Die wichtigsten Werke von Jodocus Temme. Jodocus Temme
vor allem nicht umsonst für des deutschen Volkes Freiheit!«
Einer der jüngsten von ihnen rief es.
Seine Brust zierte das eiserne Kreuz.
Auch noch andere unter ihnen trugen dieses Zeichen des in den Freiheitskriegen vor dem Feinde bewiesenen Mutes.
Alle waren sie Kämpfer aus diesen Kriegen; ihre Studien hatten sie in Göttingen wieder zusammengeführt.
Sie feierten den Jahrestag der Schlacht von Waterloo oder Belle-Alliance. Sie feierten ihn als Landwehrmänner, die. an jenem Tage mitgekämpft hatten.
Ihre Toaste waren an andern Stellen der Tafel aufgefallen. Die Beamten steckten die Köpfe zusammen. Als von der Freiheit des deutschen Volkes die Rede war, blickte einer der Reisenden sich scheu um, als wenn er den sehen wolle, der es gewagt habe, einen solchen Toast auszubringen.
Der Wirt trat zu den Studenten.
»Meine Herren«, sagte er leise, »erlauben Sie, dass ich Sie warne.«
»Warum? Wovor?«
»Sie haben doch schon von Demagogenfängern gehört?«
»Teufel, ja! Sie werden von Berlin aus in die Welt geschickt.«
»Besonders zu den deutschen Universitäten.«
»Richtig! Und wenn ich nicht irre, sitzt einer von ihnen hier am Tische, dort zwischen den Reisenden, der kleine graue Mann im braunen Rock. Er kam gestern Abend an; sein scheues, spionierendes Wesen fiel mir gleich auf, und wir Gastwirte haben Erfahrung in solchen Dingen.«
»Aber warnen?« rief der junge Mann, der den Toast auf die Freiheit des deutschen Volkes ausgebracht hatte.
»Wären wir denn schon so weit gekommen, dass wir von dem nicht mehr sprechen dürfen, wofür wir gekämpft haben? Schon nach Jahr und Tag nicht mehr?«
»Wir werden nach Jahr und Tag noch weiter gekommen sein«, sagte ein Älterer der Gruppe.
»Macht mir den Wein nicht zu Gift, den Tag nicht zum Fluch!« rief der junge Mann. »Den heiligen Tag, an dem wir bluteten, an dem unser Blut, unser Leben uns nichts war gegenüber der heiligen Sache der Freiheit, der Freiheit des deutschen Volkes. Ich lag an dem Tage auf den Tod; am zweiten Tage vorher schon hatten drei Kugeln mir die Rippen, die Schultern zerschossen; sie hätten mich für tot auf dem Schlachtfelde liegen lassen, wenn mein braver Hauptmann nicht mit seinem zerschmetterten Beine neben mir gelegen hätte. Als sie den herausholten, da rief er: ‚Zuerst den da und dann mich!‘ Und sie mussten zuerst mich unter den Toten hervorziehen — der brave Mahlberg selbst hatte sich nicht bis zu mir hinarbeiten können — dann erst durften sie ihn aufnehmen. Wir blieben aber beisammen, und wie er mich gerettet hatte, als sei ich sein Kind, so pflegte er mich wie sein Kind, und als ich am Abend des zweiten Tages nachher zum ersten Male wieder die Augen aufschlug, da waren die ersten Worte, die ich ans seinem Munde vernahm: ‚Junge, Ligny ist wiedergutgemacht. Die Franzosen sind heute geschlagen. Die ganze Armee ist mit ihrem Kaiser in wilder Flucht auf Paris zu; der alte Blücher verfolgt sie. Deutschland ist frei. Von heute an schreibt sich die Freiheit unseres deutschen Volkes!‘ Und seht, da weinten wir beide aus unserm Strohlager und wir weinten helle Freudentränen, obgleich unsere Wunden schmerzten und brannten, dass wir die Zähne zusammenbeißen mussten. Und heute, ein Jahr, erst ein Jahr später, sollte ich nicht einmal mehr davon sprechen dürfen, sollte ich Tränen des Zornes weinen müssen? Sollte ich dem braven Mahlberg — o, er war schon zwei Tage vorher bei Ligny der Tapferste der Kompanie gewesen; sein Mut hatte ihn in die Gefangenschaft geführt; durch Wunder der Tapferkeit hatte er sich wieder befreit — o, sollte ich ihm fluchen müssen, dass er mir das Leben erhielt? Nein, nein, du treuer, du edler Mann, du —«
Der Jüngling stockte plötzlich. Seine Augen starrten nach der Tür des Saales, der er gegenüber saß; er wurde schneeweiß im Gesichte, wieder glühend rot. Er sprang auf, nach der Tür hin, er breitete seine Arme aus, er lag in den Armen eines Fremden, der soeben eingetreten war.
»Mahlberg!« rief er.
»Franz, mein lieber Franz!« schloss ihn der Fremde in seine Arme.
Der Jüngling weinte und schluchzte krampfhaft und laut durch die tiefe Stille, welche plötzlich in dem Saale herrschte.
»Beruhige Dich, Franz!« sagte der Fremde wie ein Vater zu seinem Kinde. »Komm‘ zu Dir!«
Aber es dauerte lange, ehe der Jüngling Herr über sein Weinen werden konnte. Dann nahm er die Hand des Fremden und führte ihn an den Tisch zu seinen Freunden.
»Mahlberg!« sagte er dort nur, kein Wort weiter.
Sie wussten ja nun alle, wer er war.
Und sie standen alle auf und verneigten sich vor dem Fremden und zeigten ihm so, dass der Name ihnen bekannt sei und wie sehr sie ihn ehrten.
Der Fremde war ein Mann in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre. Sein Gesicht hatte edle Züge, aber es lag ein tiefer Ernst auf ihnen, und es war, als ob dieser in schweren Seelenleiden seinen Grund habe, deren Herrschaft und Ausdruck von der Kraft des Geistes und des Willens des starken, tüchtigen Mannes zurückgedrängt werde. Er ging lahm, aber er bedurfte keiner Krücke und keines Stockes; er zog nur den einen Fuß nach, der ihm in der Schlacht bei Ligny zerschossen worden war; er konnte fest und sicher auf ihn treten. Er fand an dem Tische manchen Kriegskameraden.
Hatte er auch die meisten von ihnen noch gar nicht, andere nur flüchtig gesehen — sie hatten bei verschiedenen Regimentern, meist gar bei verschiedenen Corps gestanden — die kameradschaftliche Begrüßung fand sich doch von selbst, und auch an gemeinsamen Erinnerungen aus dem gemeinsamen Kriegsleben fehlte es nicht. Die Unterhaltung wurde bald wieder lebhaft, trotz jenes Ernstes des Hauptmanns Mahlberg und trotz der Schweigsamkeit seines jungen Freundes, der ihn den andern zugeführt hatte.
Dem Ende des Tisches, an dem die Gruppe der Studenten die Erinnerung an ihre Kriegszeit feierte, hatten sich von einer andern Seite der Tafel mehrere Studierende genaht, die zu jenem Kreise nicht zu gehören schienen. Sie hatten nicht einmal so recht das frische studentische Aussehen; langes, flatterndes Haar, graue Gesichtsfarbe, hohle Augen, schwarze deutsche Röcke zeichneten sie aus.
»Brüder, Ihr feiert die Einheit des deutschen Vaterlandes«, sagten sie, »da dürfen wir dabei sein.«
»Es sind Burschenschafter!« sprachen einzelne der andern unter sich.
Die Burschenschaft wurde damals bei ihrem ersten Entstehen und noch lange Zeit nachher von der Mehrzahl der Studierenden, die nicht zu ihr gehörte, mit einem gewissen Misstrauen angesehen. Sie war mit großer Heimlichkeit gegründet; sie hielt ihren eigentlichen Zweck fortwährend im Dunkeln; was sie laut verkündete, war das Streben, eine das ganze Studenten leben umstürzende studentische Asketik einzuführen; das war den andern Phantasterei. Dazu kam, dass die Hauptpersonen der Burschenschaft sich in der Tat durch ein phantastisches Wesen hervortaten, in ihrem Äußern, in ihren Reden, in ihrem ganzen Auftreten.
Phantastereien halten nicht lange vor und Phantasten harren nicht lange aus; da wird bald ein Umschlag folgen! sagte der realistische Burschensinn.
Wie sehr er, wenigstens im Einzelnen, Recht hatte, zeigte sich schon wenige Jahre nachher.
Die Burschenschafter wurden trotz jener Bemerkungen am Tische aufgenommen.
Sie griffen den früheren Gegenstand der Unterhaltung wieder auf.
»Ja, teure Brüder«, nahm einer von ihnen das Wort — Lantermann war sein Name; er war lang und blass, sein Blick still und doch etwas unheimlich — »ja, meine teuren Brüder, Ihr habt nicht umsonst gekämpft für das große und einige Deutschland. Es wird werden, wofür Ihr Euer Blut vergossen habt: Es wird freilich noch manchen Kampfes bedürfen. Und da werden wir an Eurer Seite stehen, wir Jüngern, denen es nicht vergönnt war, an dem Kampfe gegen den französischen Erbfeind teilzunehmen. Denn wir haben noch einen andern Erbfeind, der niedergeschlagen werden muss, wenn Deutschland einig und frei werden soll, und der ist in Deutschland selbst. Jene zweiunddreißig Fürsten —«
Der