Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann
Wenn er vor einem Haus eine Karosse warten sah, verweilte er, bis der Herr oder die Dame erschien, und zu allen Tageszeiten trieb er sich in der Nähe der großen Hotels herum, auch vor den Museen und Kirchen, um die Fremden zu betrachten, die er mit erfundenen Namen und Titeln belegte, keineswegs um zu prahlen, denn es gab keinen Menschen, den er jemals eines vertraulichen Wortes würdigte, sondern um sich in eingebildete Beziehungen zu einer Welt zu setzen, nach der er das glühendste Verlangen hegte. Ob es nun die Säle des Vatikans oder die königlichen Gärten oder die nächtlich erleuchteten Fenster eines Palastes am Corso oder die Ringe an der Hand einer schönen Frau oder die Orden auf der Rockbrust eines Generals waren, stets empfand er beim Anblick von Dingen, die an Macht, Herrschaft und Reichtum erinnerten, den Groll eines Menschen, der um den rechtmäßigen Genuß seines Eigentums betrogen wird. Er hatte keinen Freund, an allen Männern stieß ihn die Genügsamkeit und Ergebenheit ab; keine Geliebte, da ihm die Mädchen aus dem Volk durch Tracht und Wesen verächtlich waren und er sich in den verwegensten Träumen gefiel, in denen er nur mit Gräfinnen und Herzoginnen, und zwar in einer grausamen, kalten und stolzen Weise verkehrte. Er hatte die Manie, bunte Stoffe, Hutbänder, Photographieen von Leuten der großen Gesellschaft, ferner Visitenkarten mit erlauchten Namen, Spitzenreste, Stiche aus Modenblättern und einzelne Handschuhe, die er vor einem Ballsaal oder einem Bazar aufgelesen, zu sammeln, und durch diese Schwäche verwandelte er das billige Mietszimmer, das er bewohnte, in eine Schaubude, einen Triumph der Abgeschmacktheit.
Die Sumpföde der Maremmen, wohin er sich im Alter von dreißig Jahren versetzt sah, raubte ihm die Möglichkeit, seine bisherigen Neigungen zu befriedigen, und drängte den ohnehin finstern und reizbaren Mann so tief in sich selbst zurück, daß er auch in seiner dienstfreien Zeit verschmähte, die traurige Wüstenei zu verlassen. Er durchstreifte die menschenleere Gegend, lag stundenlang am Meeresufer und heftete die Blicke, die voll von unerforschlichen Wünschen und Vorsätzen waren, ins Weite hinaus. Abends beschäftigte er sich mit seiner seltsamen Sammlung, breitete die Stücke auf einen Tisch vor sich aus und betrachtete die nichtigen Gegenstände mit der Freude eines Geizhalses, der vor seinen Schätzen und Wertpapieren sitzt.
Es verkehrt auf dieser Bahnlinie ein Luxuszug, der eine Verbindung zwischen Paris und Neapel herstellt und am Morgen nach Süden, am Abend nach Norden fährt. Eines Tages ereignete es sich, daß ein Streckenwärter diesem Zug das Haltesignal gab; sein Weib hatte in der Nacht vorher ein Kind geboren, lag in einem tödlichen Fieber, und da meilenweit im Umkreis keine ärztliche Hilfe zu haben war und der Posten behütet werden mußte, so griff er zu dem verzweifelten Mittel, den Zug zum Stehen zu bringen, weil er hoffte, daß unter den Passagieren ein Arzt sein würde. Aber das Wagnis war umsonst, die Fahrgäste durften nicht gestört werden, der Beunruhigung war ohnehin schon zu viel, und es schien ein Glück, daß der Zugführer eine menschliche Regung verspürte und es dabei bewendet sein ließ, den Vorfall schriftlich an den Stationschef Varga zu melden, wobei er den Wächter, dessen Frau nach einigen Stunden starb, am meisten geschont zu haben wähnte. Dies war ein Irrtum. Antonio Varga raste, und seiner Darstellung wie seiner Forderung bei der Behörde war es zuzuschreiben, daß der Unglückliche binnen kurzer Frist von Haus und Brotstelle gejagt wurde.
Man hatte natürlich angenommen, daß er den Frevel eines pflichtvergessenen Beamten gestraft wissen wollte. Solches konnte er glauben machen, aber der geheime und schreckliche Grund seines Wütens war, daß der Wächter etwas getan, wozu er selbst sich täglich und von Tag zu Tag unwiderstehlicher versucht fühlte. Der Luxuszug hielt nicht bei der kleinen Station; zur vorgezeichneten Minute tauchte er fern in der Ebene auf, die Schienen knatterten, der Boden zitterte, donnernd fuhr er in einem Luftwirbel daher und vorüber, um alsbald im Dunst der Ferne zu verschwinden. Erregender war es am Abend; die gleißend hellen Fenster durchblitzten für die Dauer von fünf Sekunden den einsamen Perron und ließen die Öllampen in den Laternen doppelt jämmerlich erscheinen; schwarze Menschenkörper bewegten sich geisterhaft, träg und schnell zugleich, hinter den Scheiben, und Antonio Varga dachte an Perlenketten und Geschmeide, die sie trugen, an die rauschenden Gewänder in ihren Koffern, an ihre hochmütigen Blicke, ihre gepflegten Hände, an ihre Feste, ihre Liebeleien, ihre Spiele, ihre geschmückten Häuser, und die Erbitterung über diese glänzende und satte Welt, die so unhemmbar an ihm vorüberrollte, ihn so durstig stehen ließ, wuchs mit solcher Gewalt, daß er den Gedanken einer Rache nicht mehr verdrängen konnte. Gepeinigt von seinem düstern Trieb sagte er sich: kann ich nicht zu euch gelangen, so will ich euch zu mir zwingen, und wie Knechte und Bettler sollt ihr vor mir liegen. Eines Abends war der Güterzug aus Genua verspätet eingetroffen und mußte, um dem Luxuszug die Fahrt freizugeben, auf ein totes Geleise rangiert werden. Bevor die Verschiebung beendet war, kam der andere Zug in Sicht. Nun sollte das Haltesignal gestellt werden, und da die Hilfsbeamten auf dem Bahnkörper beschäftigt waren, eilte Antonio Varga in das Offizio. Anstatt so schnell zu handeln wie es die Situation gebot, zögerte er am Apparat. Er hob den Arm und ließ ihn wieder sinken; er ward sich dessen bewußt, wie viel Leben und Schicksal an der einzigen Bewegung seiner Hand hing, und eine nie empfundene aber vorgeahnte Lust erfüllte ihn. Sein Herz klopfte reiner, sein Blut floß kühler, und als das unheimlich krachende Getöse der aufeinanderstürzenden Wagen erschallte, verließ er den Raum, schritt durch die fliehenden und wehklagenden Bediensteten und stand alsbald mit verschränkten Armen neben dem ungeheuren Trümmerplatz. Emporprasselnde Flammen beleuchteten die letzten Zuckungen derselben Menschen, deren Leben er Jahr um Jahr mit seinem Haß und seiner vergeblichen Begierde verfolgt hatte. Während er den Anblick genoß wie ein Feldherr die Ruinen einer erstürmten Festung und drüben beim Stationshaus Arbeiter und Beamte noch wie gelähmt verharrten, traf eine rührende Stimme sein Ohr. Den Lauten nachgehend, gewahrte er nach wenigen Schritten ein Mädchen von außerordentlicher Schönheit, das Gesicht von jener Lieblichkeit des Schnitts und jener Zartheit der Färbung, wie man es fast nur bei den Engländerinnen findet; ihr Leib war zwischen Metall- und Holzteilen so eingepreßt, daß der keuchende Atem mit Blut vermischt aus dem Munde drang und die schönen Augen bald gebrochen sein mußten. Mit einer Geste trunkener Angst, in einem holden Wahnsinn des Schmerzes streckte das Mädchen die Arme aus, als ob es sagen wollte: umfange mich, halte mich, gib mir, was meine Jugend entbehren mußte; in ihrem Blick war eine Glut, die die strengen Züge und die adeligen Lippen Lügen strafte und dem Tode selbst noch ein kurzes Stück Leben abzuringen schien. Antonio Varga schauderte, und indem er das Haupt der Sterbenden sanft auf seine Kniee bettete, mehr vermochte er zu ihrer Erleichterung nicht zu tun, ergriff ihn zum erstenmal in seinem Leben ein Bedürfnis nach dem andern Menschen, nach Hingabe, eine Ahnung von Liebe. Als das Mädchen tot war, entzog er sich dem Gewühl der um Hilfe und Rettung bemühten Leute, ging in seine Stube, verfaßte eine Beichte seiner Untat, ein ziemlich pedantisches Schriftstück, und nachdem er die Rechnung mit der Menschheit in gewohnter Sorgfalt aufgestellt hatte, beglich er sie sogleich und erhängte sich. Das macht die großen Verbrecher am Ende doch klein, daß sie unter ihren Handlungen zusammenbrechen, nicht bloß, weil sie das irdische Gericht fürchten, sondern weil ihr Geist zu schwächlich ist, um das Antlitz einer Wirklichkeit zu ertragen und ihre Seele zu verkümmert, um einer Verantwortung gewachsen zu sein.
»Ich möchte von einem solchen Scheusal am liebsten nichts hören«, sagte Franziska; »wie ungerecht geht es doch zu in der Welt! Der arme Streckenwächter darf nicht den Arzt finden, der ihm sein kleines häusliches Glück erhalten könnte, und dieser Unhold zaubert durch ein Werk des Grauens ein Geschöpf an seine Seite, dessen Zärtlichkeit zwischen Tod und Leben mich beinah weinen macht, weil soviel wahres Frauentum darin liegt.«
»Und ein tiefer Sinn«, fügte Lamberg hinzu; »Luzifer wird durch den Engel erlöst.«
»Man erkennt aus alledem, wie verworren angelegt und wie unergründlich die Charaktere sind, die man in oberflächlichem Sinn als einfache bezeichnet«, bemerkte Borsati. »Der sogenannte einfache Mensch steht dem Schicksal am nächsten, ist ihm wie auch den verborgenen Kräften und Instinkten seiner eigenen Natur am hilflosesten verfallen. Der höher geartete spielt schon, kombiniert, ist vorbereitet durch Erkenntnis oder ermüdet durch seine Fähigkeit zum Miterleben. Er sammelt die Erfahrungen derer, die eingreifen und zermalmt werden.«
»Gerade im kleinen Beamten stecken oft die niedrigsten und gefährlichsten Leidenschaften«, versetzte Cajetan; »welche Verworfenheit zeigt sich oft an einem simplen Dorfschullehrer, was für eine berechnete Tücke an manchem Gerichtsfunktionär auf dem Land! Stellen wir uns vor, daß