Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Gedichte. Eugenie Marlitt
notgedrungen Hollfelds Anwesenheit mit dulden mußte, wurde nun zum Blitzableiter des brüderlichen Zornes … Oder hatte er mit angesehen, wie Hollfeld ihr die Rose auf das Buch warf, und war in seinem aristokratischen Stolze tief beleidigt, daß sein Vetter einem bürgerlichen Mädchen in der Weise huldige? … Dieser Gedanke kam Elisabeth wie ein erleuchtender Blitz … Ja, ganz gewiß, so nur konnte sie sich sein Benehmen erklären … Sie sollte die arme Blume zertreten und mit ihr den Beweis vernichten, daß Herr von Hollfeld einen Augenblick seine hohe Abkunft vergessen hatte. Darum wurde so plötzlich in rauhem, befehlendem Tone zu ihr gesprochen, in einem Tone, welchen sicher nur diejenigen an ihm kannten, die ein Vergehen zu büßen hatten; und darum auch sollte sie durchaus sagen, welchen Eindruck ihr Hollfelds plötzliches Erscheinen gemacht habe … In diesem Augenblicke hätte sie nun hintreten und ihm unumwunden erklären mögen, wie verhaßt ihr sein hochgeborener Vetter sei, daß sie sich durchaus nicht geehrt fühle durch dessen Aufmerksamkeiten, sondern dieselben stets als eine ihr widerfahrende Schmach ansehe. Allein es war zu spät. Herr von Walde sprach mit Miß Mertens über Reinhards Reise nach England so ruhig und eingehend, daß es geradezu lächerlich gewesen sein würde, mitten hinein den Faden des vorigen stürmischen Gesprächs wieder aufzunehmen. Auch fiel nicht ein Blick seines Auges mehr auf sie, obgleich sie ziemlich nahe bei Miß Mertens stand.
»Ich bin eigentlich halb und halb entschlossen, die Reise selbst mitzumachen,« sagte er schließlich zu der Gouvernante. »Reinhard soll mit Ihrer Frau Mutter zurückkehren, denn ich will Lindhof von nun an ganz unter seine Aufsicht stellen; ich aber bleibe den Winter über in London, gehe im Frühjahre nach Schottland …«
»Und kehren dann jahrelang nicht wieder heim,« unterbrach ihn Miß Mertens erschrocken und betrübt zugleich. »Hat denn Thüringen ganz und gar keine Anziehungskraft für Sie?«
»O ja, aber ich leide hier, und Sie werden wissen, daß oft ein herzhafter Schnitt eine Wunde rasch und glücklich heilt, während sie unter einer allzu nachsichtigen feigen Behandlung gefährlich werden kann … Ich hoffe viel von der schottischen Luft für mich.«
Die letzten Worte hatte er in einem Ton gesprochen, der scherzhaft sein sollte, allein der gewisse Zug zwischen den Augenbrauen trat schärfer hervor, denn je, und ließ Elisabeth seine heitere Stimmung sehr bezweifeln.
Er reichte darauf Miß Mertens die Hand und schritt langsam den Kiesweg hinab, wo er bald hinter einem Boskett verschwand.
»Da haben wir’s nun,« sagte die Gouvernante traurig. »Statt daß er uns, wie ich im stillen hoffte, eine schöne junge Frau nach Lindhof bringt, zieht er wieder hinaus in die weite Welt und läßt in Jahr und Tag nichts wieder von sich hören noch sehen … Es ist etwas Ruheloses in ihm; kein Wunder, wenn man die unerquicklichen hiesigen Verhältnisse bedenkt … Die Baronin Lessen ist ihm ein Greuel, und doch ist er gezwungen, an seinem eigenen Herde stündlich mit ihr zu verkehren, denn die Schwester, die er zärtlich liebt, hat ihm ja erklärt, daß sie im Umgange mit dieser Frau das Herbe und Freudenlose ihres Daseins vergißt. Auch sein Vetter ist ihm ein ungebetener Gast … Herr von Walde ist eine viel zu gerade Natur, als daß es ihm glücken sollte, seine Abneigung zu verbergen, und doch sind diese Menschen wie von Stahl und Eisen; die wenig rücksichtsvolle Behandlung des Hausherrn gleitet vollständig an ihnen ab, sie haben weder Augen noch Ohren, wenn er auf eine Trennung hindeutet. Und Herr von Hollfeld, nun, der ist in meinen Augen ein ganz erbärmlicher Mensch; ich begreife heut’ noch nicht, wie er Fräulein von Waldes Herz gewinnen konnte.«
»Also wissen Sie das auch?« fragte Elisabeth.
»Ach, Kindchen, das ist ja längst ein öffentliches Geheimnis … Sie liebt ihn so tief und hingebend, wie ein Weib nur lieben kann. Diese unselige Neigung aber, in der sie jetzt lebt und atmet wie im Sonnenlichte, sie wird dereinst den düstersten Schatten werfen auf das Leben der ohnehin so schwer Heimgesuchten … Dies ganze traurige Verhältnis und seine Zukunft durchschaut und ahnt Herr von Walde, aber da er seiner Schwester nicht die Augen öffnen kann, ohne sie tödlich zu verwunden, so bringt er seiner brüderlichen Zärtlichkeit die schwersten Opfer und geht lieber, da ihm der Aufenthalt in seinem eigenen Hause zu unerträglich wird.«
Während dieses Gesprächs hatten Miß Mertens und Elisabeth längst das Schloß verlassen und stiegen bergauf. Bald stieß Reinhard zu ihnen, der einen Gang nach dem Dorfe gemacht hatte. Miß Mertens erzählte ihm das Zusammentreffen mit Herrn von Walde und seine letzten Aeußerungen bezüglich seiner Reise.
»Gesagt hat er mir noch nichts,« meinte Reinhard, »aber er sah vorhin gerade so aus, als möchte er am liebsten auf der Stelle Lindhof verlassen … Schöne Wirtschaft das! … Der Herr des Hauses ist das fünfte Rad am Wagen in seinem Verwandtenkreise; er muß die Sippschaft ernähren, und als Dank dafür machen sie ihm das Herz seiner Schwester abspenstig … Herr Gott, steckte ich doch nur zwei Tage in seinen Schuhen, ich wollte den unsaubern Geist austreiben, daß auch nicht eine Spur übrigbliebe! … Uebrigens hoffe ich, daß Herr von Hollfeld wenigstens wieder auf einige Tage nach Odenberg geht. Sein Verwalter hat soeben die Nachricht gebracht, daß die Wirtschafterin ihm plötzlich auf und davon gegangen ist; es bleibt keine, der saubere gnädige Herr ist zu geizig … Es sollen auch noch andere Unannehmlichkeiten drüben vorgefallen sein.«
Burg Gnadeck war erreicht, und der Gast wurde von Ferbers sehr herzlich begrüßt. Wie heimlich und traut umfing Miß Mertens’ Stübchen die neue Bewohnerin! Es blinkte in Sauberkeit; auf Bett und Tisch lagen frische, weiße Decken, eine hübsche Schwarzwälderuhr tickte leise neben dem zierlich geordneten Schreibtische, und einige Reseden und Rosenstöcke auf dem Fenstersimse hauchten ihren Duft durch den kleinen Raum. Durch die offene Thür sah man in das Wohnzimmer der Familie. Dort auf dem gedeckten Tisch entzündete Elisabeth die Spiritusflamme in der Theemaschine, während Miß Mertens rasch ihre wenigen Habseligkeiten in Kommode und Schrank einräumte.
Unterdes hatte sich auch der Onkel in Begleitung Hektors und der langen Pfeife eingefunden. Auch Reinhard blieb da, und so saß bald eine fröhliche Gesellschaft zusammen. Der Oberförster war sehr rosiger Laune. Elisabeth saß neben ihm. Sie bemühte sich aus allen Kräften, auf seine Neckereien einzugehen, aber noch nie war es ihr so schwer geworden, und er, der ein sehr feines Ohr für die leiseste Modulation ihrer Stimme hatte, bemerkte das sehr bald.
»Holla, Goldelse, was ist mit dir?« rief er plötzlich, »da ist etwas nicht in Ordnung.« Er faßte sie am Kinn und sah ihr in die Augen. »Richtig, hast einen Schleier über den Augen und auf der Seele! … Potztausend, du siehst ja auf einmal ganz anders aus! … Was soll’s mit dem trübseligen Nonnengesichte da?«
Elisabeth wurde feuerrot unter seinem forschenden Blicke. Sie bot alles auf, um durch munteren Scherz einer Beichte zu entgehen, allein es gelang ihr sehr schlecht, und zuletzt blieb ihr nichts übrig, als sich an das Klavier zu setzen, dort neckte und störte er sie ja nie.
Wie wohl that es ihrem gepreßten Herzen, als es ausgehen durfte in vollen rauschenden Akkorden, als die Töne schmerzlich hinausklangen in die beginnende Abenddämmerung, ein Echo jenes tiefen Wehes, das sie erfüllte, seit sie wußte, daß Herr von Walde Thüringen wieder verlassen wollte … Vorbei war es mit jenem Grübeln und Sinnen, jenem Haschen nach dem unklaren, fremdartigen Etwas, das plötzlich wie ein liebliches Rätsel zwischen ihren Tongedanken aufgetaucht war! Es sprach jetzt mit eigener, fester Stimme, in gewaltigen Klängen, vor denen das einstige, harmlose Saitenspiel ihres Innern zu einem unhörbaren Säuseln erstarb … Ein Wunderland voll goldener Verheißungen that sich vor ihr auf – ihr Auge irrte trunken darüber hin; aber nie, nie sollte sie jenen Boden betreten; denn über die finstere Kluft zu ihren Füßen führte keine Brücke … Der Schleier, unter dem ihre Seele in glücklicher Unwissenheit bis dahin gelegen, war zerrissen, sie erkannte mit Lust und unsäglichem Schmerze, daß – sie liebte.
Wie lange sie gespielt hatte, sie wußte es nicht. Aber sie erwachte jäh aus dem gänzlichen Vergessen der Außenwelt, wie ein Lichtstrom aus dem Wohnzimmer herüberquoll und grell über Beethovens bleiche Büste floß. Die Mutter hatte die große Lampe angezündet, und Elisabeth sah jetzt, daß der Onkel neben ihr im Fenster saß; er mußte sehr geräuschlos eingetreten sein. Als ihre Hände von den Tasten herabglitten, strich er leise mit der Hand über ihr Haar.
»Siehst du, Kind,« sagte