfrei hervorgeht, dass Sie der Vater des Kindes sind, füge ich bei. Außerdem kann auch Sabine Ihnen Auskünfte geben, denn sie ist schon sehr vernünftig. Ich habe mein Bestes getan und hoffe, Sie werden das würdigen. Ruth Messner.
»Einwandfrei«, stöhnte Stefan. »Sie hat ihr Bestes getan. Ich kriege mich nicht mehr. Das ist verrückt. Ich werde Anzeige gegen diese Frau erstatten.«
»Bitte, Stefan, dreh nicht durch«, sagte Anschi. »Dieses arme Kind kann doch nichts dafür. Wir werden Licht in diese Angelegenheit bringen.«
Er raufte sich die Haare.
»Hast du auch schon überlegt, wie ich vor deinen Eltern dastehe, Anschi?«, fragte er heiser.
»Ich bin deine Frau«, erwiderte sie. »Etwas anderes als meine Meinung zählt nicht. Ich liebe dich und halte zu dir.«
Fassungslos sah er sie an. Dann nahm er sie ungestüm in die Arme.
»Eine wunderbare Frau bist du, und ich liebe dich über alles! Aber ich schwöre dir, dass ich nicht Sabines Vater bin!«
»Dann werden wir ihren Vater suchen müssen«, sagte Anschi leise, und ein Hauch von Wehmut war in ihrer Stimme.
*
Sie hatten noch lange miteinander gesprochen und waren zu dem Entschluss gekommen, Sabine als ihren kleinen Gast zu behandeln.
»Und wenn sie nun herumerzählt, dass ich ihr Vater sei?«, hatte Stefan bemerkt.
»Das wird sie nicht. Ich verstehe mich sehr gut mit ihr.«
»Du sagst das so, als betrachtest du sie schon zur Familie zählend«, meinte er.
»Das tue ich auch. Ich kann es dir nicht erklären, Stefan, aber es wäre mir tatsächlich lieber, du wärest ihr Vater, als dass sie wieder herumgestoßen würde. Nein, das werde ich nicht zulassen. Ich fühle mich verantwortlich für sie.«
»Du bist eine komische kleine Heilige«, äußerte Stefan kopfschüttelnd. »Eine andere Frau würde ihren Mann mit wilden Vorwürfen empfangen oder sonst etwas tun.«
»Wie sie so dastand und mich anschaute«, bemerkte Anschi gedankenverloren. »Natürlich wurde mir erst auch schwindelig, als sie sagte, sie wäre deine Tochter. Aber es kommt mir vor, als wäre ich erst in diesem Augenblick ein selbstständiger Mensch geworden. Sie war noch viel hilfloser und einsamer als ich. Du warst doch eben erst weggefahren.«
Stefan küsste sie auf die Augen und dann auf den Mund.
»Mein kleines Mädchen«, sagte er zärtlich, »was bist du für eine tapfere Frau! Das habe ich bis heute gar nicht gewusst.«
»Und deshalb werden wir Sabine nicht allein lassen, nicht wahr?«, fragte Anschi leise.
»Um deinetwillen«, versprach Stefan Behrend.
*
Der Morgen kam, und Stefan konnte sich nicht gleich zurechtfinden. Er musste erst überlegen, ob er das alles nicht geträumt hatte.
Anschi war schon vor ihm aufgestanden, aber er hatte sie nicht gehört. Er hatte seltsame Hemmungen, als er einen Blick in das kleine Esszimmer warf, wo der Tisch für drei gedeckt war.
Da stand Anschi vor ihm.
»Guten Morgen, Liebster«, sagte sie heiter.
Es war die Anschi, die er liebte, und doch eine andere.
Er fühlte sich ihr plötzlich unterlegen.
Suchend blickte Stefan sich um.
»Wo ist sie denn?«, fragte er.
»Sie wird sich nicht heruntertrauen«, erwiderte Anschi. »Vielleicht solltest du Sabine holen.«
Er seufzte schwer. Da wurden Anforderungen an ihn gestellt, denen er sich nicht gewachsen fühlte.
Es sprach für seine innige Liebe zu Anschi, dass er dennoch hinaufging.
Sabine stand am Fenster. Sie drehte sich um, als er eintrat, und glühende Röte schoss in ihre blassen Wangen.
»Guten Morgen«, sagte Stefan rau.
»Guten Morgen«, sagte auch Sabine.
»Nun komm mal her, junge Dame«, fuhr er fort, sich zu einem leichten Ton zwingend.
Zögernd kam sie auf ihn zu. Ein ängstlicher Ausdruck war in ihren Augen.
»Ich beiße nicht«, bemerkte er. »Wir müssen uns ein bisschen näherkommen.«
Er legte den Arm um ihre Schultern und spürte, wie sie zusammenzuckte.
»Du darfst mich ruhig als deinen Freund betrachten«, erklärte er, »aber nicht als deinen Vater. Der bin ich nämlich nicht.«
»Das habe ich mir gedacht«, erwiderte Sabine zu seiner Überraschung. »Sonst hätte Anschi es gewusst. Man kann sie nicht belügen.«
»Nein, man kann sie nicht belügen, aber manchmal gibt es tatsächlich Dinge, die man verschweigt, weil man einem anderen nicht weh tun möchte. Ich will, dass du keinen Zweifel hegst, Sabine. Ich kann keinesfalls dein Vater sein.«
Das Mädchen nickte.
»Kommt jetzt endlich!«, rief Anschi von unten herauf.
Nebeneinander kamen sie die Treppe herunter. Anschi betrachtete sie mit einem langen forschenden Blick. Nein, keinerlei Ähnlichkeit war erkennbar, und doch war ihr das Kind seltsam vertraut.
Konnte man sich in so kurzer Zeit tatsächlich so sehr an einen Menschen gewöhnen? Nein, es war keine Gewohnheit, es war auch kein Mitleid. Es war ganz einfach Zuneigung.
»Wir werden deinen Vater finden, Sabine«, sagte Stefan gedankenvoll. »Solange bleibst du bei uns.«
Sabines Augen füllten sich mit Tränen.
»Dann schickt mich lieber jetzt gleich weg«, flüsterte sie, »sonst wird es noch schwerer.«
»Nicht weinen«, meinte Anschi tröstend. »Ich glaube nicht, dass wir ihn nach dieser langen Zeit finden, wenn er sich bis jetzt nicht um dich gekümmert hat.«
Stefan