Die wichtigsten Werke von Jodocus Temme. Jodocus Temme
hatte nachgesonnen.
»Es wäre möglich«, sagte er. »Es war aber auch noch der Wagen des Mindener Regierungsrats an der Sägemühle. Wenn nun der es wäre? Wenn seine Leute ihm folgten oder gar einen nähern Weg durch das Gebirge genommen hätten? Es gibt deren mehrere, und wenn auch der, den wir nehmen, der kürzeste ist, so hatten doch die Grenzjäger keine Packen zu tragen und brauchten nicht zweimal Rast zu machen.«
»Wir wären also verraten, Bursche?«
»Ihr lagt lange in dem Schuppen an der Sägemühle. Ihr wart Eurer die vielen Menschen. Wie leicht konnte Euch nur ein einziger Mensch sehen! Es wurde dann Wache ausgestellt. Man sah uns fortziehen, wie sicher wir uns auch glaubten. Und wenn man die Richtung unseres Weges wusste, so wusste man auch, dass wir auf Warburg gingen; denn von der Sägemühle bis Warburg führt keine Brücke und keine Fähre über die Diemel.«
»Und was nun, Bursche?« fragte Schlom Bendix.
»Der Wagen ist noch weit hinter uns. Die Beamten werden ihm nicht voraus sein. In dem Tal, durch das wir da unten müssen, sind wir in fünf Minuten. In einer Minute sind wir dann hindurch. Ich führe Euch durch sein schmalstes Ende. Auf seiner andern Seite sind wir in Sicherheit. Brechen wir sofort auf.«
»Fort!« rief Schlom Bendix. »Eilt Euch, Ihr Leute!«
Die Leute waren schon sämtlich auf den Beinen.
Sie hatten ihre Lasten aufgepackt.
»Mir nach!« rief Bernhard Henke. »Geht zu drei, damit wir dichter beisammen sind. Tretet nicht zu hart auf. Sprecht kein Wort, damit man das geringste Geräusch hören kann.«
Sie taten, wie er sagte.
Über den Knaben war wirklich eine ernste Besorgnis gekommen.
»Schlom Bendix«, fragte er den neben ihm gehen den Juden, »seid Ihr mit Pistolen bewaffnet?«
»Mit zwei Stück.«
Er sah sich dann nach Aaron Levi um.
Er erblickte ihn nicht mehr.
»Er ist nach hinten gegangen«, sagte Schlom Bendix.
»O, da fühlt er sich wohl sicherer mit seinem langen Messer!«
Sie hatten über die Hälfte ihres Wegs zurückgelegt, ohne den geringsten fremden Laut zu vernehmen.
»Soll ich Euch meine Geschichte mit der Eule zu Ende erzählen, Schlom Bendix?«
»Fürchtest Du nichts mehr, Bursche?«
»Ich denke nicht.«
»So erzähle zu Ende.«
»Das Ende ist kurz. Ich stieg in die Eiche und kam bis in ihre höchsten Zweige. Das Nest der Raben war fast in der Spitze des hohen Baums. Die Zweige wurden dünner da oben, schwankten und bogen sich. Ich war ganz nah an dem Neste. Ich wollte danach langen, um die beiden nicht wach zu machen. Da — krach! brach der dünne Ast, auf dem ich stand, ich stürzte herunter, von Ast zu Ast, von Zweig zu Zweig. Das war freilich mein Glück; so kam ich langsamer unten auf der Erde an, zwar mit heilen Gliedern, aber zerschunden, dass ich erst wieder in einen Baum klettern konnte, als die Jungen längst ausgeflogen waren. Das Unglück hatte mir die alte Eule gebracht. Und am Abend — aber, Gott sei mir gnädig, was ist denn das dort unten? Steht, steht! Steht alle wie die Mauern! Rührt Euch nicht!«
Er sprach die Worte in leisestem Flüsterton. Er stand wie in dem’ Boden festgewurzelt. Sie standen alle regungslos.
Sie waren noch fünfzig bis sechzig Schritte über dem Talgrund, in den sie hinabsteigen mussten. In einer Minute konnten sie unten sein. Sie waren unter Bäumen. Das Tal war hier, fast unmittelbar an seinem Ende, zu einer schmalen Schlucht verengt. An einer lichten Stelle des Waldes war Bernhard stehengeblieben; er konnte dort in die Tiefe blicken.
»Was siehst Du, Bursche?« fragte Schlom Bendix.
»Seht Ihr das Schwarze da unten?«
»Es ist ein Baumstamm.«
»Da hat nie ein Baum gestanden. Und seht, es rührt sich.« .
»Wahrhaftig!«
»Und da tritt ein zweiter Mann zu dem ersten. Es sind die Grenzbeamten. Sie haben uns gehört. Sie sprechen miteinander, was sie tun sollen.«
»Und was tun wir, Bursche?«
»Halten wir Rat, Schlom Bendix. In die Tiefe da unten können wir nicht. Sie wird besetzt sein. Umkehren, für heute Nacht unser Unternehmen aufgeben sollen wir nicht?«
»Nein.«
»So bleiben uns zwei Wege. Der erste ist hier rechts von uns, um die Schlucht herum. Es sind steile Felsen dort, die kein Mensch ersteigen kann. Nur ein einziger schmaler Pfad führt hindurch. Wenn er besetzt ist, so sind wir darin eingeschlossen wie eine Herde Schafe im Stall.«
»Dein zweiter Weg?«
»Geht dort links, mitten durch die Breite des Tales. Dort erwartet man uns nicht. Hier haben sie sich alle zusammengezogen.«
Schlom Bendix sann nach.
»Versuchen wir vorher, ob der Pfad zwischen den Felsen besetzt ist«, sagte er dann.
»Und wer will hingehen?« fragte Bernhard. »Es könnte ihm das Leben kosten. Sie werden schießen.«
»Bursche«, sagte der Jude, »hast Du nicht Deine vierzig Taler bekommen, um uns sicher zu führen? Versprachst Du es nicht?«
Bernhard Henke erwiderte ihm kein Wort.
»Bleibt hier, bis ich zurückkomme«, sagte er, »oder bis —«
»Oder?« fragte der Jude.
»Oder bis mich eine Kugel getroffen hat.«
Damit wandte sich der mutige Knabe rechts, und nach wenigen Schritten war er in der Dunkelheit unter den Bäumen verschwunden.
Die andern standen schweigend und horchten mit angehaltenem Atem in das Dunkel hinein.
Sie hörten nichts.
Nach drei Minuten kam der Knabe zurück
»Es ist alles besetzt. Ich hörte sie mit einander flüstern. Es sind ihrer viele.«
»Wir können also hier nicht durch?«
»Nein. Aber ich habe einen andern Plan.«
»Lass‘ ihn hören.«
»Unter Euren Waren sind einige, die weniger Wert haben als die andern.«
»Es könnte sein.«
»Und wenn Ihr sie verloren gebt, so habt Ihr an den andern noch immer Profit genug?«
»Profit? Wie heißt Profit? Aber sprich weiter. Dein Plan?«
»Mein Plan ist, wir teilen uns. Der eine Teil geht mit den besseren Waren nach links. Der andere bleibt mit den schlechteren hier, sucht nach einer Weile zum Schein in die Schlucht zu dringen, kehrt aber bei dem ersten Geräusch um, läuft zuerst einige Schritte weit mit den Waren nach dem Berg zurück, wirft dann die Waren von sich, um leichter fortzukommen und die Beamten aufzuhalten, und rettet sich so. Das alles macht Lärm; die Beamten werden schreien, schießen, um die Kameraden, die dort links im Tale sind, herbeizurufen. So wird die Luft dort rein und die guten und teuren Waren sind gerettet. Überlegt Euch die Sache, aber macht schnell.«
Die beiden Juden und Konrad Maurer umstanden den Knaben.
»Wisst Ihr einen andern Rat?« fragte sie Schlom Bendix.
Aaron Levi schwieg. Er war schon lange stumm geworden.
»Der Rat des Burschen ist der beste«, sagte Konrad Maurer.
»So folgen wir ihm.« —
Schlom Bendix teilte die Lastträger. Aber er