Die wichtigsten Werke von Jodocus Temme. Jodocus Temme

Die wichtigsten Werke von Jodocus Temme - Jodocus Temme


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beiden Frauen gaben dem mutigen Knaben die Hand.

      »Schone Dein Leben!« ermahnte ihn die Mamsell.

      »Stehe Gott Dir bei!« sagte mit einer eigentümlichen Bewegung die Frau Mahler.

      Der Knabe verschwand hinter dem Wirtshause.

      Dort nahm er seinen Weg in eine verborgene enge Seitenschlucht. In ihrer Tiefe gelangte er an einen alten verfallenen Kohlenschuppen. Er gab ein Zeichen mit der Hand. Aus der Dunkelheit der Schlucht und des Schuppens trat ihm jemand entgegen.

      »Bist Du es, Bernhard?«

      »Ja, Konrad Maurer. Sind die Leute alle da?«

      Konrad Maurer war wieder völlig nüchtern, er hatte auf Wache gestanden.

      »Alle«, antwortete er.

      »Auch die Juden?«

      »Auch die beiden Juden.«

      Sie gingen in den Schuppen.

      Es war so dunkel darin, dass man nicht die Hand vor den Augen sah. Aber man hörte ein leises Murmeln vieler Stimmen.

      »Schlom Bendix!« rief Bernhard Henke in die Dunkelheit und das Gemurmel hinein.

      »Hier!« meldete sich der Jude.

      »Kommt auf einen Augenblick heraus. Ich habe mit Euch zu sprechen.«

      Der Jude kam hervor. Der Knabe verließ mit ihm den Schuppen. Ein Dritter folgte ihnen; es war Aaron Levi.

      »Schlom Bendix«, sagte draußen Bernhard Henke, »wir sind verraten. Da vorn an der Sägemühle ist der Mindener Regierungsrat mit mindestens einem Dutzend Grenzbeamten.«

      »Was wollen sie nur hier?« rief in seiner allezeit fertigen, hastigen Weise Aaron Levi. »Wir sind hier noch in Hessen. Lasst einen der preußischen Hunde kommen! Ich schlage ihn tot. Ich ersteche ihn mit meinem Messer.«

      Der Knabe antwortete ihm nicht; er fuhr zu dem andern Juden gewendet fort:

      »Ich komme aus meinem Dorfe Niederhelmern. Es liegt auf dem Wege nach Borgentreich. Von meiner Mutter hatte ich schon gehört, dass es nicht richtig in der Gegend sei; Leute, die von Borgentreich gekommen waren, hatten alle Wege und Pfade zu dem Städtchen mit Zollbeamten besetzt gefunden. Auf dem Wege von meinem Dorfe bis hierher fand ich sie auch. Der Regierungsrat muss sie mehrere Meilen weit haben hierher kommen lassen. Nach Borgentreich können wir also nicht.«

      »Nach Borgentreich können wir nicht«, sah auch Schlom Bendix ein. »Was aber nun, Bursche?«

      Aaron Levi sagte nichts.

      »Was nun?« erwiderte der Knabe. »Wir gehen nach Warburg. Da erwartet man uns nicht. Auch von da wird der Regierungsrat alle Beamte fortgerufen haben. Wir brauchen nicht über die Diemel zu setzen; wir passieren sie auf der Brücke bei Warburg. An Joel Rosenberg in Borgentreich schicken wir einen Boten, der ihn nach Warburg bestellt.«

      »Weißt Du keinen andern Rat, Bursche?« fragte Schlom Bendix.

      »Nein. Wisst Ihr einen bessern?«

      Die Juden berieten sich in ihrer Sprache. Sie hatten keinen bessern Rat gefunden.

      »Kennst Du auch die Wege nach Warburg, Bursche?«

      »Wie die nach Borgentreich.«

      »So sei es, wie Du sagst. Können wir gleich aufbrechen?«

      »Je eher, desto besser. Wir haben nach Warburg einen weiteren Weg.«

      »So brechen wir auf.«

      »Noch eins, Schlom Bendix!«

      »Was willst Du?«

      »Bekomme ich mein Geld jetzt gleich?«

      Schlom Bendix besann sich.

      Aaron Levi kam seiner Antwort zuvor.

      »Um mit dem Gelde uns durchzugehen, Bursche? Nichts da. Wenn wir an Ort und Stelle sind, hast Du Deinen Kontrakt gehalten und werden wir den unsrigen halten.«

      Schlom Bendix war anderer Meinung.

      »Wenn Du willst, Bursche, kannst Du Deinen Lohn sogleich erhalten, dreißig Taler.«

      Die Bereitwilligkeit des vorsichtigen Juden schien den Knaben auf einen andern Gedanken gebracht zu haben.

      »Nachher, Schlom Bendix, wie der Aaron Levi sagt. Für den Mann zwei Taler! So lautet unser Kontrakt.«

      »Schaute!« rief Schlom Bendix seinem Kompagnon zu.

      Sie kehrten in den Kohlenschuppen zurück.

      »Alle fertig!« rief Schlom Bendix hinein.

      Man hörte eine Menge Menschen sich erheben, sich selbst und einander mit Säcken, Ballen, Kisten und anderem Gepäck beladen.

      »Noch einen Augenblick Geduld!« sagte Bernhard Henke. »Ich muss sehen, was sie am Wirtshause machen.«

      Er verließ den Schuppen, die Schlucht, schlich sich an das Wirtshaus hinan.

      Er hörte in dem Gastzimmer Teller und Gläser klingen.

      Er wagte sich an die Haustür. Im Flur stand die Kellnerin.

      »Jettchen!« rief er sie leise.

      Sie trat zu ihm hinaus.

      »Was machen die Beamten?«

      »Sie sitzen bei Tische.«

      »Hast Du nichts gehört?«

      »Gar nichts. Sie sprachen kein Wort vom Dienst.«

      »Weißt Du nicht, ob sie hier in der Nähe Wachen ausgestellt haben?«

      »Ich habe nichts bemerkt. Sie sind äußerst vorsichtig. Umso mehr Angst habe ich Deinetwegen.«

      »Habe sie nicht, Jettchen, Du gutes liebes Jettchen.«

      Damit entfernte sich der Knabe.

      Er hatte die Worte in einem Tone gesprochen, als wenn ihm auf einmal das Herz schwer geworden sei.

      Aber den Juden zeigte er es nicht.

      Er war zu dem Schuppen zurückgeeilt.

      »Seid Ihr fertig?«

      »Ja!«

      »Vorwärts! Folgt mir!«

      Er setzte sich in Bewegung.

      Alles, was in dem Schuppen war, folgte ihm.

      Unmittelbar hinter, fast neben ihm ging Schlom Bendix.

      Dann folgten die sämtlichen Packträger; sie gingen einzeln, wie sie es auf ihren Schmuggelwegen gewohnt waren. Den Zug schlossen Aaron Levi und Konrad Maurer.

      Die Packträger waren mit großen, dicken Knotenstöcken versehen, die ihnen zur Waffe und zugleich zur Stütze beim Gehen dienten. Einen solchen Stock trug auch Konrad Maurer, der ohne Gepäck war. Die Juden mussten mit andern Waffen versehen sein; man sah keine Stöcke bei ihnen;·von einem Messer hatte Aaron Levi schon gesprochen.

      Der Knabe Bernhard war ohne Stock, ohne Waffe, aber auch ohne Gepäck; er war leicht wie ein Vogel.

      So schritt er voran, gefolgt von den andern, aus der kleinen Schlucht, aus dieser nicht wieder in die größere, sondern sofort einen der waldbedeckten Berge hinan, von denen die Schlucht der Dahlheimer Sägemühle gebildet wurde; der Berg zog sich von der Diemel weg in das Land hinein. Ein Weg, ein Pfad war nicht zu sehen, nicht zu fühlen. An der Mitte des Berges schlug sich der Knabe rechts, und nun führte er seine Leute immer an dem Abhange des Bergs hin.

      Nach einer halben Stunde machte er Halt.

      »Ihr könnt Euch ausruhen«, sagte er. »Hier ist keine Gefahr mehr für uns. Wir find seit einer Viertelstunde im Preußischen.«


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