Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann
Schönheit seiner Geliebten so hingerissen, daß er nach dem ersten Stelldichein, das sie ihm bewilligt hatte, in allem Ernst erklärte, er werde sich die Augen ausstechen, wie es die Pilger von Mekka bisweilen tun, wenn sie das Grabmal des Propheten gesehen haben, um ihre Blicke von nun ab vor Entweihung zu schützen.«
»Das muß ein Bramarbas gewesen sein«, behauptete Borsati; »ich glaube ihm nicht eine Silbe.«
»Warum?« versetzte Cajetan. »Wir können uns kaum eine Vorstellung von der Energie und Glut machen, mit denen man sich damals einer Leidenschaft hingab.«
Borsati zuckte die Achseln. »Mag sein, daß er’s getan hätte«, sagte er, »was wir erdenken können, kann auch geschehn. Ich wehre mich nur dagegen, daß man aus unserer Zeit die großen Empfindungen hinausredet, um eine nur durch die Ferne reizvolle Vergangenheit mit ihnen zu schmücken. Allerdings sehen die Leidenschaften, deren Zeugen wir selbst werden, anders aus als die mit dem Galeriestaub der Überlieferung, und ihre Verfeinerung oder Verdünnung auf der einen Seite bedingt meist ein finsteres und brutales Gegenspiel.«
Zum Beweis erzählte er folgende Geschichte.
»Vor zwei Jahren war ich auf einem mährischen Gut zu Gast. Man kannte mich in der nahgelegenen Stadt, und weil der ansässige Arzt über Land gefahren war, wurde ich eines Abends, ziemlich spät, in das Wirtshaus gerufen, wo ein junger Mann lag, der sich durch einen Pistolenschuß in die Lunge tödlich verletzt hatte. Der Fall war hoffnungslos, Linderung der Schmerzen war alles, was zu tun übrig blieb. Am folgenden Morgen saß ich lange an seinem Bett, er hatte Vertrauen zu mir gefaßt und enthüllte mir, was ihn zu der Tat getrieben. Er war Student, fünfundzwanzig Jahre alt, Sohn vermögender Eltern. Bis zu seinem einundzwanzigsten Jahr hatte er, ich gebrauche seine eigenen Worte, gelebt wie ein Tier; leichtsinnig, verschwenderisch und in gewissenloser Verprassung von Zeit und Kräften. Sein Gemüt, ursprünglich zarter Regungen durchaus fähig, war verhärtet und abgerieben durch den beständigen Umgang mit Dirnen. Die Atmosphäre gemeiner Kneipen war ihm Bedürfnis und die Zudringlichkeit käuflicher Weiber Gewohnheit geworden. Er wußte kaum, wie anständige Frauen sprechen, und in unreifer Überhebung sah er in diesem Treiben die Krone der Freiheit. Da geschah es, daß er auf einer Ferienreise in ein vielbesuchtes Hotel kam und auf dem Schreibtisch seines Zimmers einen Brief fand, der unter Löschblättern lag, unvollendet und sicher dort vergessen worden war. Er gab mir den Brief zu lesen, den er wie einen Talisman von der Stunde ab immer bei sich getragen, der sein Leben verändert und zuletzt noch seinen Tod verschuldet hatte. Wie der Inhalt zu schließen erlaubte, war das Schreiben von einem jungen Mädchen und an einen Freund gerichtet. Man kann sich etwas Ergreifenderes nicht denken. Furcht vor Armut und Schande, vor völliger Verlassenheit, Beteuerung vergeblicher Anstrengungen, Züge menschlicher Habsucht, Härte und Niedertracht, entdeckt von einem Wesen, das gläubig war und das noch immer, obwohl mit schwindendem Gefühl, auf eine wohlmeinende Vorsehung baute, das war der Text in dürren Worten, die nichts von der tiefen und natürlichen Beredsamkeit eines verzweifelnden Herzens ahnen lassen. Die Frage nach der Unbekannten war umsonst, sie war nicht einmal gemeldet worden, die Bediensteten des Hauses konnten ihm keinerlei Auskunft geben und wiesen auf den großen Verkehr nächtigender Gäste hin. Anhaltspunkte über Namen und Wohnort enthielt der Brief nicht, und dem jungen Mann war zumut, als hätte er eine Stimme von einem unerreichbaren Stern vernommen. Es ergriff ihn eine brennende Unruhe, und durch Sehnsucht wurde er geradezu entnervt. Daß der Brief zu ihm gelangt war, erschien ihm als Fügung und Aufforderung zugleich; daß es eine Frau in der Welt gab, die so beschaffen war, so zu empfinden, so zu leiden vermochte, war ihm neu und erschütterte die Fundamente seines Lebens. Er studierte den Brief wie ein Egyptolog einen Papyrus, suchte Hindeutungen auf einen bestimmten Dialekt, auf eine bestimmte Sphäre der Existenz. Jede Silbe, jeder Federzug wurde ihm allmählich so vertraut, daß sich ein Charakterbild der Schreiberin immer fester gestaltete, daß er ein Antlitz sah, die Geberde, das Auge, daß er die Stimme zu hören glaubte, eine Stimme, die ihn ohne Unterlaß rief. Er reiste von einer Stadt in die andere, wanderte tagelang durch Straßen, um Gesichter von Frauen und Mädchen zu finden, die dem erträumten Gesicht der Unbekannten ähnlich sein konnten, ging zu Wahrsagerinnen und Kartenlegerinnen, veröffentlichte Inserate in den Zeitungen und entfremdete sich seinen Freunden, seinen Eltern, seiner Heimat, seinem Beruf. In fatalistischem Wahn sagte er sich: unter den Millionen, die diesen Teil der Erde bevölkern, lebt sie; es ist meine Bestimmung, sie zu treffen; warum sollte ich nicht, wenn ich alle meine Sinne in der Begierde sammle? Unter den Tausenden, an denen ich täglich vorübergehe, weiß vielleicht einer von ihr; mein Wille muß so stark, mein Gefühl so elementar, mein Instinkt so untrüglich werden, daß ich den einen spüre und mir durch die Millionen einen Weg zu ihr bahne; mißlingt es, so bin ich ein Zwitterding und nicht wert, geboren zu sein. Im Verlauf der Jahre wurde er schwermütig, auch ermattete wohl das Ungestüm seines Verlangens; es läßt sich ja denken, daß sich die Natur einer so beständigen Anspannung der Seelenkräfte widersetzt. Nur sein Wandertrieb wurde nicht geringer, und so kam er denn auf einer Fahrt vom Norden her in jenen mährischen Ort, wo er den Zug verließ, weil ihm plötzlich vor der abendlichen Ankunft in der großen Stadt, vielem Licht, vielem Lärm und vielen Menschen graute. Während er traurig und müde durch die dunklen Gassen schlich, gewahrte er am Fenster eines ziemlich abgelegenen Hauses ein altes Weib, das den Sims belagert hielt und ihn einzutreten bat. Er folgte willenlos und ohne Bedacht, als sei er an dem Punkt seines Lebenskreises angelangt, von dem er einst ausgegangen. In der Stube sah er sich einigen Mädchen gegenüber, denen er ohne Anteil beim Wein Gesellschaft leistete, und unter denen eine durch stumme Lockung ihn seiner Apathie zu entreißen vermochte, so daß er mit ihr ging. Es war alles so still in mir, sagte er, und als ich die elende Treppe hinaufstieg, war es, wie wenn dies nur eine Sinnestäuschung sei und ich in Wirklichkeit hinuntergezogen würde, immer tiefer bis ans letzte Ende der Welt. Als er das Mädchen bezahlen wollte, entfiel seiner Ledertasche der Brief; ein totes Ding, das leben und sprechen wollte, das den Augenblick der Entscheidung abgewartet hatte wie ein geheimnisvoller Richter. Das Mädchen bückt sich, nimmt den Brief in die Hand, wirft einen neugierigen Blick darauf, stutzt, wiederholt den Blick, schaut den jungen Mann an, eine Frage drängt sich auf ihre Lippen, ein Schatten auf ihre Stirn, er will ihr den Brief entreißen, da erweckt ihr Benehmen seine Aufmerksamkeit, er wird gleichsam wach, erkundigt sich in überstürzten Worten, ob sie die Schrift kenne, sie entfaltet das Papier, liest, Erinnerung überzittert ihre Stirn, durch Schminke, Elend und den Aufputz des Lasters hindurch zuckt eine Flamme von Bewußtsein, sie stürzt auf die Kniee, lachend ringt sie die Arme, und die ganze Unwiederbringlichkeit eines reinen Daseins schreit aus einem zertrümmerten und verfaulten als Gelächter empor. Nur noch vier Worte: Du bist’s? Ich bin’s! Dann eilte der junge Mensch hinweg und kurz darauf fiel der tötende Schuß.«
Die Zuhörer blickten vor sich nieder. Nach einer Weile sagte Cajetan: »Schade, daß ich den Brief auf Treu und Glauben hinnehmen muß. Könnt’ ich ihn lesen oder hören, so würde mir der junge Mensch verständlicher werden. Es hat sein Mißliches, lieber Rudolf, bei so wichtigen Dokumenten auf den Kredit zu bauen, den man genießt. Freilich bleibt ja die Verkettung der Umstände noch immer erstaunlich genug –«
»Es will mir nur nicht in den Sinn«, unterbrach ihn Franziska, »daß eine Person, die einen derartigen Brief zu schreiben imstande ist, in drei oder vier Jahren so tief sinken kann.«
»Drei oder vier Jahre Not?« rief Hadwiger. »Das verwandelt, Franzi, das verwandelt! Ich habe in London eine Frau gekannt, die ihren Mann, ihre Söhne und ihren Reichtum verloren hatte. Zu Anfang eines Jahres hatte sie in einem der Paläste am Trafalgar-Square gewohnt, im Herbst desselben Jahres wurde sie in einer unterirdischen Morphiumhöhle, einer schauerlichen Katakombe des Lasters, erstochen.«
»Ja, was ist dann das, was man Charakter nennt?« fragte Franziska kopfschüttelnd.
»Die Tugend der Ungeprüften«, versetzte Hadwiger schroff.
»Nun, so in Bausch und Bogen möcht ich diesen Ausspruch doch nicht gelten lassen«, fiel Borsati vermittelnd ein. »Es gibt –«
»Was? Eine Tugend? Gibt es eine Tugend, wenn man hungert? In den großen Städten nicht. In den Romanen vielleicht. Not bricht Eisen, heißt es. Aber sie bricht auch, und viel bälder noch, das Herz und den Verstand.«
»Und doch gibt es Seelen, die sich