Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling

Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke - Eduard von  Keyserling


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das sie fast ver­ges­sen hat­te, ihre Ju­gend. Von di­stan­ce war ei­gent­lich nicht mehr die Rede, die all­zu sen­si­ble châte­lai­ne fiel ganz von ihr ab und es ging jetzt dort in dem Eck­zim­mer oft sehr hei­ter und ka­me­rad­schaft­lich zu. Aber zu­wei­len, wenn sie ge­ra­de recht laut lach­ten, hiel­ten sie plötz­lich inne, horch­ten hin­aus. »Still«, sag­te Hans, »ich höre sei­ne Stie­fel knar­ren« und es war, als sei eine ge­hei­me Zu­sam­men­ge­hö­rig­keit zwi­schen ih­nen bei­den eine selbst­ver­ständ­li­che Sa­che. Hans ver­lieb­te sich na­tür­lich in Dora­li­ce und war die­sem Ge­füh­le ge­gen­über ganz hilf­los. Er zeig­te es ihr, er sag­te es ihr mit ei­ner nai­ven, fast scham­lo­sen Of­fen­heit und Dora­li­ce ließ es ge­sche­hen, es war ihr, als fass­te das Le­ben sie mit star­ken, ge­walt­sa­men Ar­men und trug sie mit sich fort. Da be­gann in die­sen Spät­herbst­ta­gen Dora­li­ces Lie­bes­ge­schich­te. Hel­le, kal­te Tage und dunkle Aben­de, auf den Bee­ten, die von dem Nacht­frost ge­bräun­ten Ge­or­gi­nen und in den Al­leen des Par­kes wel­kes Laub, das auch beim vor­sich­tigs­ten Schrit­te ra­schel­te. Wenn Dora­li­ce an die­se Zeit dach­te, emp­fand sie wie­der das selt­sa­me schwü­le Bren­nen ih­res Blu­tes, emp­fand sie die ste­te Angst vor et­was Schreck­li­chem, das kom­men soll­te, das je­der Lie­bes­stun­de auch ihr furcht­bar er­re­gen­des Fie­ber bei­misch­te. Wie­der emp­fand sie je­nes wun­der­lich lose, ver­wor­re­ne Ge­fühl, je­nen Fa­ta­lis­mus, der so oft Frau­en in ih­rem ers­ten Lie­bes­rausch er­füllt. Den­noch trug Dora­li­ce leich­ter an den Heim­lich­kei­ten und Lü­gen als Hans. »Ich hal­te es nicht mehr aus«, sag­te er, »im­mer einen so vor mir zu ha­ben, den ich be­trü­ge, wir wol­len fort­ge­hen, oder es ihm sa­gen.«

      »Ja, ja«, mein­te Dora­li­ce. Es wun­der­te sie selbst, wie ge­ring die Ge­wis­sens­bis­se wa­ren über das Un­recht, das sie ih­rem Man­ne an­tat, ja, es war fast nur so wie da­mals, wenn sie Miss Plum­mers hin­ter­ging. »Und er ahnt es«, sag­te Hans, »er be­wacht uns, man be­geg­net ihm über­all, hast du es be­merkt? Sei­ne Stie­fel knar­ren nicht mehr, wir müs­sen ihm zu­vor­kom­men.«

      Al­lein der Graf kam ih­nen zu­vor. Es war ein grau­er Ne­bel­tag, Dora­li­ce stand im großen Saal am Fens­ter und schau­te zu, wie der Wind die Kro­ne des al­ten Birn­baums hin- und her­bog und die gel­ben Blät­ter von den Zwei­gen riss und sie in tol­ler Jagd durch die Luft wir­bel­te. Es sah or­dent­lich aus, als freu­ten sich die­se hell­gel­ben klei­nen Blät­ter, von dem Bau­me los­zu­kom­men, so aus­ge­las­sen schwirr­ten sie da­hin. Dora­li­ce hör­te ih­ren Ge­mahl in das Zim­mer kom­men. Er mach­te ei­ni­ge klei­ne knar­ren­de Schrit­te, rück­te den Ses­sel am Ka­min, setz­te sich, nahm ein Schürei­sen, um, wie er es lieb­te, im Ka­min­feu­er her­um­zu­sto­chern. Als er mit ei­nem »ma chère« zu spre­chen be­gann, wand­te sie sich um und es fiel ihr auf, dass er krank aus­sah, dass sei­ne Nase be­son­ders bleich und spitz war. Er schau­te nicht auf, son­dern blick­te auf das Ka­min­feu­er, in dem er sto­cher­te. »Ma chère«, sag­te er, »ich habe dei­ne Ge­duld be­wun­dert, aber las­sen wir es ge­nug sein, ich habe mit Herrn Grill eben ver­ein­bart, dass er uns heu­te ver­lässt. Mit dem Bil­de wird es ja doch nichts und von dir ist es zu viel ver­langt, dich noch der Lan­ge­wei­le die­ser Sit­zun­gen und die­ser – Ge­sell­schaft zu un­ter­zie­hen. So wer­den wir wie­der en­tre nous sein. Recht an­ge­nehm, was?«

      Dora­li­ce war bis in die Mit­te des Zim­mers ge­kom­men, da stand sie in ih­rem schie­fer­far­be­nen Wol­len­klei­de, die Arme nie­der­hän­gend, in der gan­zen Ge­stalt eine Ge­spannt­heit, als woll­te sie einen Sprung tun, in den Au­gen das blan­ke Fla­ckern der Men­schen, die vor ei­nem Sprun­ge von ei­nem leich­ten Schwin­del er­grif­fen wer­den.

      »Wenn Hans Grill geht, gehe ich auch«, sag­te sie und im Be­mü­hen ru­hig zu sein, klang ihre Stim­me ihr selbst fremd.

      »Wie? Was? Ich ver­ste­he nicht, ma chè­re.« Das Schürei­sen fiel klir­rend aus sei­ner Hand und Dora­li­ce sah wohl, dass er sie gut ver­stand, dass er längst ver­stan­den ha­ben muss­te. Um sei­ne Au­gen zo­gen sich vie­le Fält­chen zu­sam­men und die Bart­kom­mas auf sei­ner Ober­lip­pe zit­ter­ten wun­der­lich.

      »Ich mei­ne«, fuhr Dora­li­ce fort, »dass ich nicht mehr dei­ne Frau bin, dass ich nicht mehr dei­ne Frau sein darf, dass ich mit Hans Grill gehe, dass, dass …« Sie hielt inne, Schre­cken und Ver­wun­de­rung über den An­blick des Man­nes dort im Ses­sel lie­ßen sie nicht wei­ter spre­chen. Er knick­te in sich zu­sam­men und sein Ge­sicht ver­zog sich, wur­de klein und runz­lig. War das Schmerz? War das Zorn? Es hät­te auch ein un­heim­lich scherz­haf­tes Ge­sicht­er­schnei­den sein kön­nen. Mit großen angst­vol­len Au­gen starr­te Dora­li­ce ihn an. Da schüt­tel­te er sich, fuhr sich mit der Hand über das Ge­sicht, rich­te­te sich stramm auf. »Al­lons, al­lons«, mur­mel­te er. Er er­hob sich und ging mit stei­fen, zit­tern­den Bei­nen an das Fens­ter und schau­te hin­aus. Dora­li­ce war­te­te angst­voll, aber auch sehr neu­gie­rig, was nun kom­men wür­de. End­lich wand­te sich der Graf zu ihr um, das Ge­sicht asch­far­ben, aber ru­hig. Er zog sei­ne Uhr aus der Wes­ten­ta­sche, wur­de et­was un­ge­dul­dig, weil die Kap­sel nicht gleich auf­sprin­gen woll­te, schau­te dann auf­merk­sam auf das Zif­fer­blatt und sag­te mit sei­ner dis­kre­ten, höf­li­chen Stim­me: »Fünf Uhr drei­ßig geht der Zug.« Er sah auch nicht auf, als Dora­li­ce jetzt lang­sam aus dem Zim­mer ging.

      »Mein Herz schlug da­bei sehr stark«, hat­te spä­ter Dora­li­ce zu Hans Grill ge­sagt, »ich hör­te es schla­gen, es schi­en mir das Lau­tes­te im Zim­mer. Ich weiß nicht, was es war, viel­leicht war es plötz­lich eine sehr star­ke Freu­de.«

      »Na­tür­lich, na­tür­lich«, mein­te Hans Grill, »was soll­te es denn an­de­res ge­we­sen sein.«

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