Stille Nacht light. Usch Hollmann
der Menschen miteinander verbindet“. Deshalb gelte man schnell als „Weihnachtsmuffel“, also als Außenseiter, wenn man Gemeinschaft und Nähe nicht aushalten könne und deshalb brauche man möglicherweise sogar psychologische Hilfe stellung. Den „Weihnachtsfreaks“ hingegen, die der Ansicht sind, dass Weihnachtsgeschenke – viele Geschenke! – als „Kitt für ein friedliches Zusammenleben“ unerlässlich sind, sei in diesen Wochen dringend eine adventliche Entschleunigung anzuraten. Das Fest der Liebe könne sonst durch vorweihnachtlichen Stress schnell zu einem Desaster ausarten.
Nachdenklich glättete ich die schon arg zerfledderte Zeitung und überlegte: Bin ich ein Weihnachtsmuffel? Womöglich sogar eine Außenseiterin? Kann ich Gemeinschaft und Nähe gut aushalten?
Ich riss eine weitere Seite heraus und stopfte sorgfältig auch den zweiten Schuh aus.
Nein, ich bin zwar kein ausgesprochener „Weihnachtsfreak“, aber ein „Weihnachtsmuffel“ bin ich deshalb noch lange nicht. Ich kann Nähe gut aushalten. Ich freue mich sogar darauf, meine Familie und gute Freunde um mich zu haben. Die Vorweihnachtszeit jedoch empfinde ich seit langem als eher belastend und überhaupt nicht gemütlich, geschweige denn besinnlich, trotz Adventskranz und Kerzenlicht und Plätzchenbacken. Immer diese Hektik, von der man sich allzu leicht anstecken lässt. Wenn ich nur an den von angesagten Stilberaterinnen jährlich neu verordneten Deko-Stress für den Tannenbaum denke: Unsere seit immer und ewig verwendeten roten Kerzen und Kugeln gelten inzwischen als bestenfalls grenzwertig, seien aber genau genommen ein absolutes „No-go“. In diesem Jahr sei eine violette Deko ein „Must-Have“.
Frechheit – was fällt diesen Tussis ein? Wer ernennt sie überhaupt zu „angesagten Stilberaterinnen“? Das jahrzehntelang totgesagte Lametta als Schmuck für den ultimativen Tannenbaum sei hingegen wieder „mega-in“, seit es der chemischen Industrie gelungen ist, die glänzenden, spaghettilangen Fäden aus umweltfreundlichen Substanzen herzustellen. Jedoch gelte das Dekorieren der Christbaumzweige mit Engelhaar aus weißglänzender Glaswolle als ein absolut unverzeihliches „Not-to-do“.
Wie bitte? Ich liebe Engelhaar – seit den längst vergangenen Kindertagen gehört Engelhaar zu unserem Weihnachtsbaum, und das soll ich mir ausreden lassen? Soweit kommt das noch …
Bin ich ein Weihnachtsmuffel, wenn mich die vielen Weihnachtsfeiern anöden? Und die Dauerberieselung mit Weihnachtsliedern in den Kaufhäusern? Und die vielen Weihnachtsmärkte, die alle mehr oder weniger dasselbe anbieten?
Wer immer mir in dieser Zeit über den Weg läuft, klagt über fehlende Geschenkideen, über die jährliche wachsende Flut von Bettelbriefen in den Briefkästen – und alle fühlen sich gehetzt und genervt und überfordert. Und ich?
Ich las den Artikel noch einmal sorgfältig durch. Also das mit der adventlichen „Entschleunigung“, wozu die Soziologen, Psychologen und Anthropologen raten, das nehme ich mir schon seit Jahren vor. Ich will mich nicht immer wieder von vorweihnachtlicher Hektik anstecken lassen – aber meistens bleibt der gute Vorsatz auf der Strecke und ich hetze doch wieder mit einer endlos langen Einkaufsliste durch die Läden. Aber dieses Jahr soll alles anders werden. Dieses Jahr ziehe ich das mit der Entschleunigung durch, aber hallo! Ihr Soziologen, Psychologen und Anthropologen: Auch wenn ich weiß Gott kein „Weihnachtsfreak“ bin – bei mir fallen eure mahnenden Worte auf fruchtbaren Boden! Jetzt gleich fange ich mit der adventlichen Entschleunigung an.
Ich stellte meine mit Zeitungspapier vorschriftsmäßig ausgestopften Schuhe zum Trocknen auf die Kellertreppe und goss mir erst einmal einen Wintertee mit Zimt- und Bratapfelaroma auf. Schluss mit Stress und Hektik!
Am nächsten Tag bummelte ich – total entspannt im Hier und Jetzt – durch die Stadt. Auch das Wetter hatte sich beruhigt. Weder Bratwurstdüfte noch aufdringliche Weihnachtsmänner konnten mich aus der Ruhe bringen. Und wen treffe ich im Gewühle? Eine Schulfreundin aus längst vergangenen Tagen – Marlies. So eine Überraschung!
„Gehen wir einen Kaffee trinken?“
„Na klar, obwohl – eigentlich habe ich keine Zeit. Wer hat zwei Wochen vor Weihnachten als Hausfrau und Mutter schon Zeit und Muße zum Kaffeetrinken?!“ Marlies machte einen gestressten Eindruck, und ich sah das Treffen mit ihr als eine günstige Gelegenheit, mein erst kürzlich erworbenes neues Wissen über die Notwendigkeit einer adventlichen Entschleunigung an den Mann bzw. – in diesem speziellen Falle – an die Frau zu bringen.
Es gelang mir, sie davon zu überzeugen, dass wir aus mehreren Gründen die unverhoffte Gelegenheit zu einer gemütlichen Plauderstunde nutzen sollten.
Wir fanden einen Platz in der hintersten Ecke eines Cafés. „Zwei Tassen Kaffee bitte“, und schon ging es los: „Wie geht es dir? Was machen die Kinder? Wohnt ihr immer noch im elterlichen Haus?“ Fragen über Fragen, hin und her. „Und wie geht’s deinem Mann, Ludger?“ Marlies seufzte. „Auf den bin ich im Moment nicht gut zu sprechen, der macht mich zu all dem Weihnachtsstress noch zusätzlich nervös … dabei hat er mir gestern eine ‚Stille Nacht light‘ angekündigt.“
Stille Nacht light? „Wie muss man sich die vorstellen?“
Marlies seufzte wieder.
„Er will Weihnachten kochen.“
„Und? Das ist doch eigentlich ein nettes Angebot. Was spricht dagegen?“
„Was dagegen spricht? Ludger hält sich für den hiesigen Eckart Witzigmann. Und das, obwohl er nicht täglich Schickimickifutter in einem feudalen Fresstempel für zahlungskräftiges Publikum kocht, sondern höchstens alle Jubeljahre mal in der hauseigenen Küche etwas für die hauseigenen Esser brutzelt, streng nach Rezepten aus dem Internet und getreu seinem Motto: Wer lesen kann, kann auch kochen. Um ehrlich zu sein: Meistens kocht er erstaunlich gut, aber es misslingt natürlich auch einiges, und – das ist das eigentliche Problem – er hat kein Gespür für die erforderlichen Mengen. Meistens kocht er Portionen, mit denen man das halbe Vaterland verköstigen könnte.“
„Aber ihr habt doch bestimmt eine Gefriertruhe, warum frierst du den Überschuss nicht ein?“
„Darf ich nicht. Durch den Prozess des Einfrierens gingen wertvolle Aromen flöten, behauptet Ludger … so ein Quatsch, aber er lässt es sich nicht ausreden. Und deshalb müssen wir oft, wenn Ludger gekocht hat, drei Tage hintereinander dasselbe essen, bis es uns zum Hals heraushängt. Aber zu seiner Rechtfertigung zitiert er immer Wilhelm Buschs Witwe Bolte: Wofür sie besonders schwärmt, wenn es wieder aufgewärmt. Unsere Geschmacksnerven müssten verkümmert sein.“
Marlies kam in Fahrt. Wir bestellten zwei weitere Tassen Kaffee.
„Und jetzt hat er sich zu Weihnachten als Koch angeboten, angeblich um mich zu entlasten. Ich solle einmal ganz entspannt und ohne Küchenstress Weihnachten feiern können. Außerdem hätten wir bei den vielen Weihnachtsessen alle zugenommen, deshalb wäre in diesem Jahr zum Fest der Liebe ‚Stille Nacht light‘ angesagt, besonders was das Essen anbetrifft: Vorspeise light, Hauptgericht light, Nachtisch light. Und davor graut mir.“
Sie verdreht die Augen zur Decke.
„Und besonders graut mir davor, dass er sich vorgenommen hat, uns mit einem Sauerbraten zu verwöhnen. Ulrike, ich bitte dich: Weihnachten und Sauerbraten! Zu Weihnachten gibt es in deutschen Esszimmern oder Küchen entweder Kartoffelsalat mit Würstchen oder Gänsebraten – oder neuerdings Fleischfondue, aber doch niemals Sauerbraten. Aber er bleibt stur: Seine Mutter hätte traditionell an Weihnachten immer Sauerbraten zubereitet, mit Rosinen in der braunen Tunke und mit Klößen als Sättigungsbeilage. Und schon damals hätte der Sauerbraten am zweiten Tag – aufgewärmt! – noch besser geschmeckt als am ersten. Fräulein, bitte zwei Glas Prosecco.“
Ich wollte protestieren, aber da fiel mir mein guter Vorsatz in Bezug auf die vorweihnachtliche Entschleunigung ein, also hielt ich den Mund.
„Ich seh’ es kommen, dass wir vom 25. Dezember bis Silvester Sauerbraten essen müssen. Deshalb hält sich meine Vorfreude auf eine Stille Nacht light sehr in Grenzen.“
Wir prosteten uns zu: „Auf die adventliche