Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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auf der Fahrt, nicht nach Bi­mi­ni, son­dern nach Al­ters­hau­sen ge­we­sen.

      »Jaja, Fräu­lein, da ist nun wie­der mal nichts wei­ter zu ma­chen. Der Herr Wirk­li­che Ge­hei­me Ober­me­di­zi­nal­rat hat im­mer so sei­nen ei­ge­nen Sinn und Wil­len ge­habt«, mein­te Dr. Schil­le­bold auf dem Heim­we­ge. »Wenn ei­ner Ge­le­gen­heit hat­te, das öf­ters in Er­fah­rung zu brin­gen, so bin ich gott­lob das ge­we­sen. Wir müs­sen eben ab­war­ten, was für uns nun wie­der hier­bei her­aus­kom­men wird.«

      »Lie­ber Freund, ob für eure Wis­sen­schaft hier was ab­fällt, ist mir ganz ei­ner­lei. Dass er sein gan­zes Le­ben durch im­mer sei­nen ganz be­son­dern Schutz­en­gel nö­tig ge­habt hat das ist in die­sem Au­gen­blick noch mehr als sonst mei­ne Mei­nung. Nach Al­ters­hau­sen! Bin ich nicht auch aus Al­ters­hau­sen? Ich bin ja­wohl so jung und kin­disch draus weg­ver­setzt, dass ich we­nig mehr da­von weiß; aber hät­te er mich nicht doch fra­gen kön­nen, ob ich ihn nicht auch zur Auf­fri­schung mei­ner al­ten Erin­ne­run­gen be­glei­ten wol­le? Lud­chen Bock! Ich bit­te Sie, Dok­tor, sei­nen Freund Lud­chen Bock will er be­su­chen! Ge­hört das auch zu Ih­rer Wis­sen­schaft? Seit Jah­ren hat keins von uns zwei Ge­schwis­tern an un­se­re alte Hei­mat ge­dacht, und nun auf ein­mal jetzt in sei­nem Ein­und­sie­ben­zigs­ten die­ser – ich will mich mil­de aus­drücken – die­ser Ein­fall! Ja­wohl, Schil­le­bold, da bin ich Ih­rer Mei­nung, es bleibt uns nichts üb­rig, als ab­zu­war­ten, was bei ihm her­aus­kommt.« – –

      Die Son­ne schi­en bei den vie­len Win­dun­gen der Bahn­li­nie bald ins eine Fens­ter, bald ins an­de­re, und so lie­ßen die Da­men der Rei­se­ge­sell­schaft auf bei­den Sei­ten die Gar­di­nen her­un­ter und hüll­ten, da die­se Vor­hän­ge blau wa­ren, sich und den Al­ten in ein blau­es Licht, ge­gen wel­ches er, da es sei­nem Rei­se­zweck ganz an­ge­mes­sen war, nichts ein­zu­wen­den ha­ben konn­te. Die Ge­sell­schaft war ihm be­kannt – von al­len Heer­stra­ßen der Erde her. Sie kommt hier so we­nig in Be­tracht wie der Rei­se- Land­schafts- und Wa­gen­wech­sel. Was hat­te das mit Ge­heim­rat Feyer­abends Be­such bei Lud­chen Bock zu tun?

      Sei­nen Schutz­en­gel glaub­te auch er, Ge­heim­rat Feyer­abend, zu ha­ben. Wie vom Pro­fes­sor Plock­horst ge­malt hat­te er sich ihn gra­de nicht vor­ge­stellt; aber ge­traut hat­te er ihm, ver­las­sen hat­te er sich auf ihn sein gan­zes Le­ben durch gra­de­so­gut wie des So­phro­nis­kos Sohn auf sein Dä­mo­ni­on. Auch des Da­seins Gift­be­cher hat­te er häu­fig ge­nug aus sei­ner Hand hin­ge­nom­men; im­mer in der Ge­wiss­heit, dass es dazu ge­hö­re und un­ter je­des­ma­li­gen ob­wal­ten­den Um­stän­den nicht an­ders sein kön­ne. Töd­lich brau­chen ja die Trän­ke des Le­bens nicht im­mer zu wir­ken. Ein tüch­ti­ger Kat­zen­jam­mer und Le­bens­ekel ge­nügt schon, um den fes­ten Griff nach dem bit­tern Kelch ver­dienst­lich zu ma­chen. –

      Für dies­mal reich­te der ju­gend­li­che Ge­ni­us sei­nem grei­sen Schutz­be­foh­le­nen nur einen an­ge­nehm be­rau­schen­den Trank. Ge­heim­rat Feyer­abend ver­schlief die Fahrt und die wech­seln­de Rei­se­ge­sell­schaft, und da die Be­mer­kun­gen, die über bei­des ge­macht wer­den kön­nen, schon recht häu­fig zu Pa­pier und in Druck ge­bracht wor­den sind, so ver­liert die Nach­welt we­nig, wenn das Ma­nu­skript hier eine Lücke bie­tet. Es wird nicht die letz­te drin sein. –

      Es war nicht eine der Li­ni­en, auf wel­cher die Blitz­zü­ge ver­keh­ren, die Auf­gang und Nie­der­gang jetzt auf so leich­te, an­ge­neh­me, uns be­que­me Wei­se mit­ein­an­der in Ver­bin­dung brin­gen, wie die Vor­fah­ren we­der auf ih­ren Kriegs- noch auf ih­ren Frie­dens­zü­gen es sich je im Wa­chen und im Traum als mög­lich in die Sin­ne kom­men las­sen konn­ten. Eine we­nig be­fah­re­ne, merk­wür­di­ger­wei­se mehr zu Krie­ges- als zu Frie­dens­zwe­cken er­bau­te Bahn ver­bin­det den grö­ße­ren Welt­ver­kehr mit Al­ters­hau­sen. Wenn es wie­der die Ge­le­gen­heit ge­ben soll­te, das Wort: ›Kind­lein, lie­bet euch un­ter­ein­an­der!‹ nun­mehr ver­mit­telst rauch­lo­sen Pul­vers und den dazu pas­sen­den Schnell­feu­er­ge­schüt­zen zwi­schen den Völ­kern zur Gel­tung zu brin­gen, kann sie auf ein­mal le­ben­dig ge­nug wer­den: ge­gen­wär­tig war so­gar Frit­ze Feyer­abend, der sei­nen Freund Lud­chen Bock be­su­chen woll­te in Al­ters­hau­sen und also si­cher­lich ein An­recht auf sie ha­ben durf­te, voll­stän­dig neu auf ihr. Die Rei­se­we­ge durch sein Le­ben hat­ten im­mer auf an­de­ren Li­ni­en und nach an­de­ren Rich­tun­gen hin ge­le­gen.

      In Athen, Rom und By­zanz war er be­kannt und konn­te auch die Ho­tel­rech­nun­gen von dort­her auf­wei­sen: aus Al­ters­hau­sen nicht!

      Al­ters­hau­sen konn­te ihm nur auf­tau­chen wie das ers­te Ka­pi­tel der Ge­ne­sis dem Geo­lo­gen und Phi­lo­so­phen – nicht eine un­be­kann­te, aber trotz al­ler Wis­sen­schaft un­be­kannt ge­wor­de­ne Ge­gend.

      Dass er sei­nen Ge­burts­ort tief aus der Ver­gan­gen­heit sei­ner Le­bens­zeit her­auf­ho­len muss­te, war ihm be­wusst, und da hielt er sich denn da­bei ganz rich­tig beim Nä­her­kom­men fürs ers­te an die al­ten Berg­gip­fel, die über neue Dä­cher und neu­es Ge­mäu­er her­sa­hen. Er war dar­auf ge­fasst, dass er die au­gen­blick­li­che »Jetzt­zeit« auch hie­si­gen Orts, von ih­rem Rech­te Ge­brauch ma­chend, vor­fin­den wer­de, und fühl­te sich da­durch durch­aus nicht in ei­nem äl­te­ren, weil bes­sern Recht ge­kränkt. Wo der Tem­pel des ka­pi­to­li­ni­schen Ju­pi­ters stand, steht heu­te die Kir­che Ara celi, und wer weiß, was spä­ter da noch mal ste­hen wird?

      »Al­ters­hau­sen!« schnarr­te der Schaff­ner, und auf sei­nen Arm ge­stützt ver­ließ Ge­heim­rat Feyer­abend den Zug, der ihn da­hin ge­bracht hat­te. Die Höf­lich­keit und Freund­lich­keit des Man­nes hat­te er nicht al­lein sei­ner Per­sön­lich­keit und der Wür­de des Al­ters zu dan­ken: Schwes­ter Line hat­te auch mit ge­sorgt, dass er rich­tig von Sta­ti­on zu Sta­ti­on wei­ter­ge­ge­ben wor­den war bis in den an­ge­neh­men Abend hin­ein.

      »Hm, hm, hm«, brumm­te er, mit der Hand an der Stirn, ein we­nig schwan­kend auf den Bei­nen und jetzt doch mit dem »Ge­fühl«, dass er nicht recht wis­se, wo er ei­gent­lich sei, wie er hier­her­ge­kom­men sei und was er hier wol­le, das heißt, was er hier noch so spät am Abend zu su­chen habe.

      Er war ja nicht al­lein auf dem Zuge ge­we­sen! Es stieg an­de­res Mensch­tum aus, das nicht – bloß Lud­chen Bock be­su­chen woll­te und nicht den Ti­tel Wirk­lich Ge­hei­mer Ober­me­di­zi­nal­rat, Pro­fes­sor, Dok­tor an sich trug, neu­lich sie­ben­zig Jahr alt ge­wor­den und, ob­gleich es da­her kam, seit na­he­zu zwei Men­schen­al­tern nicht in Al­ters­hau­sen ge­we­sen war.

      Ein Blitz­zug wür­de wohl nicht um die Le­ben­dig­keit, die sich jetzt für ei­ni­ge Mi­nu­ten auf dem Bahn­ho­fe von Al­ters­hau­sen ent­wi­ckel­te, da an­ge­hal­ten ha­ben. Zwei oder drei Han­dels­rei­sen­de, ein jü­di­scher Vieh­händ­ler, meh­re­re mehr oder we­ni­ger be­hä­bi­ge Stadt­bür­ger, ein äl­te­rer, je­den­falls der Jus­tiz oder der Ver­wal­tung an­ge­hö­ren­der Be­am­ter mit ei­ner Ak­ten­map­pe, ein jün­ge­rer des­sel­bi­gen Be­rufs mit ei­ner Flur­kar­te le­gi­ti­mier­ten sich an der Bahn­sper­re, und – Ge­heim­rat Feyer­abend stand al­lein – glaub­te al­lein zu sein mit der Abend­son­ne auf dem Bahn­steig sei­ner Va­ter­stadt! nie in sei­nem Da­sein so sehr in der Frem­de wie jetzt! Er konn­te von dem,


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