Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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Welt­fahr­ten ge­kom­men: spa­zie­ren war er nicht mehr ge­gan­gen. Wie hät­te er dazu Zeit fin­den kön­nen? – – – – – – – – – – –

      Die Stadt, wel­che die Ehre und das Ver­gnü­gen hat­te, die­sen Ge­heim­rat zu ih­ren be­kann­tes­ten und ge­schätz­tes­ten Mit­bür­gern zu zäh­len, ge­hör­te zu de­nen, wel­che wie so man­che an­de­re im neu­en wirk­li­chen Deut­schen Reich seit 1866 und 1870 aus ih­rer grü­nen Um­klei­dung her­aus­ge­wach­sen war wie ein Jun­ge aus sei­nen Ho­sen. Sie war »Groß­stadt« ge­wor­den und bil­de­te sich na­tür­lich was drauf ein und klopf­te sich dann und wann darob mit Hoch­ge­fühl auf Brust und Ma­gen. Auf letz­te­ren et­was sel­te­ner in den Ta­gen, wo die Ge­mein­de­steu­ern fäl­lig ge­wor­den wa­ren und der Steu­er­bo­te je­den Au­gen­blick an die Tür klop­fen konn­te.

      Sie hat­te ganz in Gär­ten und Wie­sen ge­le­gen, was die grü­ne Um­klei­dung an­be­traf. Da­mit war’s nun vor­bei; aber einen Kranz von an­ge­neh­men grü­nen, schat­ti­gen, blu­mi­gen Spa­zier­we­gen hat­te sie sich doch zwi­schen dem al­ten Kern und Weich­bild und den neu­en Vor­städ­ten er­hal­ten. Ja, wer Zeit dazu hat­te, konn­te hier im­mer noch im Baum­schat­ten, durch hüb­sches, kunst­gärt­ne­risch ge­pflanz­tes und ge­pfleg­tes Busch­werk, um hüb­sche Blu­men­bee­te und um Schwa­nen­tei­che, die vom mit­tel­al­ter­li­chen Stadt­gra­ben und Vau­ban­scher Be­fes­ti­gungs­kun­de über­ge­spart wor­den wa­ren, lust­wan­deln. Es war na­tür­lich hier, wo Ge­heim­rat Feyer­abend das Spa­zie­ren­ge­hen wie­der ler­nen woll­te und die ers­ten Ver­su­che mach­te, sich end­lich ein­mal wie­der in – sei­ner Um­ge­bung um­zu­se­hen. Es gibt im­mer Leu­te, die durch Be­ga­bung und Be­ruf zu dem Glau­ben ge­bracht wer­den, sich – der Welt schul­dig zu sein. Dass schöns­te Irr­tü­mer auf die­sem Fel­de am häu­figs­ten sind, da­für kön­nen sie nichts. –

      Wie ge­sagt, Ge­heim­rat Feyer­abend blieb mit sei­nen Geh­ver­su­chen auf dem »Wall«. Jen­seits des bun­ten, freund­li­chen Na­tur­gür­tels, wel­cher die Vor­städ­te von der Alt­stadt trennt, sol­len be­reits acht­zig- bis neun­zig­tau­send Men­schen woh­nen, und wer Kunst­ge­schich­te der Neu­zeit stu­die­ren woll­te, brauch­te bloß dort durch die brei­ten, mit »Vor­gär­ten« ver­zier­ten Stra­ßen zu wan­deln. Da konn­te er er­fah­ren, was wir seit des Vitru­vi­us Buch »De Archi­tec­tu­ra« aus Bü­chern ge­lernt ha­ben in der Bau­kunst und wie wir al­les, was wir ge­lernt ha­ben, zu ver­wer­ten wis­sen! Ge­heim­rat Feyer­abend hat­te au­gen­blick­lich nicht das ge­rings­te In­ter­es­se da­für; die Gas­sen wa­ren ihm dort zu breit, zu son­nig und zu stau­big, und noch wei­ter hin­aus be­gann die Öde, die einen wach­sen­den Mau­er- und Men­schen­hau­fen um­gibt. An­ge­neh­me Bän­ke, zum Aus­ru­hen für äl­te­re Herr­schaf­ten und zur Sies­ta für Bumm­ler, Ar­beit­lo­se, strei­ken­de oder aus­ge­sperr­te Ar­bei­ter hin­ge­stellt, gab es auch nur auf dem »Wall«, aber auf die­sen ließ er sich sel­ten nie­der, gar nicht auf de­nen, an wel­chen ein Tä­fel­chen der »Pro­me­na­den­ver­wal­tung« kund­gab:

      Nicht für Kin­der­mäd­chen!

      Selt­sa­mer­wei­se lock­ten die für sol­che be­stimm­ten ihn al­lein an, müde Bei­ne vor­zu­ge­ben bei die­sen sei­nen Ver­su­chen, sich wie­der im Le­ben au­ßer­halb sei­ner Wis­sen­schaft we­nigs­tens in et­was zu­recht­zu­fin­den. Über müde Bei­ne hat­te er sich noch nicht zu be­kla­gen: – es wa­ren eben die jun­gen Dir­nen und die Kin­der, die ihn an­zo­gen. Sei­ne große Be­kannt­schaft, die ihn da sit­zen sah, schüt­tel­te nur lä­chelnd den Kopf: »Na, na!«, mach­te aber sonst nur An­mer­kun­gen wie: »Das sieht ihm wie­der ähn­lich!«, hielt sich also mä­ßig bei ih­ren Be­trach­tun­gen, und ei­ni­ge wuss­ten dann und wann ge­nau­er als an­de­re, wes­halb. –

      So schö­nes Wet­ter und der Him­mel im­mer noch blau und die Kas­ta­ni­en­bäu­me grün und die Au­gust­son­ne, die ein­mal der jun­gen Mut­ter sei­nes Kin­des das Herz schwe­rer ge­macht hat­te, als es alle Win­ter­mo­na­te, Nacht­dun­kel, Land­re­gen und Sturm ver­mocht hät­ten, auch im­mer noch die­sel­be! Ihn freu­te der bun­te Reif, der ihm zwi­schen die Bei­ne lief, der Ball, der ihm bei­na­he den Hut vom Kop­fe schlug, und ein stadt­be­kann­ter und – welt­be­rühm­ter Arzt und Wund­arzt war er auch und hat­te sel­ten sei­ne Küns­te so gern und wil­lig in An­wen­dung ge­bracht wie jetzt hier, ei­nem ge­ritz­ten Fin­ger­chen, ei­nem blu­ten­den Näs­chen oder an­de­rem der­glei­chen Un­glück ge­gen­über. Groß­müt­ter, Müt­ter und Tan­ten aus den bes­ten Stän­den be­grüß­ten ihn häu­fig auf den Bän­ken der Kin­der­mäd­chen, aber sei­nes Blei­bens war doch nicht da. Er hat­te meis­tens bald auf­zu­ste­hen und sei­nes We­ges wei­ter­zu­wan­dern, und zwar mit dem Ge­fühl – zu stö­ren. Zu oft muss­te er Sei­ten­bli­cke auf­fan­gen, die deut­lich be­sag­ten: »Ist der Alte schon wie­der da? Was will denn der dum­me Alte im­mer hier auf un­se­ren Bän­ken?« Und sie hat­ten recht, die jun­gen Wär­te­rin­nen der Kin­der an­de­rer Müt­ter, und – umso mehr recht, je hüb­scher sie wa­ren. Ge­heim­rat Feyer­abend hat­te ei­gent­lich hier nichts zu su­chen und nahm nur den Platz an­de­ren weg, die bes­ser und will­komm­ner da sit­zen konn­ten. Hin­ter dem Git­ter des na­hen Ka­ser­nen­ho­fes wa­ren sie ganz der näm­li­chen Mei­nung.

      Und dann das ewi­ge Grü­ßen­müs­sen hier! Dr. Hein­rich Fausts Va­ter, Ge­hei­mer Ober­sa­ni­täts­rat und Pro­fes­sor an der Kur­fürst­lich Säch­si­schen Lan­des­u­ni­ver­si­tät Wit­ten­berg, Dr. med. Faust se­ni­or, hat­te sei­ner­zeit, im sech­zehn­ten Jahr­hun­dert, auf den be­leb­te­ren Tei­len der Pro­me­na­de das Ba­rett nicht öf­ter zu zie­hen als sein ähn­lich be­ti­tel­ter und be­rühm­ter Kol­le­ge bei sei­nen Ver­su­chen, das Lust­wan­deln wie­der zu er­ler­nen, den Hut im neun­zehn­ten. Wie Faust ju­ni­or schlug er sich darob sei­ner un­ver­dien­ten Ehren hal­ber in die Bü­sche und such­te un­be­tre­te­ne­re Pfa­de. Dass ihm da nicht der Teu­fel in Ge­stalt ei­nes Pu­dels be­geg­nen wür­de, wuss­te er; aber dass sich ihm hier, gra­de hier und aus der Blü­te der Kul­tur her­aus, die kal­te Teu­fels­faust ent­ge­gen­bal­len wür­de, hat­te er sich auch nicht ver­mu­tet. Es war aber so.

      Wo er am we­nigs­ten Men­schen be­geg­ne­te, fing er an, nach Be­kann­ten, al­ten – äl­tes­ten Be­kann­ten zu su­chen, um sie wie­der ein­mal zu be­grü­ßen, und – er traf auf kei­nen mehr.

      »Ja se­hen Sie, Herr Ge­heim­rat (auch die Park­wäch­ter kann­ten den be­rühm­ten Mann), was Sie da su­chen, fin­den Sie, ab­ge­se­hen von der spä­ten Jah­res­zeit, jetzt im­mer hier nicht mehr vor. Un­ge­zie­fer gibt es nicht mehr bei uns. Die Zeit, wo man da­mit sei­ne Last hat­te, ist vor­bei.«

      »Wie­so denn?«

      »Ja, da sind die jet­zi­gen städ­ti­schen Ver­hält­nis­se dran schuld, Herr Ge­heim­rat. Und zu je­der Jah­res­zeit, nicht bloß weil es jetzt in den Herbst geht und ihre Flug- und Brü­te­zeit hin ist. Das ist jetzt so bei uns hier mit die Vö­gels wie mit die But­ter­vö­gels, das Rau­pen­zeug, die Kä­fers und was sonst so, vor­züg­lich im Früh­jahr und um die Blü­te, hier in mei­ne Herr­schaft in die Bü­sche und Blu­me­rei nach des Herr­gotts Wil­len sich zu­sam­men­tun, aus dem Ei und Ko­kon kom­men, krau­chen, fres­sen und ’rum­flur­ren und sonst sein We­sen und Un­we­sen ha­ben soll­te. Sie kön­nen so man­ches nicht mehr ver­tra­gen, was der heu­ti­ge Men­sche doch im­mer mehr zu sei­nem täg­li­chen und nächt­li­chen Wohl­sein nö­tig hat.«


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