Letzte Fahrt. Robert Falcon Scott
Was ist das doch für ein aufregendes Spiel! Nichts lässt sich für eine halbe, ja für eine Viertelstunde voraussagen! Eben sieht noch alles günstig aus – im nächsten Augenblick schon möchte man wieder verzweifeln!
Um 3 Uhr früh wurde gemeldet, dass das Eis auseinandergehe, und daraufhin sofort angeheizt. Anfangs sah es schlimm aus, es dauerte mehr als eine halbe Stunde, ehe wir in Gang kamen, um uns nach einem großen Eisfeld hinzuarbeiten, das das Schiff unter Dampf voraussichtlich zerbrechen konnte. Dann aber weigerte es sich zu meinem Entsetzen, den Kampf mit dem Eisfeld aufzunehmen, und wir mussten unter endlosen Schwierigkeiten eine Rinne aufsuchen, die das Feld durchsetzte. Ein neues Feld stellte sich uns entgegen, es wurde umfahren und nun waren wir von 6 Uhr an ziemlich imstande, unseren Kurs zu halten. Um 8 Uhr erreichten wir sogar eine lange Durchfahrt offenen Wassers und frohlockten schon, aber dann stießen wir wieder auf mächtiges Buchteis. Unzweifelhaft verursacht dieses Buchteis die offenen Rinnen.
Schneeböen sind in Pausen vorübergezogen, der Wind bleibt nordwestlich und es ist verhältnismäßig warm. Heute Abend sahen wir den ersten Kaiserpinguin.
Montag, 19. Dezember. In der Nacht drängten wir uns durch einige der ungeheuersten Eisfelder, die ich je gesehen habe. Die Presseisrücken überragten die Oberfläche um 7 Meter, das Eis musste also mindestens 9 Meter in die Tiefe gehen, und die Stöße, die wir erhielten, machten den Eindruck unwiderstehlicher Festigkeit. Später kamen wir in lange Wasserkanäle und dünnes loses Packeis und machten Fortschritte. Aber der Ausblick heute Morgen ist der schlimmste, den wir bisher hatten. Ringsum mächtiges, aufgepresstes Packeis, so weit das Auge reicht, und überall gleich beunruhigend! Dabei fürchte ich, dass wir unser Steuer überanstrengt haben; nach einer Richtung hin funktioniert es nicht mehr! Wohl oder übel habe ich mich jetzt entschlossen, nach Westen vorzudringen – bloß heraus aus diesen fürchterlichen Eisfeldern! Es ist wirklich Pech!
Mittags. 67° 54 ½’ südlicher Breite, 178° 28’ westlicher Länge. Schon wieder alles verändert! Ich weiß nicht, ob zum Guten oder Bösen! Das alte Eis ist weniger geworden, aber die Jungeisfelder, die ohne Zweifel alte Schollen umschließen, sind ungeheuer an Umfang gewachsen. Eines, das wir gerade passiert haben, muss fast 2 Kilometer breit sein; also ist die Dünung gleich null und das offene Wasser sehr fern!
Nachmittags 5 Uhr 30. Wir fuhren an zwei ungeheueren Eisbergen vorüber, die lange Furchen offenen Wassers im Packeis hinterließen. Durch diese Furchen kamen wir mit fast 6 Kilometer Geschwindigkeit vorwärts, aber leider nach Südosten, und mit schwerem Herzen beobachtete ich das Anwachsen der Eisfelder auf beiden Seiten unserer Kanäle zu riesigen Dimensionen. Nur eins überraschte mich angenehm: Sie nahmen an Dicke ab. Gegen ½ 5 Uhr kamen wir an einem halben Dutzend tafelförmiger Eisberge von 5 bis 6 Metern Höhe vorüber.
Jenseits dieser Berge, wurde dann gemeldet, gäbe es kein offenes Wasser mehr! Was nun? Mich packte die heftigste Unruhe. Ich sah uns schon auf endlose Wochen im Eis gefangen und nordwärts treiben und schließlich in weit vorgeschrittener Jahreszeit erst wieder frei werden. Umso erfreulicher war dann der Kontrast dieser trübseligen Vorstellungen mit der Wirklichkeit. Das Eis ringsumher erwies sich als kaum einen Meter dick, Wassertümpel standen darauf und allenthalben öffneten sich Durchfahrten mit leichtem und losem Packeis. Welch eine Erleichterung! Es schien uns fast wie eine Erlösung aus langer, grauenhafter Gefangenschaft. Evans riet zweimal dringend haltzumachen, und dreimal schwankte ich selbst! Welch ein Glück, dass ich mich nicht habe umstimmen lassen! Wenigstens liegt jetzt wieder eine gewaltige Fläche gefügigen Eises hinter uns!
Wir sahen heute Morgen einen jungen Kaiserpinguin; als wir ihn zu fangen versuchten, tauchte ein Walfisch mit einer über einen Meter hohen, säbelförmigen Rückenflosse dicht neben dem Schiff auf; Wilson hält ihn für eine neue Art. Am Abend sahen wir zwei Seeleoparden; der eine machte kurze, lässige Tauchversuche unter den Eisfeldern und hatte schöne schlängelnde Bewegungen. Ein hübscher Anblick ist es auch, wenn die Schneesturmschwalbe und der Eissturmvogel in ihrer geduckten Haltung auf umgeschlagenen, überfluteten Schollen tauchen.
Dienstag, 22. Dezember. Wir scheinen uns wieder in Geduld üben zu müssen. Das Eis hat sich abermals geschlossen und wir haben das Feuer ausgehen lassen müssen! Die Anzeichen von Pressungen haben sich wieder vermehrt. Eisberge waren die vorige Nacht nur wenige sichtbar, aber heute erscheinen sie wieder. Der Wind weht aus Westsüdwest mit Stärke 6; wenn er sich legt, wird sich das Eis wohl wieder öffnen!
Mittwoch, 21. Dezember. Wilson ging über das Eisfeld, um einige Pinguine zu fangen. Er legte sich der Länge nach auf den Boden und begann zu singen, worauf die Tiere eilig auf ihn zuwatschelten; aber sobald er aufhörte, machten sie sich wieder davon. Es waren lauter einjährige Vögel, deren unüberwindliche Neugierde stark mit Furcht gemischt war. Gesang übt auf sie die größte Anziehungskraft aus; Meares mit seiner vollen, wohlklingenden Stimme lockt sie am besten. Wenn er sein »Gott erhalte unseren König« anstimmt, stürzen sie sich fast regelmäßig ins Wasser.
Ponting hat wunderschöne Fotografien aufgenommen und Wilson ebenso entzückende Bilder des Packeises und der Eisberge gemalt. Auch von den Übrigen entpuppen sich Day, Taylor, Debenham und Wright als talentvolle Zeichner.
Donnerstag, 22. Dezember. Die Glücksgöttin scheint uns jede Art Hindernis in den Weg legen zu wollen. Alles ist unverändert, nur haben wir das Feuer ausgehen lassen, obgleich sich Eisberge dem Schiff nähern. Aber wir müssen es darauf ankommen lassen, wie wir ihnen entwischen, wir dürfen keine Kohlen mehr vergeuden. Auch mit den Ponys geht es beständig bergab.
Freitag, 23. Dezember. Gestern Abend gegen 10 Uhr wurde der Wind gelinder, und das Schiff drehte sich um seinen Anker. Die Segel wurden auf dem Fockmast gesetzt, und wir drangen ein paar Hundert Meter nordwärts vor, aber dann war es wieder aus.
Heute Morgen sah ich einen von Wilsons neuen Walfischen von etwa 8 oder 10 Metern Länge. Adeliepinguine begegnen uns in Scharen von zwanzig und mehr; ich erinnere mich nicht, im Packeis je so viele beisammen gesehen zu haben.
Sonntag, 25. Dezember, Weihnachten. 69° 5’ südlicher Breite, 178° 30’ westlicher Länge. Es ist etwas allzu weihnachtlich um uns. Eis umgibt uns, niedrige Regenwolken verdunkeln den Himmel und streuen von Zeit zu Zeit leichte Schneeflocken hernieder. Hier und dort bilden kleine Tümpel offenen Wassers schwarze Schatten, aber leider herrscht dieses Schwarz nur in der Richtung vor, aus der wir gekommen sind, sonst leuchtet überallhin eine einzige weiße Nebelfläche. Wir sind regelrecht gefangen und können weder unter Segel noch unter Dampf einen Schritt vorwärts. Wieder heißt es Geduld und abermals Geduld! Doch sind wir hier wenigstens in ziemlicher Sicherheit. Das Eis ist so dünn, dass sein Pressen uns nichts anhaben kann, und Eisberge sind nur in weiter Ferne zu sehen. Meine feste Absicht war, westwärts zu gehen, weil auf dieser Seite die meisten Durchfahrten liegen, und nie ist ein Schiff in eine so schlimme Lage geraten wie das unsrige. Soll ich nun versuchen, mich ostwärts zu wenden? Es wird wohl nichts anderes übrig bleiben.
Trotz unserer traurigen Lage ist an Bord alles heiter. Die Offiziersmesse ist zur Feier des Weihnachtstages mit bunten Fahnen geschmückt, und heute Morgen war allgemeiner Gottesdienst, wobei die Kirchenlieder kräftig über das Eis schallten. Unser festliches Abendessen bestand aus Tomatensuppe, gedämpfter Pinguinbrust als Vorgericht, Rinderbraten, Plumpudding, kleinen Pasteten, Spargel, dazu Champagner, Portwein und Liköre, ein wahres Festmenü. Fünf Stunden lang hat die Gesellschaft unter fröhlichen Gesängen bei der Tafel gesessen. Die Mannschaft hatte ihr Festmahl mit ungefähr den gleichen Speisen um Mittag, aber mit Bier und etwas Whisky, und sie schien ebenfalls sehr vergnügt dabei zu sein.
Auf dem Eisfeld dicht neben dem Schiff hausen drei Gruppen Pinguine, im Ganzen neununddreißig Vögel; sie müssen daher im Packeis genügend Nahrung finden. Heute Abend beobachtete ich, wie sich eine Skuamöwe auf den Rand einer Scholle niedersetzte, wo verschiedene Pinguine sich zur Nachtruhe vorbereiteten. Zwischen diesen begann eine lärmende Konferenz, deren Gegenstand offenbar die Möwe war, und endlich fassten sie sich ein Herz und rückten in geschlossener Phalanx auf sie los. Ein paar Schritte von ihr entfernt machte der vorderste Pinguin kehrt, und so sehr die anderen auch nachdrängten, scheute sich immer wieder der vorderste, als Erster an den Feind heranzukommen. Die Möwe saß auf einem Eisblock und tat sehr gleichgültig. Als schließlich die Pinguine