Die Umrundung des Nordpols. Arved Fuchs
Interesse hat offenbar nachgelassen.
Ein Stück weiter stoßen wir dann doch noch auf eine kleine Anhängerschar von ihm. Rote Fahnen mit Hammer und Sichel, über Megafon werden markige Reden gehalten. Ich verstehe zwar kein Wort, aber gerade deshalb ist vielleicht meine Beobachtungsgabe intensiver. Die Zuhörer sehen eher desinteressiert aus, blinzeln bisweilen gelangweilt in die Sonne, drehen sich um und gehen weiter.
Unweit des Roten Platzes holt uns dann doch ein Stück des alten Russlands wieder ein. Wir queren gerade einen Platz, als wir von zwei jungen Polizisten angehalten werden. Da ich kein Russisch verstehe, kann ich nur ahnen, um was es geht. Rein äußerlich heben wir uns dank unseres Anzuges und der Krawatte nicht von anderen Geschäftsleuten ab, deshalb ist Slava erstaunt, wie es zu dieser Kontrolle kommt. Unsere Pässe werden überprüft und an Slavas Tonfall kann ich eine zunehmende Verärgerung spüren. Erst als er in schneller Folge einige Namen nennt und auf das nahe gelegene Gebäude der Duma, dem russischen Parlament, weist, erhalten wir unsere Pässe zurück und dürfen unseren Weg fortsetzen. Slava ist zornig. Die Polizisten hatten ihn gerade darüber aufgeklärt, dass sich jeder russische Staatsbürger, der nicht in Moskau wohnhaft ist, bei einem Besuch in der Stadt bei der Polizei anmelden muss. Ein Ding der Unmöglichkeit. Slava hat geschäftlich ständig in Moskau zu tun, auch wenn er rund 200 Kilometer entfernt lebt. Sich jedes Mal anmelden, hieße stundenlanges Warten auf irgendwelchen Polizeistationen, Fragen beantworten, Formulare ausfüllen – so etwas kann sich auch im Russland von heute kein Geschäftsmann mehr leisten. Außerdem ist die Bestimmung verfassungswidrig! Jeder weiß das hier, einige Polizisten halten sich dennoch daran, sehr zur Verärgerung der Bevölkerung. Und alle leben mit dem Widerspruch. Eine Änderung ist derzeit nicht in Sicht.
Das mächtige Gebäude der Duma liegt jetzt unmittelbar vor uns. Wir haben einen Termin, wir werden erwartet. Für Menschen wie uns, die nicht dem Diplomatischen Corps angehören, dürfte es eher die Ausnahme sein, dass man Zugang zum russischen Parlament erhält oder sogar von höchster Stelle aus eingeladen wird. Der Vizepräsident der Duma, Arthur Chilingarov persönlich, hat uns einbestellt, und es war eben auch dieser Name, der die beiden Polizisten von einer weiteren Untersuchung abgehalten hatte. Der Name wiegt schwer in Moskau, wir treffen hier nicht auf irgendeinen Politiker. Slava, der einige Male hier gewesen war um Papiere abzugeben, war bislang lediglich bis zur Security gelangt, wo man ihm dann die Papiere abgenommen und weitergeleitet hatte. Heute hingegen erwartet uns ein Assistent von Herrn Chilingarov, der den Sicherheitsbeamten mit einem Wink zu verstehen gibt, dass sie uns passieren lassen können. Ihr Blick ist allen Security-Beamten und Bodyguards, die ich kennen gelernt habe, eigen. Es wohnt eine gewisse Form der Leere, der Kälte, der Wachsamkeit und der absoluten Distanz in ihm. Aber das muss wohl so sein.
Wir werden von dem Assistenten per Handschlag begrüßt, zu einem Lift geführt und wenige Momente später und einige Etagen höher in einen getäfelten Raum geleitet, dessen Wände wie eine Fotogalerie mit Motiven aus der Arktis und Antarktis geschmückt sind. In der Ecke läuft ein Fernseher, in dem gerade das Fußball-WM-Spiel Deutschland gegen die USA zu sehen ist – ich habe kaum einen Blick dafür.
Dieser Raum ist zumindest für einen Politiker ungewöhnlich. Wir werden höflich gebeten hier zu warten und nutzen die Gelegenheit, uns die Bildergalerie anzusehen. Arthur Chilingarov mag ein wichtiges politisches Amt innehaben – seine große persönliche Leidenschaft gehört jedoch seit Jahrzehnten der Erforschung der Polarregionen. An wie vielen Expeditionen er direkt oder indirekt mitgewirkt hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Aber bereits 1989 hatte ich seinen Namen in der Antarktis gehört, wo er als Schirmherr einer internationalen Expedition geführt wurde. Herr Chilingarov ist nicht irgendjemand, er ist der letzte Held der Sowjetunion und eine Institution in allen Bereichen und Belangen der Polarforschung.
»Geduld – ein großes Wort und eine Tugend, die in Russland zur Grundausstattung eines jeden Reisenden gehören sollte. Wer glaubt, dass man mal so eben die Hoheitsgewässer Russlands durchqueren kann, irrt gewaltig.«
Man kommt nicht so einfach an einen Mann wie Arthur Chilingarov heran. Monatelang hatte Slava bei allen zuständigen Behörden versucht, eine Genehmigung für unsere Expedition zu bekommen. Er bekam weder eine Zusage noch eine Absage – meistens wurde er nur vertröstet, er solle sich gedulden. Geduld – ein großes Wort und eine Tugend, die in Russland zur Grundausstattung eines jeden Reisenden gehören sollte. Aber mir brannte die Zeit unter den Nägeln. Die Expedition war organisatorisch, finanziell und logistisch auf den Weg gebracht worden. Ich hatte Verträge mit Sponsoren geschlossen, viel Geld für den Umbau und die Überholung der DAGMAR AAEN ausgegeben, eine erwartungsvolle Mannschaft zusammengestellt, von der jeder Einzelne ebenfalls Weichenstellungen in beruflicher wie auch privater Hinsicht getroffen hatte. Wenn ich die Genehmigung nicht erhalten würde, stünde ich da wie ein Hochstapler.
Aber man segelt nicht so einfach in den Norden Sibiriens. Diese Erfahrung haben wir auf unseren früheren Expeditionen dorthin machen können. Naiv deshalb der Versuch eines Holländers, der im Vorjahr versucht hat, einhand und ohne jede Genehmigung nach Murmansk einzureisen, um von dort aus durch die Nordostpassage zu segeln. Höflich, aber bestimmt hat man ihn wieder nach Norwegen zurückgeschickt – wer glaubt, dass man mal so eben die Hoheitsgewässer Russlands durchqueren kann, irrt gewaltig.
Aus diesem Grund hatte ich mich über den befreundeten Bundestagsabgeordneten Franz Thönnes ans Auswärtige Amt gewandt mit der Bitte, unser Expeditionsvorhaben bei den zuständigen russischen Behörden zu unterstützen. Gleichzeitig schrieb ich erstmals einen Brief an Herrn Chilingarov, der ihm mit diplomatischer Post seitens der Deutschen Botschaft in Moskau zugestellt wurde. Nach beharrlichem Insistieren der deutschen Botschaft kam endlich eine Antwort, die ich kaum glauben konnte: Arthur Chilingarov persönlich wolle sich um das Projekt kümmern. Danach überschlugen sich die Ereignisse. Slava telefonierte fast täglich mit den Assistenten von Herrn Chilingarov. Mit einem Mal kam Bewegung in das Genehmigungsverfahren und wie ein »Sesam öffne dich« bewegten sich wie von Geisterhand Behördentüren, die vorher trotz aller Bemühungen verschlossen blieben. Die Vorarbeit hatte zweifellos Slava geleistet. Expeditionsbeschreibungen waren von ihm detailliert ins Russische übersetzt worden, seitenlange Anträge bei den zuständigen Behörden eingereicht und endlose Telefonate geführt worden. Zusätzlich war er persönlich immer wieder vorstellig geworden – der Zeitaufwand, den er für die Expedition betrieb, war gigantisch. Und jetzt endlich der Durchbruch!
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Wir werden vorgelassen. Das Büro, geräumig und edel ausgestattet, ist ebenfalls mit Landkarten und Fotos von Arktis und Antarktis geschmückt. Eine Kartenprojektion, bei der jeweils der Nordpol bzw. der Südpol sozusagen in der Draufsicht im Mittelpunkt einer Karte liegt, ist im Normalfall eher selten anzutreffen. Wer sich solche Karten an die Wand hängt, muss vom Polarvirus befallen sein. Dazwischen Urkunden, die ihn als Mitglied des Explorer Club, der Royal Geographical Society und anderen namhaften Institutionen ausweisen.
Arthur Chilingarov, ein großer vollbärtiger Mann, kommt auf mich zu und schüttelt mir die Hand. Mit der anderen Hand weist er uns einen Platz an dem Besprechungstisch zu. Er hält sich nicht lange mit Floskeln auf, sondern kommt sofort zur Sache. Über einen Dolmetscher lässt er fragen, warum ich diese Expedition durchführen möchte, worin meine Qualifikationen bestehen, was für ein Schiff wir einzusetzen gedenken und über welche Erfahrung die Crew verfügt. Ohne Umschweife beantworte ich seine Fragen genauso direkt wie sie kommen. Ich erzähle ihm unter anderem von meiner Nordpol-Expedition wie auch von der Durchquerung des antarktischen Kontinents. »You did that? When was it?« Zum ersten Mal spricht er mich direkt auf Englisch an. Zur gleichen Zeit, zu der wir damals auf Ski unterwegs waren, durchquerte eine internationale Expedition die Antarktis mit Hundeschlitten, und kein geringerer als Herr Chilingarov war seinerzeit der Schirmherr der Expedition gewesen. Es gibt direkte Anknüpfpunkte. Als ich ihm über die Durchsegelung der Nordwestpassage mit der DAGMAR AAEN sowie über einige andere meiner vorangegangenen Expeditionen berichte, ist das Eis gebrochen. Der Tonfall wird lockerer, ungezwungener.
»Ich müsse verstehen«, wird mir vom Dolmetscher übersetzt, »dass Herr Chilingarov sich schon eingehend über eine geplante Expedition informieren müsse, bevor er die Schirmherrschaft übernehmen könne«. Habe ich richtig gehört? Sagte er Schirmherrschaft? Aber der Dolmetscher übersetzt fleißig weiter ins Englische und immer wieder fällt dabei