Die wichtigsten Werke von Jodocus Temme. Jodocus Temme

Die wichtigsten Werke von Jodocus Temme - Jodocus Temme


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Regierungsrat mit strenger Miene, seine Gestalt höher aufrichtend, seinen Worten Nachdruck gebend, unmittelbar an den Wagen heran, »meine Damen, ich bedaure, dass ich hier befehlend auftreten muss; mein Amt zwingt mich ——«

      Da sah er die zweite der Frauen, die Frau Mahler.

      Sie hatte sich zusammengenommen. Sie sah ihn mit einem Blick unsäglichen Hasses und tiefster Verachtung an.

      Dem Blicke begegnete der seinige.

      Er flog von dem Wagen zurück, als ob ihn der Biss eines wilden Tieres getroffen habe. Er wollte sich wieder aufraffen, zurückkehren; er vermochte es nicht.

      »Fort!« rief er feinen Beamten zu. »Der Bursche ist tot. Leichen verfolgen wir nicht.«

      Er entfernte sich mit den sämtlichen Beamten.

      Die Frau Mahler lag ohnmächtig neben dem Körper des Knaben, den der Regierungsrat eine Leiche genannt hatte.

      »Vorwärts, Christoph!« rief der Domherr dem Kutscher zu. »In zehn Minuten müssen wir in Ovelgönne sein.«

       Zweites Kapitel.

       Studentengeschichten.

       Inhaltsverzeichnis

      Die Universität Göttingen stand im Sommer des Jahres 1816 in besonderer Blüte. Sie hatte gerade damals bedeutende Lehrer in den meisten Fächern der Wissenschaft und gewährte den jungen Leuten, die sie besuchten, vor andern deutschen Universitäten die meisten akademischen Freiheiten. So fanden sich auf ihr in sehr großer Anzahl namentlich auch diejenigen zum Teil schon gereifteren jungen Männer zusammen, die in den Jahren 1813 bis 1815 die Freiheitskriege mitgemacht hatten und nach deren Beendigung die lange unterbrochenen und versäumten Studien mit umso größerem Eifer nachzuholen suchten, dabei aber auch von der einen Seite keiner pedantischen Schuldisziplin und von der andern nicht dem noch engherzigeren Burschenpennalismus sich unterwerfen wollten. Besonders waren viele Preußen da. Man sah zu jener Zeit in Göttingen mehr Bart als Flaum, mehr Narben, die in der Feldschlacht, als die auf dem Paukboden eingezeichnet waren; man sah mehr männlichen Ernst als burschikose Wichtigkeit; man sah manche mit Orden und Kriegsmedaillen geschmückte Brust, man sah nicht minder manche Offiziers- oder Freiwilligenuniform, oder irgendein Stück davon, die Beinkleider, den Rock, die Feldmütze. Und diese Uniformstücke sah man nicht als Schmuck oder Zierrat!

      Wie viele Tausende von jungen Männern, die in der Begeisterung jener Zeit für das Vaterland ihren Beruf, ihre Studien, ihre Kunst, ihr Gewerbe, ihr Handwerk verlassen hatten und in den Krieg gezogen waren, hatten zugleich den Rest ihres eigenen geringen oder des Vermögens ihrer Eltern zugesetzt, um sich selbst Uniform, Wehr und Waffen anzuschaffen und während der teuren Kriegszeit selbst für ihren Unterhalt zu sorgen. Der Staat hätte es nicht gekonnt, namentlich der preußische Staat hätte es nicht gekonnt. Da war nach Beendigung der Kriege mancher nackt und bloß und musste von vorn wieder anfangen, um sich etwas zu verdienen, oder die Verwandten brachten die letzten Taler zusammen, damit ein Geschäft wieder begonnen, die Studien wieder aufgenommen werden konnten. Und da tat denn auch auf der Universität das alte Soldatenkleid dieselben Dienste, wie ein neuer Bürgerrock sie getan haben würde, wenn er hätte angeschafft werden können.

      Zur Schande gereichte es wahrlich nicht und zum Eifer im Studieren konnte es nur anspornen. Es war ja eine fortwährende lebendige Erinnerung an das, was den jugendlichen Kämpfern in Aussicht stand oder was ihnen wenigstens in Aussicht gestellt war. Je weniger der Staat hatte bieten und gewähren können, desto mehr war ihnen versprochen worden. Alle, die dem Rufe für König und Vaterland gefolgt waren, die an den glorreichen Kämpfen teil genommen, ihr Blut verspritzt, ihr Vermögen, ihre Existenz geopfert hatten für die Rettung der Krone, für die Befreiung des Vaterlandes, alle sollten künftig und so bald wie möglich den reichsten Ersatz empfangen, und namentlich sollten diejenigen, welche den Studien obgelegen hatten oder obliegen würden, die nächsten und vorzüglichsten Ansprüche auf Beförderung im Dienste des Staates haben. Das war ihnen versprochen, feierlich, öffentlich, wiederholt, und die Jugend glaubt an Versprechungen und auch und ganz besonders an Versprechungen in der Not.

      Es war in der Mitte des Monats Juni des gedachten Jahres 1816, als des Morgens etwa gegen acht Uhr in einem Zimmer an der Weender Straße zu Göttingen ein Student bequem auf dem Sofa mehr lag als saß und zu seinem Morgenkaffee aus seiner langen Pfeife rauchte. So lagen freilich zu derselben Zeit und an derselben Straße wohl Hunderte von Studenten auf ihren Sofas.

      Es war auch ein gewöhnliches Studentenzimmer mit einem Sofa, einem halben Dutzend Stühlen, zwei Tischen, einem Sekretär und einer Kommode, mit einer langen Reihe langer und lang bequasteter Pfeifen an der einen und einem halben Dutzend Rapieren nebst Fechthandschuhen, sowie mit drei oder vier Paar Pistolen an der andern und wenigen Büchern an der dritten Wand. Es war aber doch alles, was man sah, von einer Solidität und gar Eleganz, wie man sie in den gewöhnlichen Studentenstuben auf deutschen Universitäten, auch in Göttingen, eben nicht findet. Der Bewohner des Zimmers musste zu den vornehmeren und reicheren Studenten Göttingens gehören.

      Den Eindruck machte auch seine Persönlichkeit.

      Die hohe, schlanke Gestalt zeigte auch in der bequemen, nachlässigen Lage auf dem Sofa eine ungenierte Vornehmheit·, die aber umso weniger der Anmut entbehrte, als sie eine unbewusste zu sein schien; sie musste also eine, wie man sagt, angeborene sein, was heißen soll: eine von frühester Kindheit an anerzogene. Das schöne Gesicht des jungen Mannes hatte jenen aristokratischen Schnitt, den man sofort als den einer alten vornehmen Familie erkennt, die seit Jahrhunderten mit großer Sorgfalt von jedem nicht aristokratischen Elemente sich rein gehalten hat.

      Der junge Mann war bis auf den Studentenrock völlig angekleidet. Anstatt dessen trug er einen weiten geblümten Schlafrock, der von so feinem, geschmackvollem und reichem Zeuge war, dass eine Dame davon einen Schal hätte tragen können. Der Feinheit des Schlafrocks entsprach die übrige Kleidung; die Stiefel, keine Studentenkanonen, waren mit kleinen, zierlich gearbeiteten silbernen Sporen versehen.

      Die Kleidung zeigte überhaupt nicht den gewöhnlichen studentischen Charakter, wie denn auch der junge Mann, wenn man ihn genauer ansah, wohl nur zur Hälfte als Student erschien. Was es zur andern Hälfte sei, hätte man wohl schwer erraten mögen; vielleicht hätte man es soldatisch nennen können; ein Edelmann, und vielleicht der junge Mann selbst, hätte sicher gesagt: es ist eben edelmännisch, adlig, und zwar nicht bloß halb, sondern ganz, ganz und gar.

      Der junge Student war nicht allein mit Rauchen und Kaffeetrinken beschäftigt. Er warf dann und wann einen Blick in eine Zeitung, die vor ihm auf dem Tische lag, sah dann freilich wieder in die feinen blauen Wölkchen, die er aus seiner Pfeife blies, und dann wohl auch durch diese hindurch und durch das Fenster, aber nicht um am Himmel andere blaue Wolken zu suchen. Am Ende suchte sein Blick wohl gar nichts, und doch traf er auf etwas, was einen jungen Studenten wohl interessieren konnte.

      Gerade seiner Wohnung gegenüber lag auf der andern Seite der Weender Straße gleichfalls ein hübsches Haus, das nur vornehme Quartiere haben musste. In diesem stand ein Fenster offen, und in dem offenen Fenster zeigte sich eine schwarze Samtmaske, und die schwarze Maske verbarg kein Studentengesicht. Ein feiner Kaschmirschal, doch wohl feiner und teurer als der geblümte Warschauer Schlafrock des Studenten, umhüllte kokett, also mehr andeutend als verbergend, eine reizende Büste und schmiegte sich eng an die zierlichste Taille an.

      Und dazu die schwarze Maske?

      Der junge Student sah ohne Interesse hin, mit einer großen Gleichgültigkeit sogar; es war eine eigentümliche träge Bequemlichkeit, Blasiertheit konnte man sie trotz alledem nicht nennen.

      Kaum eine halbe Minute lang widmete er der maskierten Dame seine Aufmerksamkeit, wie sie sich halb in das Fenster hineinlegte, wie die Maske sich nach rechts und nach links bog, als ob sie die Straße hinauf und hinab schaue. Dann schweifte sein Blick anderswohin, als ob er den allergleichgültigsten Gegenstand von der Welt gesehen habe.

      Gleich darauf zuckte


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