Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann
des tollen Renners Leben zu halten verstünde. Und das Voneinandergehen kam still und natürlich, wie bei zweien, die sich nun entbehren können, nachdem sie gemeinsam das Mahl der Freude genossen haben. Und das eine versank in Not und das andere versank in Not und auf Flügelfüßen enteilte die Zeit, leer an Glück und berstend von gespenstigen Schicksalen. Sie ist an meinem Herzen gelegen und Ruth ist mein Kind, dachte Formes und eine solche süße Befriedigung floß in seine Brust, daß sich seine Augen mit hellen Thränen füllten. Wie der Mondschein im Herbst an den Fenstern zittert, so durchirrte eine scheue Glut sein ganzes Wesen und warf einen zauberischen Schein auf den Weg, der vor ihm lag. Er wußte nicht, was er zu dem jungen Weib sagte, er sah nur, daß es ihr plötzlich klar geworden, wohin sie ihr Kind gebracht, sah, wie sich ihr Gesicht in Angst, Abscheu und Reue verzog, und da wandte er sich zum Gehen. Nicht, als ob er zu verstockt gewesen wäre, ihr die Hand zur Versöhnung zu reichen, aber er erachtete dies nicht für wesentlich; ganz Anderes erfüllte ihn nun und das Kind, das er gewonnen, wollte er schnell beglücken mit allem Glück der Liebe. Darum war er gegangen.
Das arme Weib aber raffte ein Tuch und ihren Mantel aus einer Ecke hervor und stürzte fort: ihr war, als sei Ruth in Gefahr und als müsse sie das Kind noch in dieser Stunde sehen und zurückbringen in ihr dürftiges Heim, damit es nicht verdorben werde durch den Blick des betrügerischen Mannes, dem sie sich einst berechnungslos ergeben hatte.
Formes wanderte weit hinaus in die Felder, wo es sehr einsam war. Ein bleiern schwerer Himmel hing droben und der niedere Flug der Raben trieb Staub aus den Äckern empor. Und hinten lag die Stadt ausgebreitet, und die roten Ziegeldächer schoben sich ineinander wie die Schuppen eines Reptils, und die Häuser stiegen an bis gegen die Burg hinauf, dem ehrwürdigen Heim heldenhafter Kaiser. Niemals hatte diesen hagern Studenten eine solche Fülle weicher und trauriger Empfindungen beherrscht. Bereit zur Hingebung an Gutes und Edles, sah er einen Weg in die Zukunft vor sich, den er wandeln wollte mit herber Entschlossenheit. Sich loslösen von den Genossen und allein den stillen Pfad zur Kraft wandeln, das beschloß er. Die lockere Weisheit des fatalistischen Beharrens verachten zu lernen und sich mit strenger Arbeit ein Bett zum guten Schlaf erkaufen, das Leben der Mühe wert zu leben machen, hingehen und hoffen und allen Kleingeist zerbrechen wie dürres Rohr, das war ein Ziel. Er fühlte, daß es gut würde, wenn er jetzt gehorchte und die beglückende Frohheit und Kampfwilligkeit nicht ungenutzt vergehen ließ. Und das alles hatte ein armes Kind vollbracht, das an ihn glaubte und dem er näher stand, als irgend ein Mann der Welt. Er sagte sich, daß etwas Herrliches und Erhabenes darin liegt, ein Wesen zu lieben, welches vom eigenen Fleische stammt, ein Wesen, das lachen kann und weinen kann und beten kann, und das Schönheit besitzt, die ihm zugeflossen reichlich und wundervoll, wie aus einem unsichtbaren Gnadenquell.
Er kehrte nach der Stadt zurück und hatte indes einen feinen, glücklichen Plan ersonnen. Er suchte einen jungen Freund auf und bat so ernst und eindringlich, wie er nie zuvor gethan, um ein Darlehn von zehn Mark. Im Besitz des Verlangten, betrat er einen großen Spielwarenbazar, wo er eine überaus prächtige Puppe kaufte. Sie hatte echtes Haar von aschblonder Färbung und besaß einen edlen, damenhaften Gesichtsausdruck. Es war eine Puppe, die Persönlichkeit besaß. Ihre Bewegungen waren weder eckig noch kreischten die Gelenke dabei, sondern sie hatte die einschmeichelnde Grazie einer Südländerin, und wenn sie »Mama« sagte, so klang das, wie wenn ein wirkliches Mädchen sagt: Ich liebe dich. Ihre Kleidung war so kostbar, daß ein tartarischer Chan vor ihr sich hätte schämen müssen. Mit diesem köstlichen Schatz also bepackt, wanderte Formes dem nördlichen Stadtteil zu. Sein Herz klopfte vor ungestümer Bewegung und zum erstenmal empfand er, darüber erstaunend, die Freude des Gebens.
Es war schon acht Uhr, als er zu Hause anlangte. Freilich waren die Kinder jetzt schon zu Bett gegangen, aber er wollte Ruth wieder wecken. Ohne der Schwester oder der Mutter zu begegnen, schlich er zum Schlafzimmer der Sieben. Er zündete eine Kerze an und bemerkte, daß seine Hände dabei zitterten. Dann suchte er die Bettchen ab; immer ungeduldiger ging er von einem zum andern, und er wußte nicht, wie ihm geschah, als er das Mädchen nicht fand. Es waren vier Betten und eins stand leer. In den andern lagen je zwei Kinder. Er suchte noch einmal, er leuchtete jedem der Schläfer ins Gesicht, aber die kleine Ruth fand er nicht. Da lächelte er plötzlich, und dieses Lächeln war kindlich und voll Heiterkeit. Während der Dauer dieses schönen Lächelns war er ein völlig anderer Mensch. Er ging mit der Kerze in der Hand in sein eigenes Zimmer; denn er war fest überzeugt, das Kind habe sich heimlich dort drüben eingenistet, um bei ihm bleiben zu können. Im Korridor jedoch traf ihn seine Schwester Cenci, die ihn etwas erstaunt ansah, als sie ihn mit dem Licht in der einen und dem Packet in der andern Hand erblickte. »Du, Hans,« sagte sie, als sie sich schon abgewandt hatte, »die kleine Ruth ist heute plötzlich geholt worden. Ihre Mutter war da und war sehr aufgeregt. Sie hat uns das Geld auf den Tisch geworfen und ist dann mit dem Kinde gegangen. Was ist dir denn, Hans? Du bist ja so bleich?« Mit langsamem Kopfschütteln wandte sie sich ab und zum ersten Male fühlte sie sich durch irgend etwas dem Bruder nahe, obwohl ihr keineswegs der Grund davon klar wurde. Stets lag Finsternis und Sorge über diesem Haus und die Menschen darin waren froh, wenn sie mit ihrem Tag zu Ende waren und sich das bischen Schlaf ergattert hatten.
Formes stand noch geraume Zeit. Ein dumpfer Laut entwand sich seinen Lippen und mit heißem Ingrimm fühlte er, daß etwas Herrliches für ihn verloren gegangen sei in dieser Stunde. Dann ging er hinab auf die Straße und zertrümmerte die kostbare Puppe am Rinnstein. Damit zertrümmerte er auch das lockende Gebäude der süßen und hoffnungsvollen Träume. Schwer und grau zogen die Wolken der kommenden Jahre heran. Wie lichtlos war all dies Treiben, all dies Hangen zwischen Hoffnung und Verbitterung! Es geht einer einen blühenden Wiesenweg entlang und mühelos vermeint er das köstliche Dach seiner Heimat zu erreichen. Aber da öffnet sich plötzlich eine weite Schlucht vor seinem stockenden Fuß, und er kniet verzweifelt auf einen harten Fels nieder, und mit geringschätzigem Lächeln giebt er es auf, das Hoffen und das Warten.
Formes ging zum Thor und sah gegen den hellen Mond empor. Schwebte nicht unter den Himmeln ein Kind mit blassen Wangen und streckte die Arme nach ihm aus?
Der niegeküßte Mund
Erstes Kapitel
Schon von ferne sieht man den gelben, alten, fünfeckigen Turm mit seinem dunklen Ziegeldach, das einer Nachthaube gleicht. Er schließt eine breite, stille Straße mit seltsam regelmäßigen Häusern ab, die sich wie Zierrat ausnehmen. Mit seinem Torbogen scheint er auf den gebrechlichen Schultern zweier Häuser zu stehen; das eine ist die Wirtschaft zum lustigen Pfeifer, das andere gehört dem Doktor