Letzte Fahrt. Robert Falcon Scott
ihre frühere Taktik, bis die Skua schließlich endgültig fortflog. Es war wirklich hochinteressant, die schüchternen Protestbewegungen der Pinguine zu beobachten.
Auf der anderen Seite des Schiffes zankten sich mehrere Pinguine um den Besitz eines kleinen Eisblocks, der noch dazu einen sehr unsicheren Sitzplatz bot. Es war ungemein unterhaltend, wie jeder Vogel sich aufs Äußerste anstrengte, um sich den Platz zu sichern, der eine den anderen fortstieß und der glückliche Sieger, sobald er den Gipfel seines Ehrgeizes erreicht hatte, sofort wieder das Gleichgewicht verlor und der Kampf aufs Neue begann.
Mittwoch, 28. Dezember. Wir haben gestern und heute einige Kilometer gewonnen und das Packeis scheint sich wirklich beträchtlich gelockert zu haben. Selbst das dicke Eis scheint zu brechen. Wir können unmöglich von der Südgrenze des Packeises noch weit entfernt sein, ich habe deshalb befohlen anzuheizen.
Gestern Abend stürzte ein Pony und ich ließ das Tier heute ins Freie bringen. Es ist in traurigster Verfassung, sehr mager, sehr schwach auf den Hinterbeinen und leidet an einer lästigen Hautkrankheit, durch die es die Haare in großen Mengen verliert. Ein paar Tage in frischer Luft werden ihm guttun, und solange wir noch im Packeis sind und das Schiff infolgedessen nicht schwankt, wäre das offene Deck ein gewisser Spielraum zur Bewegung der Tiere. Ihre Erhaltung ist jetzt genauso wichtig wie der Kohlenverbrauch.
Heute Morgen tauchten um das Schiff herum und unter ihm eine Anzahl Pinguine. Es ist das erste Mal, dass sie so dicht herankamen; die Bewegungslosigkeit der Schraube hat sie kühn gemacht. Der Adeliepinguin ist gar zu drollig, ob er nun schläft, zankt oder spielt, ob er neugierig, erschrocken oder böse ist; aber im Wasser ist er etwas ganz anderes; wenn er in drei, vier Metern Tiefe unter dem Wasser pfeilschnell umherschießt, sich wie ein Delfin in die Luft schnellt und leicht über die gekräuselte Fläche einer Wasserrinne hinschwimmt, erregt er ausschließlich Bewunderung. Seine Geschwindigkeit wird vermutlich überschätzt, aber seine Geschicklichkeit im Drehen und Wenden und seine vollkommene Herrschaft über alle seine Bewegungen sind ebenso schön wie erstaunlich.
Blickt man über die öden Strecken des Packeises hin, so kann man sich schwer vergegenwärtigen, wie viel fruchtbares Leben unmittelbar unter seiner Oberfläche existiert. Ein Schleppnetz füllt sich in kurzer Zeit mit Diatomeen, woraus hervorgeht, dass das schwimmende Pflanzenleben hier viel reicher ist als in den Meeren der gemäßigten oder der tropischen Zone. Meist bestehen diese Algen aus drei oder vier bekannten Arten. Von diesen leben wieder Tausende kleiner Krebse (Euphausia), die am Rande jedes Eisfeldes schwimmen und von den umgekippten Schollen heruntergespült werden. Diese Krebse sind wieder die Nahrung der Krabbenfresser-Seehunde, Pinguine, Eissturmvögel und Schneesturmschwalben und einer Unzahl großer und kleiner Fische. Auch diese Fische müssen sehr zahlreich sein; wir fingen einen auf einer umgekippten Scholle, und als vor zwei Tagen mehrere Matrosen am Heck des Schiffes lehnten, schrien sie plötzlich alle auf: Sie hatten ein halbes Dutzend oder mehr Fische von etwa 30 Zentimeter Länge gesehen, die unter einem Eisfeld verschwanden. Diese Fische werden von Robben und Pinguinen, aber auch von Raubmöwen und Sturmvögeln gefangen.
Und dann die größeren Säugetiere. Da ist zunächst der lange, geschmeidige Seeleopard, der ohne Zweifel einen Pinguin oder zwei und vielleicht sogar einen jungen Krabbenfresser-Seehund im Magen hat, denn er ist mit fürchterlichen Reißzähnen bewaffnet. Der gefräßige Schwertwal (Orca gladiator), der jedes kleinere Tier verschlingt, zeigt sich weniger häufig im Packeis, sondern ist an den Küsten stark verbreitet. Überaus zahlreich sind aber hier draußen die anderen Wale, vom Riesenwal (Balaenoptera Sibbaldi), dem größten Säugetier der Welt, bis zu dem kleineren Schnabelwal und anderen Arten. Wenn man diese riesigen Tiere umherschwimmen sieht, kann man sich vergegenwärtigen, welche Unmasse Nahrungsmittel zu ihrer Erhaltung erforderlich ist und wie ungeheuer groß daher in diesem Meer der Vorrat an kleinen Seetieren sein muss. So tobt unter den riesigen Eisfeldern und in den Wasserflächen unaufhörlich der alte Kampf ums Dasein.
Abends 10 Uhr. Wir fuhren um 8 Uhr los; bis jetzt scheint noch alles gut zu gehen. Das Eis ist verhältnismäßig dünn, die Eisfelder höchstens einen Meter dick, die hügeligen Stellen natürlich ausgenommen. Zwischen ihnen liegen Eisschichten, die nur 15 bis 30 Zentimeter dick sind, und auch zahlreiche Wasserlöcher. Wenn das Schiff auch oft durch dickere Schollen zum Stillstand gebracht wird, legt es doch etwa 6 Kilometer in der Stunde zurück. Der Himmel ist bewölkt und es weht aus Nordnordwest, beides ein Vorteil für uns, da die Segel mithelfen können und der Offizier auf Wache leichter beobachten kann, wenn ihm die Sonne nicht in die Augen scheint. Während ich dies schreibe, sieht das Packeis etwas loser aus. Wenn es sich nur nicht wieder zusammenschließt – nach Süden hin ist leider kein Zeichen offenen Wassers zu sehen!
Donnerstag, 29. Dezember. Endlich ist der lang ersehnte Umschwung eingetreten! Wir dampfen zwischen Eisfeldern von geringem Umfang, die augenscheinlich infolge der Dünung geborsten sind und deren Ränder sich durch Reibung abgeschliffen haben. Der Übergang vollzog sich urplötzlich. Einmal hatten wir in der Nacht eine Stunde lang gar kein Eis, sodass wir trefflich vorwärtskamen. Heute Morgen durchbrachen wir große, zusammenhängende Eisfelder und jetzt werden die Eisschichten immer dünner. Sie sind in ziemlich regelmäßige Figuren zerborsten, von denen keine mehr als 30 Meter Durchmesser hat – der beste Beweis für die Nähe offenen Wassers. Der Wind bleibt nördlich und hilft uns vorwärts, der Himmel ist bewölkt, und leichter Graupelregen fällt; die Sonne versuchte ein- oder zweimal vergeblich, die Wolken zu durchbrechen. In der letzten Nacht hatten wir Glatteis; das Schiff war überall, auf jeder Planke und auf jedem Tau, von einer dünnen Eisschicht überzogen infolge des gefrierenden Regens.
Es ist kein Zweifel mehr: Unsere Gefangenschaft geht zu Ende! Alles in allem haben wir zwanzig Tage und einige Stunden gebraucht, um durch das Packeis hindurchzukommen, und in gerader Linie mehr als 680 Kilometer zurückgelegt, 34 Kilometer am Tag. Aber wir haben auch 61 Tonnen Kohlen verbraucht, um uns diesen Weg zu bahnen, also auf 11 Kilometern durchschnittlich eine Tonne. Von zwanzig Tagen waren wir neun unter Dampf. Diese Zahlen sind nicht gerade sehr günstig, aber wenn man die außergewöhnlichen Verhältnisse erwägt, in die wir hineingeraten sind, darf man wohl sagen, dass es noch viel schlimmer hätte kommen können.
Auf der Suche nach einem Winterquartier
Freitag, 30. Dezember. 72° 17’ südlicher Breite, 177° 9’ östlicher Länge. Endlich sind wir aus dem Packeis heraus! Diese Nacht um 1 Uhr steuerte Bowers die »Terra Nova« durch den letzten Eisstrom, und heute früh um 6 schwammen wir in offener See. Der gestrige Schneefall hatte aufgehört, aber der Himmel war noch grau und wolkig und hier und dort lagen Nebelstreifen. Um Mittag brach die Sonne durch Wolken und Nebel. Der Schneesturm der letzten Tage hatte alles Tauwerk mit einer Eisschicht bedeckt – jetzt blätterte sie ab und fiel klirrend auf das Deck, wo in der warmen Luft der feuchte Eisschlamm schnell verdunstete. Nach dem gestrigen Abend, wo alles triefte und man überall auf schlüpfrigen Schnee trat, war jedes trockene Fleckchen heute ein freudiges Ereignis.
Vom Packeis befreit waren wir während des Tages tüchtig vorwärtsgekommen und ich berechnete schon, dass wir am Neujahrstag auf der Höhe von Kap Crozier, unserem voraussichtlichen Winterquartier, sein müssten – da erhob sich um 3 Uhr nachmittags eine scharfe Brise aus Südsüdwest, die uns gerade entgegenwehte und sich zu einem regelrechten Südsturm entwickelte. Abends um 8 schlichen wir nur noch mit 3 ½ Kilometer Geschwindigkeit vorwärts! Schon wieder ist das Glück uns entgegen! Der kurze, scharfe Seegang ist für die Ponys das reine Gift und auch für uns nicht gerade ermunternd. Der Gefangenschaft des Packeises endlich entronnen zu sein, ist gewiss ein herrlicher Gedanke – aber an die Eingriffe, die der Kampf der letzten vierzehn Tage in unsere Kohlenvorräte gemacht hat, darf ich gar nicht denken!
Heute früh passierten wir einen kleinen Eisberg, auf dessen einer Seite sich ein Schwarm Eissturmvögel niedergelassen hatte, auf der anderen saßen Schneeschwalben. Augenscheinlich sind diese Vögel auf die Nahrung angewiesen, die ihnen See und Dünung auf die Eisränder hinaufwirft; nur wenige finden ihren Unterhalt im Packeis selbst, wo er zwar auch reichlich vorhanden, aber schwer zu erlangen ist. Eine Schar Eissturmvögel begleitete unser Schiff eine Strecke weit, indem sie es unermüdlich umkreisten! Die nördlicher lebenden Seevögel pflegen im Kielwasser