Die Umrundung des Nordpols. Arved Fuchs

Die Umrundung des Nordpols - Arved Fuchs


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Mit über 5 Knoten knallt der stahlbewehrte Steven der DAGMAR AAEN gegen eine Eisscholle, die genauso wenig nachgibt wie eine Kaimauer. Ich bin ärgerlich und lasse meinem Unmut freien Lauf. »Völlig unnötig so etwas!«, rufe ich verdrossen, »das ist erst der Anfang und ihr fahrt hier durch das Eis als sei es Styropor!«

      Die DAGMAR AAEN kann das zum Glück ab, aber so etwas darf einfach nicht passieren. Ein schwächer gebautes Schiff hätte jetzt ein Loch oder zumindest eine gewaltige Beule. Aber das Erlebnis sorgt dafür, dass dem Eis fortan mit mehr Respekt begegnet wird. Konzentriert wird Ausguck gegangen. Der Rudergänger gerät trotz der kühlen Witterung ins Schwitzen, da er ständig am Kurbeln ist. Im Zickzackkurs geht es weiter. Gegen Mittag macht sich eine leichte Dünung bemerkbar, ein untrügliches Zeichen dafür, dass sich das Eis ausdünnt.

      Dafür kommt ein »eisiges« Fax aus Murmansk an Bord geflattert. In einem harschen Ton werden wir aufgefordert, angefügte Erklärung zu unterschreiben und unverzüglich nach Moskau zu faxen – anderenfalls würden wir im nächsten Hafen festgenommen werden. Slava ist empört. »Wir haben alle Papiere, sämtliche Genehmigungen, was soll das nun schon wieder?« Das Papier wäre kurios, wäre es nicht in einem so geharnischten Tonfall verfasst. Der Inhalt lässt sich in einen Satz zusammenfassen: Wir müssen zusichern, dass wir keinerlei militärische Anlagen fotografieren werden – und sie nicht einmal beobachten würden! Militärische Anlagen dürfen in der Regel nirgendwo auf der Welt fotografiert oder gefilmt werden. Aber hinschauen? Wer wollte uns das verwehren oder gar überprüfen? Slava hatte zudem in Murmansk bereits gefragt, ob es Sperrgebiete gibt, denen wir nicht zu nahe kommen dürften. Mit dem Hinweis, dass man uns diese Gebiete nicht nennen könne, weil wir dann ja um ein militärisches Geheimnis wüssten, hatte man uns diese Information verweigert. Mit einer Ausnahme – Nowaja Zemlja! Aber wie sollen wir wissen, wo wir hinschauen dürfen und wo nicht, wenn uns Gebiete der militärischen Anlagen nicht bekannt sind? Es gibt keine Angaben von Sicherheitszonen oder Sperrgebieten – es ist kurios. Wenn es nach den Behörden ginge, müssten wir mit geschlossenen Augen durch die Passage segeln. Aber was soll’s. Wir sind hier, und Moskau ist weit weg. Brav unterschreibe ich alle Papiere und faxe sie nach Moskau. So einfach ist das. Es lebe der Formalismus.

      Das Wetter bleibt schlecht. Wir haben Gegenwind und dampfen gegenan. Je weiter wir uns dem Mündungsgebiet von Ob und Jenissei nähern, desto häufiger treffen wir auf Baumstämme. Die teilweise riesigen Stämme stammen von den Holzeinschlaggebieten im Inneren Sibiriens. Bisweilen treffen wir auf ganze Felder von Baumstämmen, von denen einige senkrecht treiben und daher schwer auszumachen sind. Ansonsten bleibt das Meer leer. Keine Schiffe weit und breit. Was ist aus den Visionen eines Jonas Lied, eines Eduard Dallmann oder eines Kapitän Wiggins geworden? Was aus der Infrastruktur zur Zeit der Sowjetunion? Eine ganze Region mit einem ungeheuren Potenzial liegt brach und scheint in einen Dornröschenschlaf versunken zu sein.

      Die DAGMAR AAEN in ihrem Element. Irgendwie kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, dass dem Schiff das raue Wetter Spaß bringt. Wir hingegen müssen uns erst wieder daran gewöhnen.

      Auch wenn das Eis auf den ersten Blick mürbe wirkt – es ist immer noch etwa zwei Meter dick.

      Frank Mertens betrachtet auf dem Rechner die Bahndaten der NOAA-Satelliten. Werden wir eine brauchbare Eiskarte erhalten?

      Vorbereitung

      für den

      Absprung

      DIKSON

      •

      73° 30‘ N; 80° 34‘ E

      06

      Warum gibt es diesen Ort eigentlich? Eine Frage, auf die wir bis zum Schluss keine Antwort erhalten.

      Dikson liegt an einem strategisch interessanten Punkt. Es ist nicht die unmittelbare Umgebung der Ortschaft, die Reisende locken könnte, aber von hier könnte man beispielsweise mit Flussboten den Jennissei bereisen. Zu Sowjetzeiten hatte es das bereits gegeben. Schließlich ist das der Grund, weshalb Dikson überhaupt errichtet wurde. Versorgungseinrichtungen für Schiffe, gegebenenfalls sogar für Kreuzfahrtschiffe, die durch die Passage fahren und hier Station machen würden: Damit wäre sicherlich Geld zu verdienen.

      Wie in fast jedem russischen Ort gibt es auch hier ein kleines Museum. In Vitrinen verteilt lagern Knochenreste von Mammuts, die es noch vor rund 10.000 Jahren in großer Stückzahl gegeben hat und von denen man heute immer noch Stoßzähne oder Knochen findet; bisweilen sogar komplett erhaltene Kadaver, die der Permafrostboden konserviert hat. Daneben Fotos über die Erschließung der Passage, Eisbrecher im Einsatz, militärisches Gerät aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Wir hören die Geschichte über die Beschießung der Stadt durch die ADMIRAL SCHEER im Jahre 1942.

      Auch unser Freund Wassia ist überglücklich über unseren Besuch. Stolz erzählt er uns, dass er die ehemalige Hafenfähre VEGA, benannt nach Nordenskiölds Schiff, gekauft hat. 1992 pendelte die Fähre zwischen dem Festland und der zu Dikson gehörenden Insel im Sommer hin und her. Heute leben kaum noch Menschen auf der Insel, insofern braucht auch niemand mehr eine Fähre. Und wenn doch einmal Bedarf besteht, übernimmt die Coast Guard den Transport. Die VEGA liegt hoch und trocken an Land. Sie ist ein bisschen vergammelt, scheint aber ansonsten in Ordnung zu sein. Wassia hat große Pläne: Er möchte mit dem Boot eine Art Fährdienst zu den kleineren Orten und Dörfern am unteren Jenissei aufnehmen, von den dort lebenden Menschen Fisch und Fleisch kaufen und im Gegenzug andere Nahrungsmittel verkaufen – sozusagen ein Kaufmannsladen zu Wasser. Slava kann sich sofort vorstellen, dass das gut klappen könnte. Ein bisschen Geld fehlt ihm noch, um das Boot zu überholen, in diesem Sommer würde es wohl nichts mehr, aber im nächsten ganz bestimmt. Derweil arbeitet er im Kraftwerk, dessen dumpf grollende Dieselmotoren in der ganzen Ortschaft zu hören sind.

      Mitte der Neunzigerjahren waren die Motoren mitten im Winter ausgefallen und damit auch die Stromversorgung. Zur Sicherheit hatte man die Kinder und ältere Menschen evakuiert, der Rest der Bevölkerung blieb – trotz der brutalen Kälte. Heizungen und Wasserleitungen froren ein. Bei Petroleumlampen und offenen Feuern im Kraftwerk reparierte man fieberhaft, bis der Erste der Motoren wieder ansprang. Das Ganze zog sich über Wochen hin, aber irgendwann war das Schlimmste überstanden. Zwar musste wegen der geplatzten Wasserleitungen den ganzen Winter über – und der dauert in Dikson im Schnitt neun Monate – improvisiert werden, aber man hatte keinen Meter preisgegeben. Das ist etwas, was mich nachhaltig beeindruckt. Mit stoischer Ruhe wird dem größten Ungemach, der größten Not begegnet. Und irgendwie kommt man durch. Man stelle sich eine vergleichbare Situation in Deutschland vor! Wenn es bei uns mal hagelt, ist Katastrophenalarm, bei den ersten Schneeflocken steht der Verkehr. Aber bei −45 °C in totaler Dunkelheit und ohne Hilfe von außen in seiner ungeheizten Wohnung sitzen? Auch die Menschen, die in Sibirien leben, sind keine Eskimos – sie haben nur gelernt, mit den Situationen umzugehen und sind damit in Krisensituationen viel lebensfähiger als die Menschen bei uns, wo schon ein kaputter Fernseher zu Familiendramen führt.

      Wir bekommen Besuch von einem Hydrografen. Mit ernster Miene unterbreitet er Slava, dass er uns Ratschläge für die weitere Passage geben wolle. Er hat sein gesamtes Berufsleben auf Wetterstationen im Norden verbracht und ist eine unerschöpfliche Informationsquelle. Interessant ist seine Einschätzung hinsichtlich der Eislage. Er glaubt, dass wir ein günstiges Eisjahr erwischt haben. Gewisse Hinweise und Indizien sprechen dafür, dass es milder als sonst ist. Aufs Global Warming angesprochen reagiert er vorsichtig, schließt es aber auch nicht aus. Wir erhalten von ihm wertvolle Hinweise über Buchten und Flussmündungen, in denen man notfalls Schutz vor Eis suchen könnte. Er zählt die Polarstationen auf, die heute brach liegen, gibt Hinweise auf Strömungen und Eisdriften – wir hören ihm gebannt zu und Henryk macht eifrig Notizen. Zwischendurch bringen wildfremde Menschen frischen Fisch für uns. Uns wachsen bald Schuppen, aber wir sind gerührt über die Freigebigkeit dieser Leute. Am Abend vor unserer Abfahrt kommt der Bürgermeister mit seinem Vertreter zu Besuch. Als Gastgeschenk bringen


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