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das Mädchen, das er dort als seine Nichte gelassen, zurückverlangen?
Diese Fragen waren heikel. Zu viel war seit dem Tage, an dem er das Versprechen erhielt, geschehen. Die unbekannte Macht war aufgetreten, und ihr Auftreten hätte den Sturz des Diktators wohl auch ohne Glossin bewirkt. Der Umstand mußte auf die Größe der englischen Dankbarkeit verringernd wirken.
Eile tat not. An dem gleichen Morgen, an dem Soma Atma in Maitland-Castle war, kam Glossin dort an. Seine Kenntnis der Örtlichkeit ermöglichte es ihm, den Park ungesehen zu betreten, sich auf dicht verwachsenen Seitenwegen dem Schloß zu nähern. Sein Plan war überaus einfach, daß er zu jeder anderen Stunde sicher gelingen mußte. Sich Jane unbeobachtet nähern. Sie wieder voll unter seinen Einfluß zwingen. Mit ihr zusammen den Park verlassen. Und dann schnell fort. Weit fort aus England in irgendein fremdes Land, in dem man Dr. Glossin nicht kannte, in dem er, Jane an der Seite, auch mit den Trümmern seines einstigen Reichtums immer noch leben konnte.
Dr. Glossin kam dem Schloß immer näher. Der schmale windungsreiche Weg führte zu einem achteckigen Pavillon. Von der anderen Seite dieses Gebäudes lief ein breiterer Weg aus dem Park auf eine wiesenartige Lichtung, und dort unter einer großen Blutbuche sah er Jane allein sitzen.
Dr. Glossin stand und verschlang das anmutige Bild mit den Blicken. Er stand am Ziel seiner Wünsche.
Vorsichtig wollte er näher gehen. Den Plan ausführen, Jane in seine Gewalt bringen.
Der Klang von Stimmen, das Geräusch nahender Schritte zwang ihn, stehenzubleiben. Schritt um Schritt zurückzuweichen, vor den Blicken der Nahenden Deckung hinter den Bäumen am Pavillon zu nehmen.
Er sah Lord Horace den Weg vom Schloß herankommen. An seiner Seite einen Mann mit brauner Hautfarbe. Den Mann, dessen Signalement er seit der Affäre von Sing-Sing kannte, dessen Bild ihm seit dem Untergang von R. F. c. 2 so oft drohend und düster in die Erinnerung gekommen war.
Atma ging allein auf Jane zu.
Glossin drückte gegen die Tür des Pavillons. Sie war nicht verschlossen und gab dem Druck nach. Er schlüpfte hinein und zog die Tür hinter sich wieder zu. Halbdunkel herrschte hier. Die Jalousien an den Fenstern waren hinabgelassen. Nur durch die Spalten zwischen den Stäben drang das Tageslicht in den Raum und erfüllte ihn mit einer ungewissen Dämmerung.
Dr. Glossin trat an ein Fenster und beobachtete durch einen Spalt, was im Park vorging.
Er sah, wie Atma Jane fest in die Arme nahm. Er sah sie auf das Schloß zugehen und erkannte mit dem Blicke des Arztes, daß sie gesegneten Leibes war. Er taumelte vom Fenster zurück und ließ sich in dem dämmerigen Raum auf einer Gartenbank niedersinken. Die letzte Hoffnung, die ihn noch an das Leben band, war entschwunden. Jane war ihm verloren. Sie würde dem anderen, dem Verhaßten, den Erben schenken.
Es war Zeit, ein Ende zu machen.
Jahre hindurch hatte Dr. Glossin mit der Möglichkeit, ja mit der Notwendigkeit eines freiwilligen Todes gerechnet. Die verschiedenen Todesarten wohlüberlegt, die Mittel dafür beschafft.
Gifte, die momentan und schmerzlos wirken. Narkotika, die einen angenehmen Schlummer erzeugen, der unmerklich in den Todesschlaf übergeht. Der plötzliche Sturz, die jähe Verbannung und Flucht hatten ihn aller dieser Mittel beraubt. Nur die kleine Schußwaffe blieb ihm, die er immer mit sich führte, die er einst auf Silvester abdrückte.
Er riß sie heraus und richtete sie mit schnellem Entschluß gegen die eigene Brust.
Der Schuß dröhnte durch den kleinen Raum. Der Körper Glossins sank zusammen, streckte sich, fiel von der Bank auf den Steinboden …
In dem gleichen Moment, in dem Atma den Raum betrat.
»Die Stunde ist gekommen.«
Atma sprach es mit leiser Stimme, während er den Körper des Sterbenden auf der Bank bettete.
Er strich ihm über die Augen und Schläfen, und das Blut aus der Brustwunde floß langsamer, stockte.
Nur noch in langen Pausen fiel es Tropfen für Tropfen auf den Boden. Traumhaft, nebelhaft kam dem Verletzten das Bewußtsein zurück. Vor seinen geschlossenen Augen gaukelten Gestalten wirr durcheinander.
Cyrus Stonard, den er verraten, stand vor ihm und blickte ihn mit Verachtung an. Wandelte sich dann in die Gestalt William Bakers und wandte ihm mit der gleichen Verachtung den Rücken.
Immer dichter, immer zahlreicher wurden die Gestalten, Menschen, die er vor langen Jahren bekämpft, verraten, verdorben hatte. Sie tauchten aus dem dämmernden Nebel, blickten ihn an und verschwanden wieder.
Dr. Glossin versuchte der Traumbilder Herr zu werden. Mit verzweifelter Anstrengung zwang er sich zum Denken.
… Ich habe mich schlecht getroffen … Stockender Puls … Delirien der beginnenden Auflösung …
Seine Gedanken verjagten den Spuk. Alle diese huschenden, blickenden und anklagenden Gestalten verschwanden. Nur ein matter, blasser Nebel blieb ihm vor den Augen.
Die Zeit verrann. Der Sterbende wußte nicht mehr, ob es Sekunden oder Jahrhunderte waren.
Der Nebel begann zu wallen. Eine neue Gestalt bildete sich in ihm.
Glossin sah zwei Augen, die ihn ruhig anblickten, ihm so wohlbekannt erschienen, ihn an lange vergangene Zeiten erinnerten.
Der wallende Nebel verdichtete sich. Formte Gesichtszüge um die einsamen Augen. Eine hohe Stirn, einen blonden Bart.
So hatte Gerhard Bursfeld vor dreißig Jahren ausgesehen. Jetzt trat auch die ganze Gestalt hervor. Im weißschimmernden Tropenanzug, den er damals in Mesopotamien trug.
Glossin suchte sich der Erscheinung zu entziehen. Ich muß die Augen aufmachen, dann wird alles verschwinden.
Mit unendlicher Mühe versuchte er die Lider zu heben, glaubte, daß es ihm gelungen sei. Er empfing einen Eindruck des Raumes, der Pfeiler und Fenster. Aber die Gestalt Gerhard Bursfelds verschwand nicht. Sie wurde nur undeutlicher, halb durchsichtig, so daß die Möbel des Raumes hinter der Figur wie durch einen Schleier zu erkennen waren.
Und dann eine zweite Gestalt neben der ersten. Die Gesichtszüge bis auf den Bart die gleichen. Die Augen dieselben. Fragend und anklagend.
Silvester Bursfeld, so wie ihn Dr. Glossin das letztemal sah, als R. F. c. 2 im Feuer des Strahlers schmolz.
Die Gestalt des Sohnes neben der des Vaters. Deutlicher, weniger durchsichtig. Der Vater an ein altes, schon verblaßtes Bild gemahnend, der Sohn in den frischen Farben des Lebens. Sich umschlingend, standen die beiden Gestalten vor ihm.
Glossin fühlte, wie sein Leben entfloh. Er machte keine Anstrengung, es zu halten. Er sehnte sich fort von allen quälenden Bildern und Erinnerungen in ein Land des Vergessens, des Nichtwissens.
Die beiden Gestalten blieben. Eine dritte trat hinzu. Die braune Figur eines Inders. In dem dunklen Antlitz standen groß und strahlend die Augen, ruhten mit bannender Gewalt auf dem Sterbenden.
Nun war es, als ob Atma, der Inder, alle Gedanken Glossins mitfühlte, als ob beide Gehirne zu einem verschmolzen.
Stärker wurde die Sehnsucht des Sterbenden nach wunschloser Ruhe.
»Du suchst das Nirwana. Du bist ihm fern.«
Kein Wort war im Raum gefallen, und doch hatte Dr. Glossin den deutlichen Eindruck der Worte:
»Die Stunde ist gekommen.«
Laut sprach Atma die Worte. Das stockende Blut begann wieder zu fließen, und mit dem roten Strom entwich das Leben. Ein Seufzer, ein letztes Zucken. Glossin war in das dunkle Land gegangen, aus dem es keine Wiederkehr gibt.
Die Sonne war unter den Horizont gegangen, und die Schatten beginnender Dämmerung breiteten sich über die Straßen und Häuser Düsseldorfs aus. In dem alten, bequemen Lehnstuhl am Fenster saß der alte Termölen, die lange Pfeife zwischen den Lippen, und stieß in langen Pausen kräuselnde Wolken bläulichen Rauches in den Raum. Frau Luise ging ordnend im