Wir Seezigeuner (Abenteuer-Klassiker). Robert Kraft
Blätter einen halben Meter über dem Wasser.
Das machte eben, daß die Pflanzen hier noch im Boden wurzelten. Die Tiefe konnte ich nicht messen, das Lot versagte, es erreichte in dem Gewirr den Grund gar nicht, und es gelang mir nicht, eine Pflanze mit der Wurzel auszureißen.
Ebensowenig konnte man noch loggen. Das Logbrett blieb hängen, verstrickte sich, die Leine riß.
Jedenfalls kamen wir immer langsamer vorwärts. Und das ging gar rasch. Schon nach fünf Minuten, nachdem der Seetang nicht mehr entfernt werden konnte, blieb der Dampfer, obgleich die Schraube noch immer arbeitete, ganz einfach stehen, und der Seetang hatte sich vorn so aufgehäuft, daß der Berg bereits das Deck überragte.
So, nun konnte man sich in aller Gemütlichkeit einmal vorstellen, in welcher Lage man sich befand, wenn so etwas einmal im Ernstfalle eintrat, wenn ein Segelschiff zufällig in die Fucusbank geriet und eingeschlossen wurde.
Alle Bedingungen zu dieser Vorstellung waren gegeben. Wir waren bereits so tief eingedrungen, daß vom freien Wasser nichts mehr zu sehen war. So weit das Auge reichte, nichts als eine grüne Wiese. Vollständige Windstille. Glühende Sonnenhitze, unter welcher das grüne Zeug schon einen ganz unangenehmen Duft ausströmte.
Ich hatte die Maschine abgestellt, was man gleich daran merkte, daß die Planken nicht mehr zitterten.
»Na, Jungens, was meint ihr – wenn wir jetzt hier festsäßen – so bis in alle Ewigkeit?«
Ich sah den Leuten an, was sie dachten. Diesen handfesten, unerschrockenen Männern, die sich sonst vor Gott und Teufel nicht fürchteten, weder vor Brandung noch vor Felsenriffen zurückbebten, sondern kaltblütig die Gefahr erwogen und dann daran gingen, sie zu besiegen – ihnen allen war plötzlich ganz unheimlich zumute. Und mit mir war ganz genau derselbe Fall.
Was es eigentlich war, was so furchtbar aufs Gemüt schlug, kann ich nicht weiter schildern. Eben diese Totenstille – wirklich die Stille des Todes, von dessen grünen Armen man sich umschlungen sah – das Bewußtsein, um was es sich hier handelte – vielleicht auch der faulende Dunst, der Geruch der Verwesung.
»Kiek, wie das grüne Zeug schon heraufklettert, um uns noch ganz einzuspinnen.«
So flüsterte ein Matrose, auf den das Deck überragenden grünen, nassen Berg deutend.
Wahrhaftig! Ich wollte es erst gar nicht glauben, und doch war es so!
Aus diesem Berge ragten frische Triebe hervor, durch hellere Färbung abstechend. Da war nichts weiter dabei, solche sah man auch auf dem Wasser – aber gar kein Zweifel, diese Triebe wurden immer größer, sie wuchsen zusehends, sie schlangen sich um den Klüverbaum und um jedes Tau!
Man brauchte nur fünf Minuten solch einen Trieb im Auge zu behalten, um mit Gewißheit konstatieren zu können, daß dem tatsächlich so war!
Ich beobachtete einen fingerlangen Trieb, der mit seiner Spitze ein Tau berührte, und nach genau fünf Minuten hatte er sich einmal um das Tau herumgelegt, und nach weiteren zehn Minuten hatte der Trieb, jetzt schon mindestens dreißig Zentimeter lang, das Tau bereits viermal umschlungen.
Wie war das möglich? Konnte eine Pflanze wirklich so schnell wachsen? Ein solch rasches Wachstum kennt nicht einmal der Pilz, auch kein Bovist.
Wuchsen denn auch die im Wasser befindlichen Schlingpflanzen so ungeheuer schnell? Ich beobachtete – nein, ich konnte dies nicht konstatieren, und ich hatte später ja noch genügend Zeit, solche Beobachtungen anzustellen.
Nein, für gewöhnlich wuchs dieser Seetang nicht so ungeheuer rasch. Aber sobald er aus seiner normalen schwimmenden Lage gebracht wurde, daß er sich emporhäufte, so suchte er sich an alles zu klammern. Doch schien das weniger ein direktes Wachsen zu sein, vielmehr dehnte sich die ganze Pflanze aus, gummiartig, wozu sie nach der Beschaffenheit ihres Zellengewebes ja auch ganz geeignet war. Dann allerdings mochte der überschüssige Saft in die so ausgedehnten Zellen schleunigst nachströmen, und so fand dann schließlich doch noch ein ungewöhnlich rasches Wachsen statt.
Wir staunten noch dieses Wunder an, wie der Seetang unser ganzes Schiff zu umschlingen begann. Mit sichtbarer Schnelligkeit. Nun fehlte bloß noch, daß wir das Gras auch wachsen hören konnten.
»Richard, wenn jetzt die Maschine versagt!« flüsterte da Blodwen neben mir.
Ich kann nur sagen, daß mich ein gelinder Schreck durchzuckte.
»Torheit,« lachte ich dann, »weshalb sollte denn jetzt gerade etwas an der Maschine brechen?«
»Und warum soll das nicht gerade jetzt geschehen können?«
»Freilich, ein Gegengrund ist nicht vorhanden. Aber einen so bösen Streich wird uns der Himmel doch nicht spielen.«
»Und wenn es nun doch einmal geschähe?«
»Blodwen, du kennst doch die alte Geschichte von dem Mann, der das Wenn und Aber erdacht hat. Wir alle haben schon vorher gewußt, auf was für eine Fahrt wir uns begeben.«
»Ja, wie kommen wir denn jetzt frei, wenn sich der Seetang schon nicht mehr entfernen läßt?«
»Einfach dadurch, daß ich den Dampfer rückwärts gehen lasse. Umwunden hat uns der Tang doch noch lange nicht, die paar dünnen Pflänzchen haben doch gar nichts zu bedeuten, und der Berg ist doch nur vor uns angehäuft, wir gehen einfach vor ihm zurück, dann umfahren wir ihn – natürlich mit schon eingesetztem Messer.«
Ich ging auf die Kommandobrücke. Dieselbe besaß noch keinen solchen elektrischen Apparat, wie er jetzt allgemein auf Dampfern üblich ist, durch welchen man die einzelnen Kommandos in den Maschinenraum hinabklingelt.
Hier war noch ein Sprachrohr vorhanden, außerdem aber noch eine einfache elektrische Klingel, welche eben damals ihren Siegeszug um die Welt hielt. Das Klingeln machte nur das Maschinenpersonal aufmerksam, daß jetzt durch das Sprachrohr ein Kommando erfolgen würde.
Also ich klingelte und rief hinab: »Halbe Kraft rückwärts!«
Im nächsten Augenblick mußte sich das bekannte Geräusch hören lassen, die Schiffsplanken würden zu zittern beginnen.
Beides geschah nicht.
Ich klingelte nochmals – »Halbe Kraft rückwärts!«
Nichts wollte sich ändern in dieser Stille des Todes. Nur mein Herz begann mit einem Male stark zu klopfen.
»Ist jemand am Sprachrohr?« rief ich hinab.
»Ja, der erste Maschinist,« erklang es zurück.
»Na, was ist denn da los?«
»Herr Kapitän, die Maschine gehorcht nicht dem Hebeldruck.«
Es war geschehen! Blodwen hatte es gleichsam geahnt. Zum ersten Male versagte die Maschine!
Ich hinab in den Maschinenraum. Das ganze Personal war bei der Arbeit, den Fehler zu suchen. Ein Bruch oder dergleichen war nicht zu bemerken.
Die Versicherung der Ingenieure, daß es nichts von Bedeutung sein könnte, beruhigte mich wenig. Gerade hier unten befiel mich ein neuer Schrecken, ich dachte an die Schraube, an die wuchernden, alles umstrickenden Schlingpflanzen …
Ich wieder hinauf, beugte mich über Bord.
Wahrhaftig, von allen Seiten begannen schon die frischen Triebe an den glatten Schiffswänden emporzuklettern, sichtbar wachsend! Die Schraube war nicht zu sehen. Aber da hing hinten ein Seil herab, und an diesem waren die Schlingpflanzen schon bis zur Höhe des Decks emporgeklettert.
Also gar kein Zweifel, jetzt waren auch schon die Schraubenflügel so umstrickt, und wenn das nun immer so weiter ging, würde die Maschinenkraft dann noch ausreichen, die grüne Umstrickung wieder zu zerreißen?
Eine halbe Stunde verging. Ich kann nicht schildern, was ich während derselben alles durchgemacht habe.
Da ein Dröhnen, ein Ruck, wir drangen noch etwas tiefer in den schon aufgehäuften Berg hinein, und dann klingelte es auf der Kommandobrücke,