Wir Seezigeuner (Abenteuer-Klassiker). Robert Kraft
mich – ich hatte mit lebendigen Menschen zu kämpfen, nicht mit Geistern – nein, ich habe mich nie wieder darum gekümmert. Gestern hatten wir die erste Neumondnacht. Und heute erfahre ich, daß gestern abend wiederum im Geisterturm der Lichtschein und das Winseln beobachtet worden ist. Dann wiederholt es sich ganz bestimmt auch heute nacht. Und bevor ich Abschied von hier nehme, jedenfalls für immer, will ich dieses Rätsel … «
Ich hatte mich, einer Eingebung folgend, schnell erhoben.
»Gestatten Mylady, daß ich diese Nacht in dem Geisterturme verbringe!«
Es war eine ganz merkwürdig staunende Freude, mit der sie zu mir emporblickte.
»Wie, das würden Sie wagen?!«
»Selbstverständlich, und da gibt es doch auch gar nichts zu wagen, haben Sie es doch schon selbst gemacht!«
Es waren nur wenige Worte, die wir noch wechselten. Dann befand ich mich auf dem Wege nach meinem Zimmer, den Kopf erfüllt von gar vielen Gedanken.
Wir Geschwister hatten als Kinder viele Gespenstergeschichten hören müssen. Unser Großvater war ein Sonderling gewesen, hatte wohl schon immer zu übersinnlichen Dingen hingeneigt, und als er dann im Alter etwas schwachsinnig wurde, auch uns Kinder mit Gespenstergeschichten traktiert, so sehr auch unsere vernünftigen Eltern es zu hindern suchten. Für uns Kinder war es ja gar zu schön, so hinter dem warmen Ofen das Gruseln zu lernen.
Tatsache war, daß in unserem Hause, ehe mein Vater es übernahm, ein scheußlicher Mord passiert war, ein Bruder hatte den anderen aus Habgier getötet, oben in einer Bodenkammer, der Mörder hatte sich dort auch aufgehängt.
Doch das bekamen wir erst jetzt mit allen Einzelheiten von unserem Großvater zu hören, und dann weiter, daß die Seele des Mörders noch jetzt dort oben spuke, er selbst hätte den Geist gesehen. Es war eben ein kindischer Alter, der nicht mehr dafür verantwortlich zu machen war.
Es läßt sich denken, mit welchen Empfindungen wir Kinder von da an auf den Boden gingen. Ja, auch ich bekam immer eine Gänsehaut, daraus mache ich gar kein Hehl.
Aber fürchten? Ich schämte mich eben, daß ich mich wirklich fürchtete. Meine Eltern, meine Lehrer und alle vernünftigen Menschen versichterten doch, daß es gar keine Geister gebe, der liebe Gott dulde so etwas nicht, und so weiter.
Kurz, es war ein Schamgefühl, welches mich bestimmte, eine Nacht in der spukhaften Bodenkammer zu verbringen. Ich wollte den Geist sehen! Wohl mit einer Gänsehaut, aber ich tat es doch!
Ich sah nichts, meine Einbildung gaukelte mir nichts vor, und ich war ein für allemal von jeder Gespensterfurcht geheilt. Heute darf ich sagen, daß ich mich damals als ein kleiner Held gezeigt hatte.
Das zweitemal sah ich einen wirklichen Geist. Er spukte auf dem benachbarten Kirchhofe. Ich lauerte ihn auf, sah die weiße Gestalt wirklich zwischen den Gräbern wandeln und … schoß ihr mit dem Blaserohr einen Stechbolzen ins Bein. Quiekend rannte er davon und kletterte über die Kirchhofsmauer, und ich hatte einen wirklichen Geist besiegt, einen alten Spaßmacher, der da seine Allotria trieb.
Der zweiten handgreiflichen Geistererscheinung war ich vor noch gar nicht so langer Zeit begegnet, in New-York, wo es manchmal auf dem Boden eines Boardinghouse spukte. Ich produzierte mich wiederum als Geisterbanner, sah ihn, packte ihn, verwalkte ihn – bis er in meinen Händen ein weißes Bettuch zurückließ. Auf der Flucht verlor er außerdem noch einen Schinken und eine Kiste Zigarren. Denn ohne Bettuch nannte sich dieser Geist Friedrich und war in dem Boardinghouse als Hausknecht angestellt.
Das waren meine bisherigen Erfahrungen auf dem Gebiete der Geisterwelt. Und nun sollte ich zum dritten Male einem wirklichem Gespenste zu Leibe gehen.
Ich weiß nicht, die Erzählung der Lady kam mir etwas …
Doch ich will meine damaligen Gedanken nicht wiedergeben, entschlug mich auch aller Grübeleien. Es würde sich ja alles finden.
Ich holte mein versäumtes Mittagessen nach, dann legte ich mich schlafen, um heute nacht weder mit geschlossenen noch mit offenen Augen zu träumen. In der vorigen Nacht hatte ich ja auch kaum eine Stunde geschlafen. Wie sehr mich dies alles von meinen vorigen, so unglücklichen Gedanken ablenkte, das kam mir damals gar nicht recht zum Bewußtsein.
Als mich der Diener, wie ich angeordnet, um sechs weckte, brachte er mir von der Lady ein Paketchen. Es enthielt einen großen, altertümlichen Schlüssel – sonst nichts weiter, keine Zeile, und ich sollte die Lady auch nicht wiedersehen, hatte es ja auch gar nicht nötig.
Ich besorgte mir, was ich zu gebrauchen dachte, einige Lichter, Tee und Zucker, eine Spiritusmaschine, einigen Proviant, machte mir daraus ein Paket – dann ging ich noch einmal in das Bibliothekzimmer, um mir etwas zu lesen zu holen. Es war ein Zufall, daß das erste Buch, welches ich blindlings herausholte, eine dickleibige Gespenstergeschichte war, aus dem Russischen übersetzt. Gut, so würde ich mich gleich in die richtige Stimmung versetzen. Wirklich, ich freute mich außerordentlich auf diese Nacht im Geisterturme. Wenn nur auch wirklich etwas kam!
Schließlich nahm ich noch für alle Fälle von der Wand einen kurzen Hirschfänger, den ich bequem ins Hosenbein stecken konnte.
Dann, kurz vor Anbruch der Dämmerung, verließ ich die Villa. Nach Wanstead war gerader Weg, bis ich zuletzt die Umrisse eines Turmes erkannte, der auf freier Heide stand.
In einiger Entfernung sah ich in einem einsamen Hause an der Straße Lichter blinken. Das war die Wirtschaft, in welcher ich, wie mir die Lady zuletzt gesagt hatte, bei dem Wirte und bei den eventuell anwesenden Gästen über den Geisterturm Erkundigungen einziehen sollte.
Ich tat es nicht. Was konnten mir denn die Leute noch viel erzählen? Und ich hörte ein wüstes Singen von Zechbrüdern … ich verließ den Weg und stolperte in fast schon völliger Finsternis, ab und zu ein Streichholz anbrennend, über die Heide.
Vor mir erhob sich der massive Turm. Der Schlüssel paßte. Dann mußte es doch wohl auch der richtige Turm sein, falls es etwa zwei gab.
Das knarrende Tor ging inwendig wieder zu verschließen, auch ein mächtiger Riegel war vorhanden, den ich vorschob. Mein zweites war, mich im Scheine meiner Kerze unten weiter umzusehen. Es war alles leicht zu überblicken – nein, einen zweiten Eingang gab es hier nicht.
Ich stieg die steinerne Rundtreppe hinauf. Von dem Absatz gingen vier Räume ab. Die Oeffnungen hatten einmal Türen besessen, aber diese waren ausgehängt worden, wovon die Lady mir gar nichts gesagt hatte. Ich sah altmodische Möbel, und dasselbe war im zweiten Stock der Fall, wo ich im östlichen Zimmer auch gleich das Möbel sah, welches die Lady eine Schreibkommode genannt hatte. Es war eine Art von unserem jetzt ebenfalls im Aussterben begriffenen Schreibsekretär, die heraufgeklappte Schreibplatte schloß die inneren Fächer ab.
Zunächst stieg ich noch eine Treppe höher, kam aber gleich unters Dach, stieg wieder hinab in die erste Etage und noch tiefer, um noch einmal alles gründlich zu untersuchen, nur der Gewissenhaftigkeit halber.
Von Geist gar keine Spur. Auch sonst nichts, was meinen Verdacht hätte erregen können.
Hierauf kehrte ich in den zweiten Stock zurück, konstatierte, daß der Schreibsekretär wieder verschlossen sei, und dann begann ich, es mir hinter dem Tisch auf dem altmodischen Sofa bequem zu machen.
Es war gleich um zehn Uhr, als mein Tee fertig war, den ich nur mit ein ganz klein wenig Rum verbesserte. Die Kerls hatten mir Lompenzucker eingepackt, den ich mit dem Hirschfänger in Stücke klopfte. Ich aß schnell etwas, dann brannte ich mir meine Pfeife an, und nun wurde es gemütlich. Wenn der Geist immer pünktlich um elf erschien, so hatte ich ja noch eine Stunde Zeit, und ich versenkte mich in das Buch.
Die Erzählung fesselte mich außerordentlich und versetzte mich in die richtige Stimmung. Es war eine ganz ordinäre Gespenstergeschichte, aber mit glühender Phantasie und mit vielem Geschick geschrieben. In so einem alten Bojarenschloß spukte es, und wer dem Spuk auf den Grund gehen wollte, den fand man am anderen Morgen immer im Schreibzimmer des ehemaligen Bojaren mit umgedrehtem Genick am Boden liegen, das Gesicht ganz grün angelaufen.
Die