Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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      »Wenn du jetzt nicht ein­schläfst, weint Mama, und dein Herr Va­ter schilt, Fritz­chen, und ich – da lief dem Schnei­der­lein, wie man sagt, die Laus über die Le­ber, es lang­te aus sei­ner Höl­le einen Tuch­lap­pen, und ›wart, ich will es euch ge­ben!‹ schlug es un­barm­her­zig drauf. Als es ab­zog und zähl­te, so la­gen nicht we­ni­ger als sie­ben vor ihm tot und streck­ten die Bei­ne. – Jun­ge, wenn du jetzt nicht die Au­gen zu­machst, so sollst du mal se­hen! – ›Bist du so ein Kerl?‹ sag­te der Schnei­der, ›das soll die gan­ze Stadt er­fah­ren. Ei was, die gan­ze Stadt! die gan­ze Welt soll’s er­fah­ren!‹ Und sein Herz wa­ckel­te ihm wie ein Läm­mer­schwänz­chen«…

      »Sie­be­ne auf einen Schlag!« war es das Spinn­rad der Rit­ter­bu­schen, oder war’s der Brun­nen um die Ecke vor Mord­manns Ge­höft, was in die Ge­schich­te vom tap­fern Schnei­der­lein hin­ein­rausch­te? Sie­ben­zig Le­bens­jah­re auf dem Bu­ckel und die De­vi­se »Sie­be­ne auf einen Streich!« auf dem von ihm sel­ber zu­ge­schnit­te­nen, ge­näh­ten und ge­stick­ten Leib­gür­tel! War es Fritz­chen Feyer­abend, oder war es der Wirk­li­che Ge­hei­me Ober­me­di­zi­nal­rat Feyer­abend, der da­stand an dem Röhr­brun­nen an Zim­mer­mann Mord­manns le­ben­di­ger Zaun­he­cke und es nun aus ei­nem an­de­ren Win­ter­abend her­über­mur­meln hör­te:

      »Und der Kö­nig wach­te auf und gab der Frau Kö­ni­gin einen Stubbs, und sie wach­te auch auf, und sie sa­hen ein­an­der mit großen Au­gen an… Jun­ge, schlaf ein!… Es wach­te al­les auf, was die hun­dert Jah­re ge­schla­fen hat­te da im Schlos­se – die Sol­da­ten auf der Wa­che, wo sie zu trom­meln an­fin­gen, und das Feu­er in der Kü­che un­term Her­de, wo sie vor hun­dert Jah­ren hat­ten Eier­ku­chen ba­cken wol­len. Und der Koch gab dem Kü­chen­jun­gen die Ohr­fei­ge, die er ihm eben auch vor hun­dert Jah­ren ver­spro­chen hat­te. Sie hat­ten aber auch noch Sup­pe zu Mit­tag ha­ben sol­len, und so rupf­te auch die Magd das Huhn fer­tig, das sie – al­les vor hun­dert Jah­ren – im Scho­ße ge­habt hat­te, und sag­te: Ja, Koch, gra­de so was hat auch so’n bö­ser Jun­ge ver­dient, wenn er mich hier bis an den hel­len, lich­ten Mor­gen sit­zen und ver­zäh­len las­sen will! –?«

      Es war je­den­falls der Ge­heim­rat, der eben sag­te:

      »Nein, das hat sie nicht ge­sagt, die Kü­chen­magd, Rit­ter­bu­schen! Und dann sind auch im­mer die Flie­gen da­bei, die an der Wand auf­wa­chen nach hun­dert Jah­ren, Rit­ter­bu­schen, und das hast du dies­mal aus­ge­las­sen.«

      Es war Ge­heim­rat Feyer­abend, der es in der eben vor­han­de­nen nächt­li­chen Stun­de ver­nahm.

      »I, so’n ver­flix­ter Jun­ge! Da sit­ze ich bis nach Mit­ter­nacht an sei­nem Bett und pre­di­ge mir den Mund wund, dass ich das na­se­wei­se Kind zum Ein­schla­fen brin­ge, und es weiß im­mer wie­der al­les bes­ser. Jun­ge, Jun­ge, bist du mir denn nach Mit­ter­nacht glu­her als vor­her?«…

      Was war das? Eine Kin­der­stim­me hin­ter Mord­manns Kuh­stall her. Eine Kin­der­stim­me und doch auch wie­der kei­ne Kin­der­stim­me, son­dern die ei­nes al­ten Man­nes, die sich in um­ge­kehr­ter Wei­se »setz­te« und aus dem dump­fen Kräch­zen des Greis­en­tums in die schril­len Töne der ers­ten Ju­gend um­schlug –

       »Mai­kä­fer flieg,

       Dein Va­ter ist im Krieg.

       Dei­ne Mut­ter ist in Pom­mer­land,

       Pom­mer­land ist ab­ge­brannt –

       Mai­kä­fer flieg!«

      Lud­chen Bock! Ein Schat­ten im Däm­mer und doch die wirk­lichs­te Wirk­lich­keit kam er um die Ecke des Zauns, schwank­te un­si­che­ren Schrit­tes auf das le­ben­di­ge Was­ser zu, das der Röhr­brun­nen vor Mord­manns Ge­höft wie vor sech­zig Jah­ren in den Trog spru­del­te, und an die Röh­re, aus der Ge­heim­rat Feyer­abend mit der Hand ge­schöpft hat­te, hielt er den Mund und ließ sich dann den ewig jun­gen Strahl auch über den kah­len Schei­tel flie­gen.

      »Der Her­re vom Bahn­hof!« rief er aber wie im höchs­ten Schreck, als der Freund aus dem Schat­ten mit ei­nem »Gu­ten Abend, Lud­chen!« auf ihn zu­trat, und an al­len Glie­dern zit­ternd win­sel­te und schluchz­te er wie ein über et­was Ver­bo­te­nem er­tapp­tes Kind:

      »Ich kann nichts da­für! ich kann nichts da­für! die an­de­ren sind es ge­we­sen! Ich habe ge­wiss und wahr­haf­tig nicht ge­wollt, Min­chen; aber sie ha­ben mir den blan­ken Ta­ler weg­ge­nom­men, Her­re, Her­re, und ha­ben ge­sagt, so’n großer Jun­ge wie ich brauch­te sich doch nicht al­les ge­fal­len zu las­sen, und dann sind wir in Beckers Gar­ten alle mit­ein­an­der, wir Gro­ßen, ver­gnügt ge­we­sen. O Got­te, Got­te, und nun, wo ist mein Ta­ler, den mir der Her­re am Bahn­hof für Min­chen ge­ge­ben hat?

       Pom­mer­land, ist ab­ge­brannt –

       Mai­kä­fer flieg!

       Mai­kä­fer flieg!«

      Von neu­em hielt er den Grei­sen­schä­del un­ter die Brun­nen­röh­re; dann schüt­tel­te er die Faust in die Mond­däm­merung hin­ein:

      »Die Un­flä­ter! Sie ha­ben mich vor die Tür ge­tan und ge­sagt: Du musst nach Hau­se, Lud­chen, so klei­ne Jun­gens soll­ten schon lan­ge zu Bet­te sein, und dein Min­chen war­tet schon längst mit der Rute. Pass nur auf, dass dich Rit­ter­busch nicht vor den Bur­ge­meis­ter bringt! O Got­te, Got­te, wenn mir doch der frem­de Her­re das vie­le Geld und den blan­ken Ta­ler nicht ge­ge­ben hät­te! Rit­ter­busch tut mir nichts, ach, wenn nur Min­chen nicht wäre!«

      Wer von bei­den war nun in die­ser Nacht das grö­ße­re Kind? Lud­chen Bock, den die bö­sen Bu­ben von Al­ters­hau­sen in Beckers Gar­ten be­trun­ken ge­macht hat­ten, oder Ge­heim­rat Frit­ze Feyer­abend, der nicht bloß aus den Won­ne­bur­gen der Wal­chen, son­dern so­gar von den »Hö­hen der Mensch­heit« zu ihm nie­der­ge­stie­gen war und sich jetzt zu ihm auf den Brun­nen­trog vor Mord­manns Hof­plan­ke hin­setz­te?

      So schö­nes Wet­ter, und – sie wa­ren eben bei­de noch da­bei!

      *

      »Kennst du mich noch, Lud­chen?« frag­te nach ei­ner Wei­le der Mann aus der so­ge­nann­ten Wirk­lich­keits­welt.

      »Sie sind der Her­re vom Bahn­hof mit dem Ta­ler. Ich bin nur auf den Kopf ge­fal­len und Lud­chen Bock. Ich be­dan­ke mich noch­mals und wäre auch gleich mit ihm nach Hau­se ge­gan­gen; aber ich habe ihn ei­nem von den großen Jun­gens ge­zeigt, und da ha­ben sie ge­sagt, ich brauch­te und soll­te mir nicht al­les ge­fal­len las­sen, auch von Min­chen nicht. O Got­te, Got­te, und nun kann ich nicht nach Hau­se aus Angst, Frit­ze!«

      Der große See­len­arzt auf dem Brun­nen­trog fuhr zu­sam­men und hat­te ein Mi­nu­ten nö­tig, ehe er das letz­te Wort in sei­ne Er­fah­run­gen aus sei­nen Wis­sen­schaf­ten ein­ge­ord­net hat­te.

      »Du kannst es be­zeu­gen, dass ich mich vor kei­nem fürch­te, Frit­ze. Vor dem Rek­tor nicht, vor dem Su­per­den­ten nicht und nicht mal vor dei­nem Va­ter. Dei­ne Mut­ter ist auch schon schlim­mer; aber – o Got­te, Got­te, Min­chen und ich jetzt wie­der!… Nun hat sie wie­der auf­ge­ses­sen um mich und Angst ge­habt um mich, und an un­se­re Zie­ge habe ich auch nicht ge­dacht, und sie muss­te im Bet­te sein, eh Rit­ter­busch zum ers­ten Mal rief, und ich soll­te schon viel län­ger zu Bet­te sein! Frit­ze, wenn sie mich nur je­des Mal hau­en woll­te, wie mich mein Va­ter und


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