Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling
Bork aber schien das Schelten der Generalin nicht zu hören, verträumt schaute sie in die Dämmerung hinein, sah, wie die Dämmerung sich sachte aufhellte, der Mond war aufgegangen, Silber mischte sich in das Dunkel der Wellen und der Strand lag hell beleuchtet da.
»Da sind sie!« schrie Fräulein Bork auf.
Erschrocken fuhren alle herum. Am Rande der Düne zeichneten sich gegen den hellen Himmel deutlich die Figuren eines großen Mannes und einer Frau ganz nahe beieinander ab. »Dort stehen sie jeden Abend«, flüsterte Fräulein Bork geheimnisvoll.
Frau von Buttlär starrte angstvoll zu dem Paare auf der Düne hinüber, dann rief sie erregt: »Kinder, ihr seid noch da, warum geht ihr nicht schlafen? Ihr seid müde, nein, nein, geht, gute Nacht«, und beruhigte sich erst, als die Kinder fort waren. Da sah sie sich noch einmal das Paar an da drüben, das jetzt eng aneinander geschmiegt den Strand entlang ging, seufzte tief und sagte kummervoll:
»Das ist allerdings unerwartet, unerwartet fatal. Wenn ich mich auf etwas freue, kommt immer so etwas dazwischen. Schon der Kinder wegen ist es mir unangenehm.«
»Ich weiß, ich weiß«, meinte die Generalin. »Du musst immer etwas haben, das dich quält, sonst ist dir nicht wohl. Schon als kleines Mädchen, wenn alles sich auf einen Spaziergang freute, sagtest du: was hilft es, es werden doch Steinchen in die Schuhe kommen. Unsere Mädchen! Die haben genug Disziplin im Leibe. Sag’ ihnen, da ist eine Frau Grill, die nicht gekannt wird, und ich sehe es, wie Lolo und Nini die Lippen zusammenkneifen und gerade vor sich hinsehen, wenn sie an Madame Grill vorübergehen.«
»Ja und dann«, begann Frau von Buttlär wieder leise, »offen gestanden, es ist auch wegen Rolf. Die Person ist sehr hübsch, solche Personen sind immer hübsch und Rolf, du weißt …«
Die Generalin schlug mit der flachen Hand auf den Tisch: »Natürlich, das musste kommen, du bist jetzt schon auf Madame Grill eifersüchtig. Aber liebe Bella, so ist dein Mann denn doch nicht. Na ja, immer die eine alte Geschichte mit der Gouvernante, die könntest du auch vergessen. Ab und zu mal im Frühjahr regt sich in ihm noch der Kürassieroffizier, das ist eine Art Heuschnupfen. Aber ihr Frauen bringt durch eure Eifersucht die Männer erst auf unnütze Gedanken. Nein, liebe Bella, wozu ist man, was man ist, wozu hat man seine gesellschaftliche Stellung und seinen alten Namen, wenn man sich vor jeder fortgelaufenen kleinen Frau fürchten sollte. Du bist die Freifrau von Buttlär, nicht wahr, und ich bin die Generalin von Palikow, nun also, das heißt, wir beide sind zwei Festungen, zu denen Leute, die nicht zu uns gehören, keinen Zutritt haben; so, nun wollen wir ruhig schlafen gehen, als gäbe es keine Madame Grill. Wir dekretieren einfach, es gibt keine Madame Grill.«
Alle erhoben sich, um in das Haus zu gehen. Fräulein Bork warf noch einen Blick zum Meer hinab und sagte in ihrem mitleidig singenden Ton: »Die Gräfin Doralice war einst auch einmal solch eine arme kleine Festung.«
Die Generalin wandte sich in der Tür um: »Bitte, Malwine, meine Vergleiche nicht mit Ihrer Poesie zu umspinnen, dazu mache ich sie nicht. Und dann noch eines, ich bitte, ferner Madame Grill nicht zum Gegenstand Ihres Verteidigungstalentes zu machen, Madame Grill wird nicht verteidigt.«
Oben in der Giebelstube, Lolos und Ninis Schlafzimmer, standen die beiden Mädchen noch am Fenster und schauten hinaus. Das mondbeglänzte Meer, das Rauschen und Wehen da draußen ließ ihnen keine Ruhe, es erregte sie fast schmerzhaft, und das Paar, das dort unten an den blanken Säulen der brechenden Wellen hinschritt, gehörte mit zu dem Erregenden und Geheimnisvollen da draußen, das den beiden Mädchen ein seltsames Fieber in das Blut legte.
Unten auf der Bank vor der Küche saß Frau Klinke und kühlte im Seewinde ihre heißen Köchinnenhände. Vor ihr stand Ernestine, wies zum Strande hinunter und sagte: »Nee, Frau Klinke, dass die beiden verheiratet sind, das glaube ich nicht.«
*
Hans Grill und Doralice gingen am Meeresufer entlang. Es ging sich gut auf dem feuchten, von den Wellen glattgestrichenen Sande. Zuweilen blieben sie stehen und schauten auf den breiten, sich sacht wiegenden Lichtweg hinab, den der Mond auf das Wasser warf.
»Nichts, heute nichts«, sagte Hans und machte eine Handbewegung, als wollte er das Meer beiseite schieben. »Es ziert sich heute, es macht sich klein und süß, um zu gefallen.«
»So lass es doch«, bat Doralice.
»Ja, ja, ich lasse es ja«, erwiderte Hans ungeduldig.
Als sie weiter schritten, hing Doralice sich ganz fest in Hansens Arm. Sie konnte sich ja gehen lassen, dieser Arm war stark und sie dachte flüchtig an einen anderen zerbrechlichen und zeremoniösen Arm, der ihr feierlich gereicht worden war und auf den sich zu stützen sie nie gewagt hatte.
»Du bist müde?« fragte Hans.
»Ja«, erwiderte sie nachdenklich, »diese langen hellen Tage, glaube ich, machen müde.«
»Viel haben wir an diesen langen hellen Tagen nicht getan«, bemerkte Hans.
»Getan«, fuhr Doralice fort, »nichts. Im Sande gelegen und auf das Meer gesehen. Aber gleichviel, ich konnte doch alles Mögliche tun, Dinge, die ich sonst nie getan, unerhörte Dinge, nichts hindert mich. Auf der Reise war das anders, da tut man die Dinge, die im Reisebuch vorgeschrieben sind, aber hier muss das Neue kommen und das macht vielleicht müde.«
»Gewiss, gewiss«, begann Hans in seiner eifrigen Art, »Möglichkeiten, natürlich Möglichkeiten, das ist es, was der freie Mensch hat, es ist gleich, ob er etwas tut, aber nichts zwingt ihn, nichts schiebt ihn, nichts bindet ihn, was er tut und nicht tut, tut er auf eigene Verantwortung, und das kann müde machen, o ja, das kann müde machen«, und Hans lachte ein lautes Ha! Ha! auf das Meer hinaus, »freie Menschen, freie Liebe, denn das ist ja gleich, ob ein alter Engländer aus London uns durch die Nase etwas gesagt hat, was wir nicht verstanden haben, das bindet nicht. Also freie Menschen, freie Liebe, freie …« Er hielt plötzlich inne und fragte: »Warum lachst du?«
Doralice hatte ihren Kopf zurückgebogen, um zu Hans hinaufzusehen, und sie lachte. Die schmalen, sehr roten Linien der Lippen öffneten sich ein wenig, ließen im Mondschein für einen Augenblick das Weiß der kleinen Zähne durchschimmern. So hell beschienen war das Gesicht sehr hübsch mit seinem kindlichen Oval, den graublauen Augen, in die das Mondlicht ein seltsam farbiges Schillern legte, und dem hellblonden Haar, an dem der Wind zauste. Ja, Doralice musste immer lachen, wenn Hans seine großen Worte hersagte, jene Worte, die klangen, als hätten sie in Zeitungen oder langweiligen Büchern gestanden, aber wenn Hans sie aussprach, bekamen sie etwas Junges, etwas Lebendiges, sie klangen, als schmeckten sie ihm gut, wenn er sie so zwischen seinen gesunden weißen