Reisen mit leichtem Gepäck. Tove Jansson

Reisen mit leichtem Gepäck - Tove  Jansson


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Augen.

      »Das hier ist Jonne«, sagte ich. »Jonne. Großmutter.«

      »Willkommen«, sagte sie. »Aha, das hier ist also Jonne. Du bist Finne, nicht wahr?«, fuhr sie fort und betrachtete ihn mit mildem Blick. »Wie wirst du nur in so einer alten, dickköpfigen Familie klarkommen, wo man nur Schwedisch spricht? Und wie war das wieder, seid ihr verheiratet oder nicht? Ist das unter Dach und Fach?«

      »Unter Dach schon, aber nicht unter Fach«, antwortete Jonne mutig, und Großmutter lachte, und ich wusste, dass er ihr gefiel. Sie sagte: »Und? Wo habt ihr das Geschenk?«

      Sie musterte das Bild aus San Gimignano ausgiebig und bemerkte, nun, da habt ihr euch ja wirklich Mühe gegeben, und fügte mit einem blitzschnellen Lächeln hinzu: »Ich habe dasselbe Motiv gezeichnet. Aber besser.« Mit einer kleinen Geste, die sowohl Abfertigung als auch geheimes Einvernehmen ausdrückte, ging sie weiter.

      Dominiert wurde der große Raum von Großmutters Modelltisch, der, von dem Brokattuch aus Barcelona bedeckt, üppig bestückt war mit allerlei Köstlichkeiten, von Oliven bis zur Sahnetorte, jüngere Nachkommen liefen mit Vasen hin und her, die sie bereits am Morgen mit Wasser gefüllt hatten, die Gäste standen in Gruppen beisammen und unterhielten sich fieberhaft, und jeder erhielt ein Glas Champagner. Über dem Ganzen segelte Großmutter wie ein Bild von Chagall und verteilte einen gleichsam neutralen Segen, kam und ging und gab hie und da kurze Bemerkungen von sich. Aber ich merkte genau, dass sie sich davor hütete, die Gäste einander vorzustellen. Nicht die geringste Andeutung von nachlassendem Gedächtnis – stellt euch bitte selbst vor, liebe Freunde. Wie soll es mir nur jemals gelingen, so frei zu werden wie Großmutter!

      Das Atelier wurde unentwegt von rennenden und schreienden Kindern durchquert, doch die schienen Großmutter nicht im Geringsten zu irritieren, sie überließ es einfach den Müttern, sich um das zu kümmern, was sie da zustande gebracht hatten.

      Jonne und ich setzten uns an einen Tisch mit vielen Leuten und merkten erst zu spät, dass wir an den falschen Tisch geraten waren; es war ein Tisch für jene, die Großmutter als die Intellektuellen bezeichnete und die ausschließlich miteinander zu verkehren pflegten. Was die Intellektuellen so machten, wusste ich nicht. Ich versuchte verzweifelt, mir irgendeine Bemerkung auszudenken, und schließlich, nach langem Schweigen, wandte ich mich an einen Herrn mit Spitzbart und sagte, das abendliche Licht im Atelier sei ungewöhnlich schön. Zu meiner Erleichterung begann er sich über die Bedeutung des Lichts auszulassen und ging dann zur Idee der Perzeption über, es dauerte allerdings lange, bis ich begriff, dass er Kunstkritiker war. Zum Glück schien er nichts anderes zu erwarten, als dass man ihm zuhörte, ich nickte nachdenklich und sagte ja natürlich und wie wahr. Ab und zu blickte ich zu Jonne hinüber, der gegenüber saß und unglücklich aussah. Er war neben einem dieser Genies gelandet, die nur schweigen und kein bisschen hilfreich sind. Trotzdem war ich ein bisschen stolz darauf, dass mein Jonne in eine Familie mit künstlerischem Ursprung geraten war, in eine Familie, wo man ein Fest von erstaunlicher Dimension wirklich zu organisieren verstand.

      Mit der Zeit gelang es Jonne, aufzustehen und zu mir herüberzukommen. »Machen wir uns auf den Heimweg?«, zischte er mir ins Ohr.

      »Ja«, sagte ich, »bald.«

      Genau in diesem Moment kamen sie herein, drei Herren von undefinierbarem Äußeren. Irgendwie wirkten sie leicht verlottert – nein, fleckig, verwischt. Aber Bohemiens waren sie absolut nicht, langhaarig zwar, aber eher auf die Art älterer Herrschaften. Sie machten eine große Nummer aus ihrem Auftritt, verneigten sich tief vor Großmutter und küssten ihr die Hand. Großmutter geleitete sie an einen leeren Tisch ganz hinten am Fenster, dann erhielt jeder von ihnen ein Glas Champagner. Innerhalb kürzester Zeit gelang es einem dieser Herren, sein Glas fallen zu lassen, worauf er völlig außer sich geriet, Großmutter lächelte nur, obwohl ich ja wusste, wie viel ihr ausgerechnet diese Gläser bedeuteten, Hochzeitsgläser, glaube ich. Es wurde noch mehr Kaffee und Kuchen serviert, aber die neuen Herren erhielten weiterhin Champagner. Wir übrigen dagegen nicht. Inzwischen hatte Jonne begonnen, langsam an den Wänden entlangzuwandern und dabei alles, was dort hing, gründlich in Augenschein zu nehmen, bis er unauffällig den Tisch der neuen Herren erreicht hatte, der gute Jonne, er begriff ja nicht, dass dies der Tisch der Versager war. Wie dem auch sei, jetzt schien er sich wohlzufühlen, endlich.

      Einer der Herren ging zum Whiskytisch und holte sich eine ganze Flasche, auf dem Rückweg erwies er Großmutter eine tiefe Reverenz. Ihr leichtes Lächeln wirkte eventuell etwas ermüdet.

      Mein Kritiker war ein Stück von mir abgerückt und unterhielt sich jetzt sehr lebhaft, offenbar ging es immer noch um die Idee der Perzeption. Ich stand auf und schlich diskret zu Jonne hinüber; Gesprächen folgen zu müssen, die ich nicht richtig verstand und die mich nicht interessierten, fand ich nämlich deprimierend. Einer der Herren, er hatte einen grauen Schnauzbart, hob sein Glas und sagte: »Und dann schreibt er so, wie er über dich schreibt, Juksu, hol’s der Teufel.«

      »Ja«, sagte Juksu. »Und nur sieben Zentimeter.«

      »Hast du es nachgemessen?«

      »Ja, mit dem Maßband. Genau sieben Zentimeter – so wie beim Erbswurst kaufen. Da weiß man, was man kriegt. Und ohne Bild. Aber diese Anfänger, die hat er mit Bild gebracht, ist ja klar.«

      »Wahrscheinlich ist er so alt, dass er es nötig hat, sich bei den Jungen einzuschmeicheln«, warf der dritte Herr ein. »Ja, hol’s der Teufel.«

      »Aber man kann nicht alles im Leben verlangen«, sagte der mit dem Schnauzer.

      »Nein.«

      Ruhig und bedächtig setzten sie ihr Gespräch fort, es klang, als wären sie es gewohnt, sich miteinander zu unterhalten, hätten aber das Interesse am Diskutieren verloren. Sie stellten etwas fest. Sie sprachen zum Beispiel nicht über Perzeption, ihr Gespräch drehte sich eher um erhöhte Mieten oder irgendeinen Wettbewerb, der ungerecht entschieden worden sei, allerdings könne man ja nicht erwarten, dass …

      Aber immer, wenn Großmutter im Laufe ihrer charmanten Rundwanderung in die Nähe kam, wurden sie lebhaft und chevaleresk.

      Jonne gab keinen Mucks von sich, aber ich sah, dass er fasziniert war. Keiner von ihnen schenkte uns besonders viel Beachtung, aber sie sorgten dafür, dass unsere Gläser gefüllt waren und rückten freundlich zusammen, damit ich am Tisch Platz fand. Ihre Art zu reden war beruhigend, wir saßen wie auf einer geschützten Insel, und keiner von ihnen fragte, was wir denn so machten, sie ließen uns anonym sein. Das Fest ringsum glitt davon, im Zimmer war es ziemlich dunkel geworden. Die Kinder waren verschwunden. Auf einmal schaltete jemand das Deckenlicht an und gleichzeitig wurden die Pirogen hereingetragen.

      Der mit dem Namen Juksu stand auf, dann erhoben wir uns alle, und irgendwie gelangten wir als geschlossene Gruppe in den Flur. Nach unglaublichen Verneigungen und Bücklingen und den aufrichtigsten Liebenswürdigkeiten an Großmutter nahmen wir den Aufzug nach unten. Vorher gelang es ihr noch, mir zuzuflüstern: »Lade sie nicht zu euch ein. Die sind zu dritt, und das könnt ihr euch nicht leisten.« Aber bestimmt hat sie gesehen, dass Juksu ihre Whiskyflasche im Mantel stecken hatte.

      II

      Es war kalt, als wir auf die Straße hinaustraten. Und sehr still. Keine Autos und keine Menschen und dieses seltsame Halblicht, das die Frühlingsnacht mit sich bringt. Nach ziemlich langem Schweigen stellten wir uns einander vor. Es waren Keke und Juksu, und der mit dem Schnauzbart hieß Vilhelm.

      »Vielleicht sollten wir ein paar Schritte tun?«, schlug Vilhelm vor. »Am besten stadteinwärts. Aber nicht ins übliche Lokal.«

      »Nein«, sagte Keke. »Dorthin nicht. Die sind nicht mehr nett. Wir setzen uns irgendwo hin, und dann sieht man weiter.« An mich gewandt fragte er, sehr freundlich: »Wie lange wohnt ihr schon zusammen?«

      »Seit zwei Monaten«, sagte ich. »Oder fast zweieinhalb.«

      »Und das geht gut?«

      »Ja, das geht sehr gut.«

      Vilhelm sagte: »Wir könnten ja zu unserer Spezialstelle. Dort gibt es Zeitungen.«

      Das war unten im Hafen vor


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