Katzentisch. Lida Winiewicz
achtköpfige Familie hat sich häuslich niedergelassen: Babbo, Mamma, Nonno, Nonna und vier Ragazzini zwischen vier und zwölf.
Sie sehen mich feindselig an.
Ich kann die Leute verstehen: sie sind beim Mittagessen.
Jeder der Erwachsenen tut sich an einem Hühnerbein gütlich, die Kinder stopfen Pommes in sich hinein und trinken aus Coca-Cola-Flaschen. Auf dem Klapptischchen steht ein Korb randvoll mit jenem Gebäck, das auf alten Bildern genauso aussieht wie heute, daneben ein zweiter mit großen samthäutigen Pfirsichen, die Mamma hütet eine Schüssel voll Schinken und Mortadella, die Nonna schält harte Eier und eine Riesenflasche Chianti wandert von Mund zu Mund.
Tut mir leid, Freunde, tut mir leid, bei aller Italo-Folklore, ich sehe nicht ein, warum ich mit bezahlter Platzkarte – in Florenz habe ich mich dafür eine Stunde angestellt – stehend bis Rom fahren soll.
Ich schiebe die Türe auf. Eines der Kinder schreit: »Occupato! Tutto occupato!«
Ich sage: »Das sehe ich.« Zum Glück kann ich Italienisch.
»Aber es tut mir leid. Ich habe in Florenz eine Platzkarte gekauft!«
Unheilvolle Stille.
Die Erwachsenen kauen, die Kinder kichern, worüber, ist mir nicht klar.
Der älteste Junge sagt: »Wir haben auch Platzkarten.«
»Oh. Wirklich? Dann zeig mir doch deine!«
Keine Antwort.
»Ich zeige dir meine.« Ich halte sie ihm unter die Nase. »Du sitzt auf meinem Platz.«
Und zu der Nonna: »Ich bin übrigens über siebzig. Und nicht mehr so fest auf den Beinen. Würden Sie bis Rom stehen wollen?«
Sie seufzt. Dann sagt sie: »Peppino, steh auf.«
Peppino rührt sich nicht.
Der Babbo: »Hast du nicht gehört, was deine Nonna gesagt hat?«
Peppino erhebt sich, maulend. Die Mamma blickt mörderisch.
Ich nehme Platz und sage: »Wenn wir zusammenrücken, können wir alle sitzen.«
Die Kinder rücken. Peppino setzt sich neben mich und bohrt mir dabei seinen spitzen Ellbogen in die Seite.
Unglaublich: die Mamma lächelt.
Der Babbo reicht mir die große strohgeschützte Chiantiflasche und sagt: »Salute!«
O Gott.
Vier fremde Menschen haben aus dieser Flasche getrunken! Was tu ich? Was sage ich? »Mir graust«? Ich trinke.
Es schmeckt mir sogar. Ich werde mit Essen beteilt. Die Fahrt wird zur Fressorgie. Die Mamma zaubert immer neue Viktualien hervor, die Flasche kreist, die Kinder schlafen, Babbo und Nonno singen.
Jetzt weiß ich auch, warum die ganze Familie nach Rom fährt: zu einer Beerdigung. Der Urgroßvater ist gestorben.
»Mit zweiundneunzig«, sagt die Nonna.
»Er war wohl schon lange krank?«
»Nein«, sagt sie. »Im Gegenteil.«
Peppino, soeben erwacht, meldet: »Man hat ihn erstochen.«
»Um Gottes willen! Warum?«
Die Männer sagen stolz: »Aus Eifersucht! Alle beide!«
Eile
Ein kleines Café beim Bahnhof.
Mein Zug fährt in zwanzig Minuten.
Der Ober, unrasiert, klapprig, in unglaubwürdigem Frack, erkundigt sich auf Distanz, was ich zu bestellen wünsche.
»Einen Mokka! Wenn möglich – schnell!«
Zwei Minuten später, o Wunder, steht der Kaffee vor mir.
»Hätten Sie vielleicht – auch schnell – eine heutige Zeitung?«
»Sicher.«
Der Mann schlurft zu einem Gestell, holt KURIER-Bestandteile hervor, beginnt Seiten zu sortieren und schimpft dabei vor sich hin: »Wie die Leut’ die Zeitung zerfleddern ... Möcht nicht wissen, wie’s bei denen z’haus ausschaut ...«
Ich sage: »Ich mach das schon!«
Er widerspricht: »Wär noch schöner! Wir sind kein Ringstraßencafé, aber einen solchen Sauhaufen geb ich nicht aus der Hand! Da, bitte! Zuoberst die WIRTSCHAFT! Wer liest denn heut noch die WIRTSCHAFT! Wenn die was verstehen täten, die Herren von der Wirtschaftsredaktion, dann hätten s’ vorher schreiben sollen, vor der Krise, nicht jetzt nach der Krise, jetzt merkt eh jeder Depp, was los is!«
»Ich brauche den Wirtschaftsteil nicht.«
»Sag ich ja, Madame, sag ich ja. Trotzdem g’hört er dorthin, wo er hing’hört! Seite 20 fehlt auch schon wieder. Glauben Sie an Horoskope? Auf Zwanzig ist das Horoskop. Ich bin Fisch und angeblich sollt’ ich für mein Leben gern schwimmen gehen. Soll ich Ihnen was sagen? Ich fürcht’ mich. Wasser macht mir Angst, was sagen S’?«
Er kämpft mit den Seiten.
»Ich helfe Ihnen!«
»Kommt nicht in Frage! Die Seite ist tatsächlich weg! Ich weiß, wer sie g’fladert hat: die Gachblonde mit dem Kipferl und dem Kakao ohne Schlag. Die hab ich schon lang im Visier!«
»Mich interessiert die Kultur.«
»Die hat einen eigenen Teil?«
»Nein. Die ist beim Sport.«
»Der Mozart beim Krankl?«
»Müssen wir das jetzt erörtern?«
»Is mir eh wurscht – da schau her! Der MOTOR steckt mitten unter den FREIEN STELLEN! Als ob sich heute wer ein Auto leisten könnt’! Hätten Sie erwartet, dass es so viele gibt?«
»Autos?«
»Freie Stellen! Angeblich gibt es keine, aber das is’ nicht wahr, schauen S’ her, freie Stellen noch und noch, aber alle auf Englisch!«
»Zeigen S’ her!«
»Ich bin gleich so weit.«
»Geben Sie mir doch endlich die Zeitung!«
»Seien S’ nicht so ungeduldig. Die rennt Ihnen nicht davon. Alles braucht seine Reihenfolge, und zwar seine richtige! Schütt’ ich vielleicht den Kaffee auf den Tisch und stell’ nachher das Häferl hin?«
Ich stehe auf. »Bitte zahlen!«
»Zwei fünfzig.«
»Drei.«
»Besten Dank.«
Er steckt das Geld umständlich ein, dann legt er, mit Grandezza, die Zeitung vor mich hin, geglättet, geordnet, gefaltet.
Ich nehme und entfalte sie. Ich habe massenhaft Zeit.
Eskalation
Als mein Onkel Ernst noch lebte, führte Tante Hella Buch: »Den Spitzhütls sind wir eine Einladung schuldig!«
Und sie begann zu rechnen:
»Bei ihnen gab’s Tafelspitz mit Schnittlauchsauce, Cremespinat, Erdäpfelschmarrn, sogar Semmelkren hat sie gemacht, nachher Sachertorte mit Schlag, keine Kleinigkeit, sage ich dir, das zu übertrumpfen.«
»Warum musst du’s übertrumpfen?«
»Sei still. Das verstehst du nicht.«
Und