Reisen mit leichtem Gepäck. Tove Jansson
wir uns erst mal einen Kurzen«, sagte Juksu zu Jonne. »Aber Gläser haben wir keine, falls deine Frau Gemahlin das gestattet. Du sagst nicht besonders viel? Geht es dir gut?«
»Sehr gut«, antwortete Jonne.
Eigentlich sollte ich gar nicht dabei sein, dachte ich. Ich wandte mich an Vilhelm und bemerkte höflich: »Hier ist es richtig nett. Ich finde Leute erholsam, die nichts so besonders ernst nehmen.«
»Du bist sehr jung«, sagte Vilhelm. »Aber du hast eine erstaunliche Großmutter.«
Wir prosteten uns zu, und unversehens begann Jonne sehr erregt zu reden: »Ich habe gehört, worüber ihr gesprochen habt – dass man hier im Leben nicht alles erwarten kann, aber man muss doch wohl trotz allem etwas erwarten dürfen, ich meine, etwas Unglaubliches erwarten, von sich selbst und von den anderen … Man muss hoch zielen, weil es ja trotzdem immer weiter unten trifft, wenn Sie verstehen, was ich meine – wie mit Pfeil und Bogen …«
»Natürlich, ganz klar«, sagte Keke beruhigend. »Du hast absolut recht. Schaut mal, jetzt kommen sie herein. Ich mag Boote.« Wir genehmigten uns wieder einen und betrachteten die Fischerboote, die sich langsam auf den Kai zubewegten. Zwei Politurtrinker kamen angewandert. »Hallo, Keke«, sagte der eine. »Entschuldigung, wie ich sehe, habt ihr Gäste. Hast du Zigaretten?«
Jeder bekam eine, dann zogen sie weiter. Oben am Frühlingshimmel ruhte der Dom wie ein weißer Traum über dem leeren Platz. Helsinki war unbeschreiblich schön, ich hatte bisher noch nie gesehen, wie schön die Stadt ist.
»Die Nikolaikirche«, sagte Juksu. »Alles müssen sie verändern. Der Dom, idiotisch, das sagt gar nichts.« Er ließ die leere Flasche ins Wasser gleiten und erwähnte nebenbei, die könnten ja nicht einmal mehr anständige Lyrik schreiben.
Dunkler als jetzt konnte die Nacht im Mai nicht mehr werden, Straßenlaternen benötigte sie allerdings keine.
»Erklärt mir bitte eins«, sagte ich, »was bedeutet Perzeption?«
»Wahrnehmung«, antwortete Vilhelm. »Dass man plötzlich etwas sieht und irgendeine olle Idee kriegt. Oder am besten eine neue.«
Ich fand es kalt und wurde plötzlich ärgerlich und sagte, achtzigste Geburtstage seien eigentlich ziemlich albern.
»Mein liebes Kind«, sagte Vilhelm, »das Fest war auf seine Art richtig und schön, aber jetzt ist das Fest vorbei. Jetzt sitzen nur wir noch hier und versuchen nachzudenken.«
»Worüber?«, fragte Juksu.
»Über uns. Über alles.«
»Was denkt Großmutter wohl jetzt?«
»Das weiß niemand.«
Vilhelm fuhr fort: »Zum Beispiel diese Sache mit ungefähr fünfzig pro Woche. Da müssen sie sich ja die Füße wundlaufen. Kein Wunder, dass sie nur noch die Jungen schaffen, diese Mistkerle.«
»Welche Mistkerle?«, fragte ich.
»Die Kritiker. Fünfzig Ausstellungen die Woche.«
»Und niemand fragt mehr nach unsereinem«, sagte Keke. »Man ist erledigt. Man hat seine Kritik gehabt.« Dann fuhr er fort: »Hier kriegt man ja einen kalten Hintern. Vielleicht sollten wir uns ein bisschen bewegen?«
Als wir am Ufer weitergingen, fragte er mich freundlich, was ich mir vom Leben erhoffe?
Ich zögerte kurz und antwortete: »Liebe. Vielleicht Geborgenheit?«
»Ja«, sagte er, »das ist natürlich richtig. An und für sich, wenigstens für dich.«
»Und Reisen«, fügte ich hinzu. »Ich habe solche Lust zu verreisen.«
Keke schwieg eine Zeit lang, dann sagte er: »Lust. Wie du siehst, habe ich ziemlich lange gelebt, also ziemlich lange gearbeitet, das ist ein und dasselbe. Und soll ich dir was verraten, in dem ganzen Spektakel kommt es einzig und allein auf eins an – nämlich darauf, Lust zu haben. Die Lust, die kommt und geht. Anfangs kriegt man sie gratis, im Unverstand, und vergeudet sie hemmungslos. Später wird sie zu etwas, das man mit Vorsicht behandelt.«
Es war schrecklich kalt, er ging zu langsam, und ich fror.
Dann fügte er hinzu: »Irgendwann sieht man das Bild nicht mehr. Ich glaube, die Zigaretten sind alle.«
»Keineswegs«, sagte Juksu. »Philip Morris, Großmutter hat sie mir in die Tasche gesteckt. Großmutter versteht ihr Geschäft.«
Keke gesellte sich zu den anderen, sie zündeten ihre Zigaretten an und gingen genauso langsam weiter.
Jonne und ich blieben etwas zurück, ich flüsterte ihm zu: »Hast du das hier satt? Sollten wir lieber nach Hause gehen?«
»Still«, sagte er. »Ich will hören, was sie sagen.«
»Sein Modellierton«, sagte Vilhelm gerade. »Den hat ein Amateur bekommen. Irgend so ein Scheißkerl, der die Nase vorn hatte, ein hergelaufener Niemand. Der Alte war noch keine zwei Tage tot, da kam dieser Dilettant angerannt und kaufte der Witwe den Ton ab, für ein Spottgeld. Und das war richtig alter Ton, man stelle sich vor, was für eine Qualität!«
»Jonne, warte kurz«, sagte ich. »Ich hab Sand in den Schuhen.« Aber Jonne ging weiter, zu ihnen hin.
Als er zurückkam, berichtete er hastig, der Modellierton werde mit der Zeit immer lebendiger, bei jeder Skulptur sei es derselbe Ton, er müsse stets feucht gehalten werden, und ein neuer Ton sei überhaupt nicht dasselbe, der lebe nicht …
Ich fragte, wer von ihnen eigentlich Bildhauer sei, doch das wusste er nicht.
»Sie haben nur darüber geredet, wie es ist, ein Bild zu sehen«, sagte er, »ich weiß nicht.« Er war sehr erregt und wollte wissen, ob wir nichts im Haus hätten, etwas, was man ihnen anbieten könnte, es sei ja nicht besonders spät, »und das hier«, sagte Jonne, »ist etwas, das wir nie mehr erleben werden, für mich ist das wichtig.«
Ich wusste, dass wir nicht viel anzubieten hatten, und das wusste Jonne auch, sehr gut sogar. Ein bisschen Anchovis und Brot, Butter und Käse, aber nur eine einzige Flasche Rotwein.
»Das geht gut«, sagte Jonne. »Wenn wir zwei nur so tun, als würden wir trinken, bleiben sie vielleicht ein Weilchen, das reicht bestimmt, meinst du nicht auch? Und es ist doch gleich um die Ecke.«
»Wir machen das«, sagte ich, und da lachte er.
Im Brunnspark war es sehr schön, alles wuchs und spross. Auf einmal war ich nicht mehr müde, ich wusste nur, jetzt war Jonne froh.
Wir blieben alle vor einer großen Vogelkirsche stehen, die voll erblüht kreideweiß durch die Frühlingsnacht leuchtete. Beim Betrachten des Baumes kam mir der Gedanke, dass ich Jonne nicht so geliebt hatte, wie ich ihn hätte lieben können, nämlich absolut.
Keke sah mich an und sagte: »Das da ist bloß ein Geschenk, das hat nichts zu bedeuten.«
Ich verstand ihn nicht. Wir gingen weiter.
Dann sagte er: »Deine Großmutter hat eigentlich nie etwas anderes gemalt als Bäume, Bäume aus ein und demselben Park. Zum Schluss wusste sie, was ein Baum ist, kannte die Idee des Baumes. Deine Großmutter ist sehr stark. Sie hat ihre Lust nie verloren.«
Natürlich hatte ich großen Respekt vor diesen Herren, die einzig und allein ihre verlorene Lust suchten und denen sonst nichts wichtig war, aber gleichzeitig machte ich mir Sorgen, ob wir genügend Kaffee im Haus hatten und ob es sehr unaufgeräumt war. Mir fiel ein, was bei uns an den Wänden hing, vielleicht waren unsere Bilder total unmöglich, lauter Sachen, die man einfach gern hat, ohne sie zu verstehen. Keke kam her und fragte, ob mir kalt sei.
»Nein«, sagte ich, »jetzt müssen wir nur noch diese Straße hinauf und dann sind wir da.«
»Deine Großmutter«, sagte Keke, »hat sie jemals über ihre Arbeit gesprochen?«
»Nein, hat sie nicht.«
»Gut«, sagte Keke, »das ist gut. In den Sechzigerjahren