Gesammelte Werke. Eufemia von Adlersfeld-Ballestrem
fügte sie nun gleichfalls flüsternd hinzu. »Aber, je mehr ich mir diesen Augenblick zurückrufe, je fester möcht' ich daran glauben, daß ich nicht ausgeglitten bin, nicht selbst die verhängnisvollen zwei oder drei Schritte gemacht habe, welche mich von dem Hexenloch noch trennten.« –
»Wie denn?« fragte Engels leise, eifrig. »Mußten Sie dann aber nicht fühlen, daß ein anderer Sie schob?« –
»Ich war in tiefen Gedanken, und es ging alles schneller, als man es sagen kann,« entgegnete Dolores nachdenklich. »Eh' ich nur etwas hören, sehen oder fühlen konnte, schlug das Wasser schon über mir zusammen. Nur das eine weiß ich genau, daß ein Ausgleiten bei einem Schritte vorwärts mich noch nicht bis ins Wasser bringen konnte. Vielleicht bin ich aber in Gedanken unbewußt ein paar Schritte gegangen, denn es ist mir schon passiert, daß, wenn mein Geist ganz von anderen Sachen in Anspruch genommen war, ich mich im nächsten Zimmer befand, ohne mich besinnen zu können, daß und wie ich hineingegangen bin. Es ist also möglich, daß ich diese wenigen Schritte doch gemacht habe. Aber nun kommt die Einbildung dazu und macht mir weiß, daß ein Etwas mich von rückwärts hineingedrückt, denn gestoßen ist zuviel gesagt.« –
»Ja, dann müßten Sie aber doch eine Hand, einen Arm – kurz ein Wesen verspürt haben, das Ihnen nahe war, das Sie berührt hat!«
»Ich weiß es nicht. Im Augenblick, als ich wieder am Lande war und meine volle Besinnung wieder hatte, hätte ich schwören können, daß niemand in meiner Nähe war, niemand mich berührt hat. Aber die stets post festum kommende Einbildung will mir jetzt weismachen, daß ich leise Schritte hinter mir gehört, daß eine Hand mich berührt hat.«
»Ah! Gesetzt aber, Sie hätten diese Schritte gehört, war es da nicht natürlich, daß Sie sich umwandten – natürlich und unwillkürlich?«
»Eben deshalb nenne ich es eine Einbildung, lieber Engels.«
»Ist es auch,« entgegnete dieser. »Ihre andere Lesart, daß Sie unbewußt und in Gedanken die paar Schritte auf das Wasser hin gethan haben, ist entschieden glaubwürdiger und einleuchtend genug. Denn wer in aller Welt hätte denn einen Grund, Sie meuchlings ins Wasser zu stürzen? Keine Seele! Höchstens der Freiherr selbst, der doch zum Falkenhof der Agnat ist.«
»Der hat mich ja aber gerade herausgeholt, ganz abgesehen davon, daß ich ihm nachsah, wie er fortging, als es geschah.«
»Na eben darum!« nickte Engels bestätigend. »Warum, zum Teufel, macht dann aber der alte Schleicher, der Ruß, ein Gesicht, als ob Sie lebensmüde wären?«
»Ach, Engels, das haben Sie wohl falsch aufgefaßt!«
»Vielleicht, Fräulein Dolores. Man weiß ja nie, wie man seine halben Worte und Winke deuten und auffassen soll. Nimmt man eine Redewendung so, und es kommt anders, da sagt er dann sicher: Aber ich habe es Ihnen ja gleich gesagt! Der Teufel mag sich mit dem alten Fuchs ausfinden!«
»Engels, Engels! Da galoppiert Ihre Abneigung wieder mit Ihnen davon!«
»Ach – galoppiert nie übers Ziel!« machte Engels. Dann, nach einer Pause, nahm er einen Brief aus einer Mappe. »Hier,« sagte er, »ist ein spanisches Schreiben von Ihrem brasilianischen Bevollmächtigten. Es wird sich wohl um die Pflanzen handeln, welche Sie von da verschrieben haben, hier im Treibhaus ziehen und dann acclimatisieren wollen. Die Adresse ist deutsch und an mich gerichtet, aber da ich Spanisch leider nicht kann, wollte ich Sie bitten, mir's zu übersetzen – schriftlich, damit ich's mit dem Original meinen Belegen beiheften kann.«
»Gern,« erwiderte Dolores. »Sie werden es morgen früh beim Rapport bereit finden. Und nun guten Abend – ich muß hinein, denn es giebt mit Mamsell Köhler noch eine Menge zu besprechen für die neue Einquartierung!«
»Guten Abend, Fräulein Dolores. Und – nichts für ungut!«
»Ach, wegen Ihres Selbstmordverdachtes? Nein, nein – nichts für ungut,« erwiderte Dolores lächelnd und ging.
Aber der Abend war schön und die Luft rein und klar nach einem köstlich erfrischenden Regen, und darum machte sie doch noch einen kleinen Umweg, ehe sie ins Schloß zurückkehrte. Sie ging in einem an beiden Seiten dicht mit Buschwerk bestandenen Laubgange dahin, zog den Brief aus dem Couvert mit der fremdländischen Marke darauf und begann ihn durchzulesen, hin und wieder einen Moment stehen bleibend. Und in einem solchen Moment erklang ein schnalzendes Geräusch, wie das Zusammenschlagen zweier Hände, nicht lauter, und Dolores war es, als bekäme der Brief in ihrer Hand einen Schlag, und als sie den Bogen wieder glättete, sah sie, daß sich ein kleines, sehr kleines, rundes Loch mit angesengten Rändern darin befand, das sie bisher nicht bemerkt. Einen Moment stand sie frappiert, dann sah sie rechts und links in das Gebüsch, es beiseite biegend und ging darauf den Weg zurück zu dem Turme, den Engels bewohnte.
Der war sehr erstaunt, sie wieder eintreten zu sehen.
»Haben Sie etwas vergessen, Fräulein Dolores?«
»Nein,« sagte sie ruhig. »Ich wollte nur fragen, ob der spanische Brief dieses kleine Loch schon hatte, als Sie ihn mir gaben.«
Engels nahm den Brief, setzte sich die Hornbrille auf und beobachtete mit hochgezogenen Brauen das kleine, seltsame Zeichen.
»Ist mir nicht aufgefallen,« sagte er verwundert. »Da ist ja ein Schuß durchgegangen!«
»Eben darum frage ich,« erwiderte Dolores gelassen.
»Hm –! Soviel ich weiß, war diese Kugelmarke nicht in dem Briefe. Die müßte ich ja gesehen haben, nicht wahr? Merkwürdig kleines Kaliber – wie aus einer Teschinpistole.«
»Ja,« sagte Dolores lakonisch, und als sie Engels' fragenden Blick sah, zuckte sie mit den Achseln. »Vielleicht wieder ein Selbstmordversuch von mir,« meinte sie mit einem kurzen Lachen, das etwas forciert war.
»Donnerwetter!« machte Engels.
»Nein, bitte, kein Wort davon,« bat sie. »Das bleibt unter uns. Aber die Augen wollen wir beide offen halten, nicht wahr?«
Und damit ging sie wieder, furchtlos und langsam, denselben Weg nach dem Falkenhof zurück und direkt bis in ihr Schlafzimmer. Dort zog sie das Schubfach ihres Nachttisches auf – da lag die winzige, kleine Teschinpistole, wie immer, daneben stand das Blechbüchschen mit den Patronen. Sie hatte die Gewohnheit, die kleine Waffe allabendlich zu laden und früh die Patrone wieder herauszuziehen – auch jetzt war der Schuß herausgezogen.
»Ich muß doch die Patronen einmal zählen,« dachte sie. Es waren noch dreißig Stück in der Büchse, und die schloß sie fort.
Die nächste Stunde ihres Nachdenkens war nicht gerade erbaulich. Sie dachte zwar nicht an die für sie rätselhafte Episode am Hexentümpel, wohl aber an den rätselhaften Schuß, der sein Ziel wahrscheinlich verfehlt hatte, denn wer hätte die kühne Idee, einen Brief zu durchschießen, der gerade gelesen wurde? Höchstens doch ein Kunstschütze von der Fertigkeit eines Ira Aldridge. Nein, der Schuß galt ihr. Aber warum? Wem hatte sie etwas gethan? Wer hatte ein Interesse daran, sie zu töten?
Sie dachte an einen ihrer brasilianischen Vögte, den sie neulich auf den Bericht ihres Bevollmächtigten, und weil er sie bewiesenermaßen bestohlen, entlassen hatte. Sollte der Mann sich haben rächen wollen? Unmöglich war das nicht, aber wie wäre er von Brasilien nach Norddeutschland gekommen? Das ist ein weiter Weg, und ehe er zurückgelegt ist, wozu Zeit und – Mittel gehörten, da ist die erste Wut schon abgekühlt. Aber es war der einzige Anhaltepunkt für sie, und als sie beim besten Willen keinen anderen fand und der Kopf sie anfing zu schmerzen, da ging sie herab und fand auf der Terrasse die sie suchte – Doktor Ruß mit Frau. Denen erzählte sie die Geschichte dieses Schusses, und Doktor Ruß riet sofort einen Kriminalkommissar kommen zu lassen, der im Falkenhofe Wohnung zu nehmen hätte, um dem geheimnisvollen Schützen auf die Spur zu kommen. Doch davon wollte Dolores nichts wissen. Sie teilte Doktor Ruß ihren Verdacht mit und meinte, es würde wohl auch durch Ramo zu erfahren sein, ob ein Fremder sich hier herumtriebe, denn irgend jemand müsse ihn doch sehen, da ein Mensch Nahrung brauche und dieselbe wieder nur durch Menschen zu erlangen sei.
Doktor