Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


Скачать книгу
wird, das hat sie von den Haus­dä­chern und Tür­men ver­trie­ben, wie der Ge­ruch die Kä­fers und Rau­pen und But­ter­vö­gels hier aus dem Busch­werk und sons­ti­ger un­se­rer Kunst­gärt­ne­rei. Da drau­ßen jen­seits der Vor­städ­te möch­ten sie sich ja­wohl noch hal­ten; aber da kom­men denn wie­der die Fa­bri­ken mit ih­ren Schorn­stei­nen und Ge­qual­me und ver­ekeln ih­nen ihre Da­seins­lust, und es wird wohl auch nichts mehr für sie sein. Ich kom­me we­nig dort hin­aus und kann’s also nicht sa­gen.«

      Er hat­te auf man­cher Schul­bank ge­ses­sen, bis er es zu sei­ner jet­zi­gen Stel­lung in sei­ner wis­sen­schaft­li­chen Welt und zu sei­nem Ti­tel Ge­heim­rat bracht hat­te: sel­ten war er so mit der Über­zeu­gung, dass der Pro­fes­sor auf dem Ka­the­der recht habe, nach Hau­se ge­gan­gen.

      Er ging nach Hau­se, Pro­fes­sor Dr. med. Ge­heim­rat Feyer­abend, und kam un­ter­wegs in sei­nen Ge­dan­ken auf die der Merk­wür­dig­keit we­gen üb­rig­ge­las­se­nen fünf­zig Stück Prä­rie­büf­fel, auf das neue afri­ka­ni­sche Ko­lo­ni­al-Jagd­ge­setz, be­tref­fend »Lö­wen-Schon­zeit«, und auf das ihm gleich­falls als »et­was Neu­es aus Afri­ka« be­kannt­ge­wor­de­ne Hand­buch über ra­tio­nel­le Strau­ßen­zucht. Da­mit zu­letzt zu der Über­zeu­gung, dass, wenn das so wei­ter­ge­he, der Mensch sich zu Ende des zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts un­zwei­fel­haft recht prak­tisch und ver­stän­dig mit dem fünf­ten Schöp­fungs­ta­ge und un­se­res Herr­gotts großem Tier­gar­ten aus­ein­an­der­ge­setzt ha­ben, aber eine Kin­der-Na­tur­ge­schich­te mit den dazu ge­hö­ri­gen Ab­bil­dun­gen aus dem An­fang des neun­zehn­ten Sä­ku­lums ein bi­blio­gra­fi­scher Schatz sein wer­de.

      Dass das bib­li­sche Wort:

      »Fül­let die Erde und ma­chet sie euch un­ter­tan und herr­schet über Fi­sche im Meer und Vö­gel un­ter dem Him­mel und über al­les Tier, das auf Er­den kreucht« –

      ihm die Lust, das Spa­zie­ren­gehn wie­der zu er­ler­nen, merk­lich er­höht habe, konn­te er nicht sa­gen und sei­ne Um­ge­bung zu Hau­se auch nicht.

      Im Ge­gen­teil. Es kam ihm zu Hau­se vor, als ob die Erd­ober­flä­che von »Uns«, d. h. sei­nes­glei­chen, reich­lich, über­reich­lich ge­füllt und es durch­aus nicht not­wen­dig sei, dass er mit sei­ner Per­son, trotz al­ler vom Staat und von Pri­va­ten an­er­kann­ten Ver­diens­te, das Ge­drän­ge drauf noch län­ger ver­meh­re.

      Er wur­de ei­ni­ge Tage durch sich un­er­träg­lich, und da auch Re­gen­wet­ter ein­fiel, gab er na­tür­lich sei­ner Stim­mung oder Ver­stim­mung an­de­ren ge­gen­über Laut. Er bell­te nicht, aber er äu­ßer­te, wie sei­ne alte Schwes­ter sag­te: ge­gen Gott und die Welt un­dank­ba­re An­schau­un­gen und wur­de freund­lich, aber be­stimmt zu­recht­ge­wie­sen. Ka­ro­li­ne hieß sie, und es ist ein Cha­rak­ter­zug, dass sie sich nie, von Kin­des­bei­nen an, auf so was wie »Lina!«, »Line!«, »Lin­chen!« ein­ließ und drauf­hin kam, wenn man ihr rief.

      Ge­heim­rat Feyer­abend er­freu­te sich der Beauf­sich­ti­gung, Be­vor­mun­dung, Be­mut­te­rung durch sie in al­len mensch­li­chen und gött­li­che Din­gen in ei­ner Art und Wei­se, die alle vom Men­schen ge­gen sich sel­ber in Staat und Kir­che auf­ge­rich­te­ten Schutz­weh­ren für ihn per­sön­lich über­flüs­sig mach­ten. Zehn bis zwölf Jah­re war das Kind jün­ger als er; aber dass das je ih­rer Au­to­ri­tät Ab­bruch ge­tan hät­te, hat­te er nie be­merkt und sei­ne die­nen­de Haus­ge­nos­sen­schaft eben­falls nicht. Sie hat­ten alle noch im­mer ih­rem bes­sern Ver­ständ­nis sich fü­gen oder, wie er sich aus­drück­te: ihr klein bei­ge­ben müs­sen. Klü­ger als sie war sie stets und nie zu ih­rem, des Bru­ders und des Hau­ses, Nach­teil, wenn das häu­fig auch nur wi­der­wil­lig und mit Ge­murr an­er­kannt wur­de. –

      Nach dem, was auch sie ih­res Herrn Bru­ders »groß­ar­ti­gen Ehren­tag« nann­te, ge­fiel ihr der »alte Jun­ge« bald gar nicht recht mehr. Mit ih­rem Fritz reich­te sie auch noch in die Zeit zu­rück, wo in den Schulan­tho­lo­gi­en der sie­ben­zigs­te Ge­burts­tag vom bra­ven J. H. Voß noch zu fin­den war als ein Mus­ter­stück für die deut­sche Ju­gend. Und da das gute Mäd­chen alle sei­ne Schul­bü­cher in sei­nem Bü­cher­schränk­chen auf­be­wahr­te, so griff es selbst­ver­ständ­lich auch für den vor­lie­gen­den Fall hin­ein und hol­te das Sach­dien­li­che her­aus. Merk­wür­di­ger­wei­se aber be­nutz­te Fräu­lein Ka­ro­li­ne Feyer­abend die Idyl­le als ein war­nen­des Exemplum und den red­li­chen Tamm – »seit vier­zig Jah­ren in Stolp, dem ge­seg­ne­ten Frei­dorf, Or­ga­nist, Schul­meis­ter zu­gleich und ehr­sa­mer Küs­ter« –, um ih­rem Bru­der eine Rede zu hal­ten, wel­che das lie­be Müt­ter­chen Tamm si­cher­lich in nicht un­ge­recht­fer­tig­tes Er­stau­nen ver­setzt ha­ben wür­de.

      »Höre mal, ganz Ge­hei­mer (seit sei­ner dem­ge­mä­ßen Be­ti­te­lung gab auch sie ihm die Ehre da­von), ei­nes sage ich dir: dass du mir jetzt nicht zu früh ein al­ter Mann wirst! Kla­te­ri­ges, win­se­li­ges Hin­ho­cken in Ehren und Wür­den, wenn man den al­ten Kai­ser, den al­ten Bis­marck, den al­ten Roon und Molt­ke an al­len Wän­den auf­ge­hängt sieht, fin­de ich lä­cher­lich, und aufs Flie­gen­ab­weh­ren beim Nach­mit­tags­schlaf las­se ich mich fürs ers­te bei dir auch noch nicht ein. Kommt die Zeit und hat der lie­be Gott mir bis da­hin das Le­ben ge­schenkt, so weißt du, dass ich mich auch dazu mit mei­nem Strick­zeu­ge zu­recht­set­zen kann und es gern tun wer­de. Was sind denn sie­ben­zig Jah­re, wenn man noch so gut zu Bei­nen ist wie du und, so­weit ich es be­ur­tei­len kann, auch an geis­ti­gen Fä­hig­kei­ten noch nicht merk­lich nach­ge­las­sen hat? Das letz­te Wort be­hältst du im­mer noch gern wie sonst; dar­an mer­ke ich auch noch kei­nen Un­ter­schied ge­gen frü­her und wor­über nicht bloß dei­ne ge­lehr­te Zeit­ge­nos­sen­schaft, son­dern auch ich hier im Hau­se wohl ein Wort mit­re­den könn­ten.«

      Der Ju­bi­lar lä­chel­te die wohl­mei­nen­de gute See­le freund­lich zur Tür hin­aus: er hat­te sich schon von sel­ber bes­ten Rat ge­ge­ben:

      »Bleib in den Stie­feln, Mensch! So lan­ge als mög­lich. Zwackt dich das Pod­agra an dem einen Fuß, so um­wi­cke­le die dum­me Pfo­te; aber den Stie­fel zieh fer­ner­hin über das ge­sund ge­blie­be­ne Glied und tritt fest auf. Es braucht kein Rei­ters­tie­fel zu sein, wie der des grei­sen, gich­ti­schen, rheu­ma­ti­schen und asth­ma­ti­schen Lö­wen auf sei­ner sor­gen­vol­len Ter­ras­se zu Oh­ne­sor­ge. Man muss im­mer ein Waf­fe be­hal­ten, um ei­nem Esel­stritt, so­lang es noch an­geht, zu­vor­kom­men zu kön­nen. Gra­de nach den größ­ten Sie­ges­schlach­ten im Men­schen­le­ben ist das am nö­tigs­ten und gilt nicht bloß für Pots­dam, Sankt He­le­na und Fried­richs­ru­he.« –

      Grö­ßes­te Sie­ges­schlach­ten hat­te Ge­heim­rat Feyer­abend zwar nicht er­foch­ten; aber eine Au­to­ri­tät in sei­nen Wis­sen­schaf­ten war er ge­we­sen und hat­te auf sei­nen Be­rufs­fel­dern sei­ne von den Fach­ge­nos­sen an­er­kann­ten Sie­ge ge­won­nen: las­sen wir uns her­ab von der Ter­ras­se zu Sans­sou­ci auf sei­ne ar­beit-, er­folg-, sor­gen-, freu­den- und ver­druss­be­la­de­ne Schol­le im Da­sein und – las­sen wir ihn ja in den Stie­feln blei­ben! Das heißt: se­hen wir ihn auch in Schlaf­rock und Pan­tof­feln sei­nes nächs­ten We­ges durch sei­ne üb­ri­ge Zeit wei­ter­zie­hen und sich mit dem im Sei­ger nie­der­rie­seln­den San­de ab­fin­den.

      Er schnupf­te nicht, aber er rauch­te und – es kam ein sehr schö­ner Herbst. Er


Скачать книгу