Die Klinik am See Staffel 3 – Arztroman. Britta Winckler

Die Klinik am See Staffel 3 – Arztroman - Britta Winckler


Скачать книгу
Bernau war nachdenklich geworden. Hinter seiner Stirn arbeitete es. Unwillkürlich musste er dabei an seinen Besuch bei der Heimleiterin denken und natürlich auch an deren eifersüchtigen Freund, der die damalige Situation vollkommen verkannt hatte. War es möglich, dass der nun an eine engere Beziehung zwischen ihm, Werner Bernau, und Christine Häußler glaubte? Ausgeschlossen schien das nicht. War er etwa der Unbekannte gewesen, von dem der Kollege Göttler gestern Nacht auf dem Parkplatz belästigt worden war, in der Meinung, ihn, Dr. Bernau, vor sich zu haben, in dem er einen Nebenbuhler zu sehen vermeinte? Aber, sinnierte Dr. Bernau blitzschnell weiter, wenn es jener junge Mann mit dem Namen Hannes gewesen war, so hätte er doch nicht Dr. Göttler nach »ihr« gefragt.

      »Können Sie sich vorstellen, wer dieser Jemand sein könnte, mit dem mich der Unbekannte offensichtlich verwechselt hat?«, fragte Dr. Göttler in die Überlegungen Dr. Bernaus hinein. »So weit ich in diesen beiden Tagen meines Hierseins festgestellt habe, habe ich doch mit keinem eine solche Ähnlichkeit, die eine Verwechslung möglich macht.«

      Ähnlichkeit, dieses Wort brachte Dr. Bernau plötzlich auf einen Gedanken. Es gab eine Ähnlichkeit, eine sehr frappante sogar – nämlich die beiden Autos. Das war ihm gestern bei der Abfahrt des Kollegen Göttler zu Bewusstsein gekommen. Er fuhr den gleichen Wagentyp in der gleichen Farbe. Wenn er das nun in Betracht zog, so erschien es mit einem Mal gar nicht so unwahrscheinlich, dass jener eifersüchtige Hannes – sofern er das gestern gewesen war – von dem Besuch im Heim den Wagen in Erinnerung und gestern Nacht auf diesen Wagen gewartet hatte. Vielleicht in der Annahme, ihn, den vermeintlichen Rivalen, zusammen mit Christine Häußler zu erwischen.

      Ja, so kann es gewesen sein. So muss es gewesen sein, ging es Dr. Bernau durch den Sinn. Er war gemeint gewesen. In der nächsten Sekunde aber fragte er sich, ob denn dieser Hannes nicht wusste, dass seine Christine in der Klinik lag. Anscheinend nicht, gab er sich auch gleich selbst die Antwort.

      »Sie sind plötzlich so nachdenklich, Herr Kollege«, unterbrach Dr. Göttler die blitzartigen Gedanken Dr. Bernaus. »Haben Sie vielleicht eine Ahnung …?«

      »Nein, nein«, fuhr Dr. Bernau hoch, obwohl er jetzt ziemlich sicher war, dass seine Überlegungen richtig waren. Diese aber dem neuen Kollegen mitzuteilen, hielt er für überflüssig. Wozu auch wäre das gut gewesen? »Aber ich denke, dass sich dafür schon noch eine Erklärung finden lassen wird«, fügte er ausweichend hinzu. »Kommen wir doch jetzt lieber zu dem Thema, das mich mehr interessiert«, meinte er.

      »Sie haben recht.« Dr. Göttler holte aus seiner Tasche die Unterlagen hervor und breitete sie vor Dr. Bernau aus. »Ich habe also die Blutprobe gemeinsam mit meinem Vater untersucht«, erklärte er dem gespannt lauschenden Dr. Bernau. »Sehen Sie …« Er deutete auf eine Normalaufnahme des Blutbildes, das vom Elektronenmikroskop fotografiert worden war. »Was erkennen Sie?«

      Dr. Bernau neigte sich über die ­Aufnahme. »Was ich auch schon bei unserer Laboruntersuchung gesehen habe«, erwiderte er Sekunden später. »Die Lymphozyten scheinen verändert und sind symptomatisch für Leukämie.«

      »Keine Abweichungen?«

      »Tut mir leid – nein«, antwortete Dr. Bernau.

      »Nun, dann betrachten Sie bitte diese Aufnahme!«, forderte Dr. Göttler den Kollegen auf. »Sie ist eine Vergrößerung der ersten Aufnahme.«

      Wieder neigte sich Dr. Bernau vor. Plötzlich stieß er einen überraschten Ruf aus. »Herrgott, ja, jetzt sehe ich es auch.« Tatsächlich erkannte er nun in der enormen Vergrößerung die Abweichungen an den Lymphozyten. Verdutzt starrte er Dr. Göttler an. »Was bedeutet das?«, entfuhr es ihm.

      »Das bedeutet – ich zitiere jetzt meinen Vater – dass die Lymphozyten, die im Blutbild der Patientin vorhanden sind, fast haargenau so aussehen, wie bei einer akuten Leukämie.« Dr. Göttler blickte Dr. Bernau ernst an. »Das bedeutet weiter, dass die Patientin keineswegs an Leukämie erkrankt ist.«

      »Sondern?«, fragte Dr. Bernau gespannt.

      »Bei unserer Patientin handelt es sich wahrscheinlich um eine, wie mein alter Herr mir erklärte, sogenannte infektiöse Mononukleose.«

      Etwas verständnislos sah Dr. Bernau den Kollegen an.

      Der lächelte fein. »Das ist eine relativ harmlose Viruserkrankung«, klärte er Dr. Bernau auf. »Das hat mir mein Vater versichert. Eine Viruserkrankung also, die mit einer Woche absoluter Bettruhe und einigen Antibiotika ausgeheilt ist.«

      »Ich habe das Gefühl, dass ich noch einiges lernen muss«, brummte Dr. Bernau. »Ich verstehe nur nicht, wie Doktor Pröll und auch unser Labor auf Leukämie gekommen ist«, stieß er hervor.

      »Ganz einfach«, entgegnete Dr. Göttler. »Ich zitiere nochmals meinen alten Herrn: Die frappante Ähnlichkeit der Lymphozyten verleitet sehr leicht zu Verwechslungen. Das sind dann die Fälle, die in die Statistik als geheilte Leukämie eingehen. Diese Verwechslungen kommen bei den besten Ärzten vor, sofern sie eben nicht auf Blutkrankheiten besonders spezialisiert sind. Das aber ist nun einmal mein Vater«, fügte er hinzu.

      »Ich weiß, dass Ihr Vater einen Namen als Blutspezialist hat«, sagte Dr. Bernau. »Aber wie kamen Sie hinter diese falsche Diagnose?« Fragend blickte er Dr. Göttler an. »Sind Sie etwa auch Blutspezialist?«

      Dr. Göttler winkte lächelnd ab. »Bewahre, nein, das bin ich nicht«, erwiderte er. »Aber ich habe meinem Vater einiges abgesehen. Das ist alles. In der Klinik meines Vaters befinden sich einige ähnlich gelagerte Fälle.«

      In Dr. Bernaus Zügen arbeitete es. »Tja, dann werden wir doch gleich unsere Patientin aufklären und ihr die Angst vor dieser Krankheit nehmen«, meinte er. »Ich hoffe, dass sich dann auch ihre Lethargie legt. Hm, eine falsche Diagnose also«, wurde er ernst, »deretwegen sich eine junge Frau das Leben nehmen wollte.« Im gleichen Augenblick aber drängte sich ihm die Frage auf, ob das wirklich der alleinige Grund für Christine Häußlers Selbstmordversuch gewesen war. Er war sich dessen plötzlich nicht mehr so sicher und wurde das Gefühl nicht los, dass da noch etwas anderes mitgespielt hatte.

      »Halten Sie es nicht für richtiger, wenn wir zuerst den Chefarzt von der geänderten Diagnose unterrichten?«, fragte Dr. Göttler. »Es wäre mir sehr peinlich, wenn er mir meine Eigenmächtigkeit verübelte.«

      Dr. Bernau überlegte eine Sekunde. »Sie haben recht«, antwortete er dann. »Außerdem bin ich in dieser Eigenmächtigkeit ja auch drin. Suchen wir also den Chef auf«, entschied er.

      Dr. Lindau war gerade im Begriff, seine Assistentin anzuweisen, die erste Wartezimmerpatientin – es waren vier insgesamt – hereinzubitten, als Dr. Bernau und Dr. Göttler sein Sprechzimmer betraten. Fragend sah er die beiden Ärzte an. »Warten Sie noch einen Augenblick«, rief er Bettina Wendler zu und wandte sich dann direkt an Dr. Bernau. »Ich nehme an, dass es sich um etwas Wichtiges handelt, dass Sie um diese Zeit zu mir kommen«, sagte er.

      »Das kann man wohl sagen«, antwortete Dr. Bernau. »Es handelt sich um unsere Leukämiepatientin.«

      In Dr. Lindaus Augen zeigte sich Interesse. »Doch nicht etwa ein erneuter Versuch, sich …«

      »Nein, nein«, fiel Dr. Bernau dem Chefarzt ins Wort. »Kein erneuter Selbstmordversuch, wenn Sie das meinen.«

      »Frau Häußler hat gar keine Leukämie, wie wir bisher annahmen«, erklärte Dr. Bernau.

      »Wie kommen Sie denn zu dieser Annahme, Herr Bernau?«, fragte Dr. Lindau. »Ich meine, die Blutanalyse von Doktor Pröll und auch die von unserem Labor war doch deutlich genug. Sie haben sie doch selbst gesehen.«

      »Das ist richtig«, räumte Dr. Bernau ein. »Aber ich muss gestehen, dass ich mich geirrt habe.«

      »So? Auch Doktor Pröll?« Zweifelnd sah Dr. Lindau seine beiden ärztlichen Mitarbeiter an.

      »Es ist leider so«, bekräftigte Dr. Bernau.

      »Das müssen Sie mir jetzt schon genauer erklären«, stieß Dr. Lindau hervor. »Ihre Worte würden ja bedeuten, dass bei der Patientin eine falsche Diagnose vorliegt.«

      Dr.


Скачать книгу