Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann

Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann - Jakob Wassermann


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Das Kind rührte sich nicht. Es hatte die Blicke unverwandt auf den langen, hageren Menschen gerichtet, voll Furcht und zugleich voll Wildheit. Und die Nasenflügel zitterten leicht, und die kleinen schmalen Händchen klammerten sich fest an die Gardine und hinter diesem Bild voll Zauber lugte die matte Nacht herein, durchzittert und durchwogt von letzten Dämmerlichtern. Formes fragte sich beklommen, wo das Mädchen herkomme, denn er hatte es noch nicht gesehen unter den übrigen. Aber unter den Blicken des Kindes verwirrten sich seine Gedanken. Sein Herz öffnete sich plötzlich einer Bitterkeit, die ihm ganz neu war, und die ihn auf sein vergangenes Leben schauen ließ, wie auf eine einzige durchschlemmte Nacht. Eine brennende Sehnsucht nach Frieden und friedlicher Arbeit erfüllte ihn plötzlich und ein sonnenvolles Land öffnete sich plötzlich seiner Seele, und ein Haus stand davor mit weißgetünchten Mauern und grünen Fensterläden und ein Park, an dessen Wegen die Bäume wie Brautpaare standen und sich die Äste reichten. Doch dies währte kaum länger, als man braucht, es zu erzählen. Er wollte hingehen, um das Mädchen anzureden, aber siehe, seine Glieder waren wie gelähmt. Er wagte es nicht, das Kind anzureden. Darüber war er sich völlig klar, daß er zu feig war, den furchtsamen und doch unbefangenen, durchbohrenden Blicken des seltsamen Geschöpfes stand zu halten, und er ging, er flüchtete aus dem Zimmer. Draußen fragte er die Schwester nach dem Neuankömmling. »Aus der werden wir auch nicht klug,« erwiderte Cenci etwas hastig. »Das Kind spricht nicht, es lacht nicht, es spielt nicht, wenn sie alle spielen. Seine Mutter ist ein armes, armes Mädchen, das sich kümmerlich mit Nähen fristet. Kaum ein paar Pfennige kann sie für das Wurm zahlen.«

      Formes nahm Hut und Mantel. Erst als er die einsame Straße entlang ging, verlor sich langsam die drückende Wehmut in seinem Herzen. Aber am folgenden Tage suchte er den Anblick des Kindes zu vermeiden, wo es möglich war. Er schalt sich thöricht, er machte sich mit Heftigkeit und Erbitterung vor sich selbst lächerlich, aber er gedachte mit Schrecken an die Reihe jener nagenden Gefühle, die das erste Erblicken des blassen Mädchens in ihm hervorgerufen hatte. Einmal jedoch, spät war es am Abend, stand das Kind im Flur, eben als er sich zum Ausgehen rüstete. Es war barfüßig und mit einem dünnen, weißen, Kattunschlafröckchen angethan und schaute mit unverwandten Blicken in den Sternenhimmel, der über den Schneedächern, über den Schneefeldern, über den Gärten und über den Wäldern lag, wie eine schwarzblaue Glasglocke, die an vielen, vielen Punkten durchlöchert ist, so daß man das goldene Feuer durchblitzen sieht, welches im Himmel brennt. Da faßte Formes den Entschluß, das Kind anzureden. Er that es mit Widerwillen und mit Überwindung, aber ihm war, als könne er sich dadurch loskaufen von der fremden, eindringlichen, beängstigenden Macht, welche dies Kind auf ihn ausübte.

      »Wie heißt du denn?« fragte er, zu dem Mädchen tretend, und sah mit einem seltsamen Gemisch von Geringschätzung und Scham auf dessen ruhig zum Nacken strömendes Haupthaar.

      »Ruth heiße ich,« erwiderte die Kleine mit einer vornehmen Biegung des Köpfchens. »Ruth« wiederholte sie scheu, als könne man ihren Namen nicht gleich aufs erste Mal verstehen. Dann sah sie ihm wieder mit jenem vollen, bangen Blick in die Augen, der ihn zwang, sich abzuwenden. Wenn nur jenes Grübeln von mir ginge, dachte Formes. Und von neuem kam das Bild: blaßwangig mit feuchten, schweren Augen, in denen der suchende Blick lag und von Verlassenheit und Freudlosigkeit redete. Es war, wie wenn Stimmen des Himmels sprächen; es war auch, wie wenn in tiefer Nacht, gleich nachdem der Sturm sich zur Ruhe gelegt hat, eine sanfte und gleichmäßige Musik aus geheimnisvollen Räumen fließt und sie wogt und schwindet, während das Herz klopft und die Lippen ein verlangendes Wort murmeln. Und wir können wähnen, daß auf unserm Haupt eine goldene Krone säße und langsam hinschmölze vor den Strahlen des Glücks und der Erwartung. Und ein fremder Stolz umgiebt die Wangen und den Mund. Und die Nacht ist so reich, und die Sterne wandeln so vorsichtig dahin, um die Sehnsucht nicht geringer werden zu lassen. Und in den Flammen des Ofens steigen feurige Paläste auf und lassen uns wünschen: so möcht’ ich wohnen.

      Alles dies empfand Formes und noch mehr.

      In der nächsten Nacht ereignete es sich, daß er durch den leisen Druck einer Kinderhand aus dem Schlafe geweckt wurde. Ruth stand an seinem Bett. Wie das Kind zu dieser tiefen Nachtstunde hereingefunden, blieb ihm verborgen. In wenigen Sekunden war all seine Schlaftrunkenheit verscheucht, und mit Schrecken und Staunen betrachtete er das Kind in dem ungewissen Dämmerlicht der halbhellen Winternacht.

      »Du mußt uns helfen; willst du?« flüsterte Ruth ganz leise und schauerte zusammen. »Schau, die Mutter weint oft die ganze Nacht, wenn sie glaubt, daß ich schlafe. Weißt du, warum sie weint? Nicht? Dann mußt du hingehen und mußt sie fragen.«

      Formes fühlte etwas zerfließen in seinem Herzen und er preßte die Lippen zusammen. »Du frierst ja, Kind,« sagte er mit rauher Stimme, nahm das Mädchen und zog es in sein Bett.

      »Bist du auch brav? Betest du auch?« fragte Ruth, als sie zufrieden das Köpfchen in den Kissen zurecht gelegt hatte.

      »Nein.«

      »Nein? Wirklich? Niemals betest du?«

      »Doch, bisweilen ...«

      »Und warum hast du denn so einen langen Bart? Wie häßlich das ist, der kratzt ja, den mußt du dir wegthun lassen. Willst du? O, was bist du für ein schwarzer, schwarzer Mann, du!«

      Und sie bedeckte das Gesicht mit den Händen. Formes lachte.

      »Gelt, du läßt deinen Bart ein wenig schneiden? Dann hab’ ich dich gern. Und versprich mir auch, daß du der Mutter helfen willst. Du weißt doch wo sie wohnt? Also paß auf: nämlich in der Bauerngasse im dritten Stock.«

      »Warum hab’ ich denn keinen Vater wie die anderen Kinder?« fragte die kleine Ruth nach langem Stillschweigen. Und als Formes nicht antwortete, weil wieder jene beengende und heiße Wehmut über ihn hereinbrach, flüsterte sie weiter: »Sie fragen mich immer alle, wie heißt denn dein Vater?... aber ich weiß nicht, ich weiß gar nicht. Das ist doch dumm, gelt? Was ist er denn nur? Vielleicht hat er mich nicht lieb, du? Sag doch.«

      »Ja, ich weiß auch nicht,« erwiderte Formes, und er fand es gar schwer, Worte zu finden für das Kind.

      Und nach langem Nachdenken begann das Mädchen hastig, als dürfe es diese Frage nicht vergessen. »Du, was ist weiter, Amerika oder die Welt?«

      Der große Student konnte nicht darauf antworten. Es war eine fremde Sprache, die er vernahm. Ungewohnter Gefühle voll, schaute er in die dunkle Nacht hinein, die lautlos auf der Erde lag und die sich unermeßlich hinzudehnen schien über alle Länder und über alle Sterne. Er hörte wohl, wie das Kind weiter plauderte, und nicht zur Ruhe darüber kommen konnte, wo der liebe Gott wohne und ob er Flügel habe wie die Engel und ob das Paradies schöner sei wie der Stadtgarten hinter der Burg, aber er fühlte sich arm dieser kindlichen Welt gegenüber und er sah immer nur auf die Häusermauern hinaus, den Kopf auf den Arm gestützt. Er sah gleichsam die Stille draußen schleichen, wie sie mit wehenden Tüchern alle Dinge umwand, und er sah den dunklen Schlaf mit müßigem Schritt durch die Gassen schleichen. Endlich warf er auch seine Körner in die Augen der kleinen Ruth, während Formes bis zum Anbruch des Tages wach blieb.

      Am folgenden Nachmittag ließ er sich die Hälfte des Bartes abnehmen und ging dann in die Bauerngasse, nachdem ihm Cenci auch die Nummer des Hauses angegeben hatte. Er vermochte sich zwar durchaus nicht vorzustellen, wie er helfen könnte; denn Geld besaß er nicht. Aber er ging von einer fremden Macht befehligt, und ein wunderbares Vertrauen zu dieser Macht erfüllte ihn.

      Als er die drei überaus steilen Treppen erklommen und eine zerbrechliche Thür geöffnet hatte, sah er ein junges, schmächtiges Weib beim Fenster sitzen, das sich bei seinem Eintritt erhob. Aber sie sah ihn kaum, als sie laut aufschrie, und es war, als ob sie seinen Namen suchte. Er zitterte. Das junge Weib blickte ihn lange Zeit an, mit Lippen, die gleichsam durstig waren, zu reden, aber sie brachte nicht eine Silbe hervor. Formes fühlte, daß er kalt wurde an Händen und Füßen. Nur unvollkommen konnte er denken, und er sah das Gesicht dieser Frau, wie es jünger war und schöner; er sah es wie sie heraufstieg aus den Nebeln vergangener Jahre mit all der jugendlichen Anmut des Weibes, das eben die Schwelle der Kindheit verläßt. Nur flüchtige Tage waren es gewesen, Tage der Leidenschaft und lange, lange hatte Formes selbst den Namen des Mädchens vergessen,


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