Die wichtigsten Werke von Jodocus Temme. Jodocus Temme
an ihm erworben; aber was kümmert mich das?
Meine Fran, wie hatte ich sie geliebt! Wie sie mich! Zeigten nicht jene Zeilen an mich, dass sie mich noch liebt? Und welche entsetzlichen Künste der Verführung, des Verrats hatte der Schurke anwenden müssen, um das arme Weib zu verderben! Aber an meiner Seite durfte sie nicht wieder leben. Ich durfte mich andererseits nicht gerichtlich von ihr scheiden lassen. Kein Mensch außer den drei Beteiligten kannte meine Schande. Ein Scheidungsprozess hätte sie der Welt geoffenbart.
Wir durften uns nur nicht wiedersehen, nie wieder eine Gemeinschaft miteinander haben. Das war klare, volle, feste Überzeugung in mir. Aber sie konnte das Andenken an die Arme, an die, deren Liebe mein Leben gewesen war, nicht aus meiner Brust verbannen.
Eine Freude, eine Hoffnung kam wieder in mein Herz, als Napoleon von Elba entwichen war, als der König seine Landwehren zum zweiten Male unter die Fahnen rief. In der Stunde des Aufrufs eilte ich zu meinem Regimente. Ich hoffte in dem Kampfe für den König und das Vaterland einen ehrenvollen Tod zu finden.
Du weißt, wie es anders kam. Die erste Kugel, die mich traf, zerschmetterte mir nur den Fuß, machte mich kampfunfähig für die schnell folgenden Schlachten.
Und nun, Franz, warum ich nach Göttingen gekommen bin, Gisbert Aschen aufsuche.
Meine Frau sollte mit ihrem Kinde nicht der Not anheimfallen. War sie zu stolz gewesen, von dem Verräter eine Unterstützung anzunehmen, hatte ich auch nicht den Versuch machen dürfen, ihr meine Hilfe anzubieten, so war es mir um desto mehr eine Herzenspflicht, nach meinem Tode für sie zu sorgen. Ich musste mich dazu jemand anvertrauen. Es war unser Freund und Kamerad Aschen, dem ich mich entdeckte, wenige Tage vor der Schlacht von Ligny. Er — er konnte in den Kämpfen, die uns bevorstanden, fallen wie ich — so schrieb er an seinen Onkel, den Domherrn von Aschen.
Der Domherr von Aschen hatte sich darauf sofort meiner Frau angenommen und sie untergebracht. Er hatte es bald nach der Beendigung des kurzen Feldzugs an Gisbert geschrieben; Gisbert teilte es mir mit. Seitdem habe ich nichts wieder von der Unglücklichen gehört. Ich konnte zuletzt der Sehnsucht nicht widerstehen, Nachricht von ihr zu erhalten. Den Ort, wo er sie untergebracht, hatte der Onkel Gisberts nicht genannt. Ich hätte ohne hin nicht zu ihr reisen dürfen. So nahm ich Urlaub — nach Minden war ich seit jener Begegnung mit Schilden nicht zurückgekehrt; ich ließ mich an die entlegenste Regierung des Staates, nach Gumbinnen versetzen — von dort reiste ich hierher, um durch Gisbert von seinem Onkel Nachricht über meine Frau zu erhalten und zugleich den treuen Freund wiederzusehen. Und ich treffe auch Dich hier, Du braver Franz, und ich wollte, Du könntest mit mir fühlen, wie mir wieder eine Last vom Herzen gefallen ist, nachdem ich auch dem zweiten Freunde, den ich liebe wie den ersten, mich entdecken und auch in seinen Augen habe lesen können, dass noch edles und zugleich ein so lebhaft und feurig schlagendes Herz meinem Handeln seine Zustimmung gibt.«
Mahlberg endigte seine Mitteilung.
Franz Horst hatte ihm still zugehört. Er saß auch jetzt schweigend da, in tiefem Nachsinnen; er drückte nur, wie dankbar, dem Freunde die Hand. Nach einer Weile aber sprach er:
»Du hast gehandelt wie ein Ehrenmann. Aber was Deine Ehre Dir verbot, das fordert sie von Deinen Freunden.«
»Franz«, rief Mahlberg, »hätte ich Dir darum mein Vertrauen geschenkt? Soll das Dein Dank sein?«
»Wo hält sich der Regierungsrat Schilden jetzt auf?« fragte der Jüngling.
»Ich beschwöre Dich, Franz! Stelle meine Ehre nicht doppelt bloß, indem Du sie zu beschützen meinst.«
Da sah der junge Student den älteren Freund mit so klarem Blick an.
»Fürchte nichts, Mahlberg Ich werde jenen Menschen nicht aufsuchen, nicht heute, nicht jemals; das verdient der Elende nicht. Aber der Zufall, vielmehr sein Geschick, wird ihn mir einmal entgegenführen, und dann werde ich in anderer Weise, als Du es durftest, ihm zeigen, wie man niederträchtige Verräter züchtigt. Sage mir nicht, wo er ist; er entgeht mir nicht. Und je höher sein Ehrgeiz, wie Du es nennst, ihn seine Karriere hat machen lassen, desto sicherer und gerechter wird das ihn treffen, was ihm werden muss. — Und nun sprechen wir von Gisbert. Auch ihn drückt etwas. Und es ist etwas Schweres. Ich habe es ihm oft angesehen.·Er hat allerdings einen ruhigen, fast phlegmatischen Charakter.
Aber das Phlegma, das er zeigt, ist nicht ganz seine Natur. Ein großer Teil davon ist mir immer wie gemacht vorgekommen; er will darunter den Druck, das Leiden, den Schmerz seines Innern verbergen, wie er überhaupt zu den Menschen gehört, die nicht bemerkt sein wollen, die ihr Glück am meisten in ihrem innern Leben finden. Sie müssen freilich deshalb ein gewisses Maß von Phlegma besitzen, um sich das Leben ihres Innern ruhig und harmonisch gestalten zu können. Ihr Phlegma ist ihnen dazu gleichsam der Panzer, der Fremdes und Störendes von ihnen abhält.«
»Ich glaube«, sagte Mahlberg, »dass Du unsern Freund richtig beurteilst. Es drückt ihn in der Tat etwas Schweres. Was es ist, darf ich Dir nicht sagen: es ist sein, nicht mein Geheimnis. Sein Unglück hat Ähnlichkeit mit dem meinigen, und es ist doch ein so ganz anderes, und auch er kann sich ihm nicht entziehen, er vielleicht noch weniger als ich.«
Sie hatten die Waldschenke erreicht, die das Ziel ihrer Fahrt war.
Sie waren um die Höhe des Hainbergs herumgefahren und hatten sich dann lange in dem Walde gehalten, der auf der andern Seite des Bergs sich weit in das Land hineinzieht; darauf waren sie in eine schmale Schlucht eingebogen, an deren jenseitigem Ende die Schenke, noch unter Bäumen, aber am Saume des Waldes, vor ihnen lag.
Es war ein einzelnes Haus. Vor seiner ganzen Fronte hin zogen sich zu beiden Seiten der Eingangstür zwei lange Lauben von Weinreben. Rechts war ein Stall angebaut, links ein größeres Zimmer mit hohen Fenstern, wahrscheinlich ein Tanzsaal für Sonntagsgäste.
Das Haus lag einsam und still da.
Die Stille wollte den beiden Freunden, als sie vorfuhren, fast sonderbar vorkommen. Man hatte im Hause das Nahen des Wagens schon seit ein paar Minuten hören müssen; dennoch ließ sich kein Mensch zum Empfange sehen. Der Kutscher fuhr nach der Stalltür hin, die Tür war nur angelehnt, auf einmal wurde sie von innen fester zugezogen und verschlossen, ohne dass jemand zum Vorschein kam.
»Wirtschaft!« rief Horst laut.
Auch auf den Ruf erschien niemand.
Er wollte sich verwundern.
»Die Leute hier sind doch sonst so aufmerksam.«
Er wiederholte seinen Ruf lauter.
Endlich kam eine alte Magd aus dem Hause.
Sie sah verlegen, ängstlich aus.
»Was befehlen die Herren?« fragte sie scheu.
Horst verwunderte sich noch mehr.
»He, alte Ilse, seit wann bedienst Du denn die Gäste hier? Früher war nur der Kuhstall Dein Departement.«
Die Alte hatte keine Antwort.
»Wo ist die Frau Lehmann?« fragte der Student.
»Ich weiß es nicht.«
»Wo ist denn Mariannchen?«
»Ich weiß es auch nicht.«
»Hier geht etwas vor«, sagte der Student, »und ich muss wissen, was es ist.«
Er ging in das Haus.
Er war bekannt darin.
Als er in den Flur trat, kam ihm durch eine Seitentür ein hübsches junges Mädchen entgegen.
Sie sah verstört aus wie die alte Magd.
»Mariannchen, was habt Ihr denn hier?«
»Nichts, nichts, Herr Horst.«
»Nichts, nichts? Ich muss auch das Nichts wissen, aller Logik Göttinger Professoren zum Trotz.«
Er ging zu der Tür, durch die das Mädchen gekommen war.
»Um Gottes Willen, Herr Horst!« hielt sie ihn