Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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wenn man nur nicht zu be­hag­lich in dem al­ten Nes­te säße und wenn ei­nem nur der Tag Ruhe lie­ße!« wird der Vet­ter Just die Un­ter­re­dung mit sei­nem Wei­be über das Ma­nu­skrip­tum des »Dok­tors in Ber­lin« fürs ers­te zu ei­nem be­hag­li­chen Ende brin­gen. – – –

      Nun wird es na­tür­lich wie­der Leu­te ge­ben, die nie zu­frie­den sind, wo es sich um den Schluss ei­ner Ge­schich­te, die man ih­nen er­zählt, han­delt; die al­les im­mer noch ge­nau­er und aus­führ­li­cher zu wis­sen wün­schen, als der Er­zäh­ler es vor­tra­gen kann oder – will. Wo es sich um eine Hoch­zeit han­delt, wol­len sie die Zahl der Mu­si­kan­ten ken­nen, wo eine Tau­fe das Ende ist, soll ih­nen nicht ein ein­zi­ger Ge­vat­ter un­ter­schla­gen wer­den, und im vor­lie­gen­den Fal­le (o, ich ken­ne sie!) möch­ten sie mit »zur Lei­che« ge­hen, d. h. den gu­ten al­ten Va­ter Six­tus mit be­gra­ben, und dann ganz ge­nau in Er­fah­rung brin­gen, ob Schloss Wer­den wirk­lich eben­so vom Erd­bo­den ver­schwun­den sei wie die Nes­ter, die wir aus dem Schlos­se einst in die Luft und das grü­ne Ge­zweig hin­gen, oder was ei­gent­lich zu­al­ler­letz­t der Vet­ter Just Ever­stein da­mit an­ge­fan­gen habe. Ich für mein Teil hät­te nun wohl noch man­cher­lei von Ewald und Ire­ne zu be­rich­ten; aber son­der­ba­rer­wei­se wür­de ich da­für die we­nigs­ten auf­merk­sa­men Ohren fin­den, denn »das kann sich ja ein je­der leicht den­ken«.

      Und so sage ich nur, dass Ire­ne mir die In­stand­hal­tung ei­nes Kin­der­gra­bes auf ei­nem Ber­li­ner Kirch­ho­fe an­ver­traut hat und dass es mir, un­be­ru­fen, sonst nach Wunsch geht. Was das üb­ri­ge an­be­langt, z. B. auch Jule Gro­te und Ma­de­moi­sel­le Mar­tin (Schloss Wer­den nie zu ver­ges­sen!), so weiß nur der Vet­ter Just Ever­stein das All­er­ge­naues­te. Wer also noch eine Fra­ge auf dem Her­zen hat, der wen­de sich an ihn. Von Bo­den­wer­der, wo der Frei­herr von Münch­hau­sen ge­bo­ren wur­de, führt der Feld­weg nach dem Stein­ho­fe an je­nem Stei­ne vor­bei, auf wel­chem er – der Vet­ter Just – den Kopf in den Hän­den und die Arme auf die Knie stüt­zend und so in das Blaue hin­ein­star­rend – einst saß und war­te­te auf mensch­li­che Schick­sa­le.

      ENDE

Altershausen

      Die un­voll­en­de­te Er­zäh­lung er­schi­en erst­mals 1911, ein Jahr nach dem Tode des Au­tors.

      »Über­stan­den!«

      Der das sag­te, lag in sei­nem Bet­te, und nach dem Licht auf dem Fens­ter­vor­hang zu ur­tei­len, muss­te die Son­ne ei­nes neu­en Ta­ges be­reits ziem­lich hoch am Him­mel ste­hen. Es war dem be­frei­en­den Seuf­zer­wort ein län­ge­res Zu­samm­su­chen, erst der kör­per­li­chen Glied­ma­ßen, so­dann der noch vor­han­de­nen geis­ti­gen Fä­hig­kei­ten vor­auf­ge­gan­gen. Bei­des nicht, ohne dass es, wie die Kin­der sa­gen: wehe ge­tan hat­te.

      Das Al­ter spricht oft der Kind­heit ein Wort nach, weil es von Na­tur kein bes­se­res weiß und, wenn es im Lau­fe der Jah­re da­nach ge­sucht ha­ben soll­te, keins ge­fun­den hat. Man braucht sich nicht im­mer an ei­ner Ti­sche­cke ge­sto­ßen ha­ben, es kann ei­nem auch sein sie­ben­zigs­ter Ge­burts­tag freund­schaft­lichst, eh­ren­voll-fei­er­lichst be­gan­gen wor­den sein.

      Man schrieb den vier­und­zwan­zigs­ten Au­gust, an wel­chem Da­tum im Jahr neun­und­sie­ben­zig nach un­se­res Herrn und Er­lö­sers Ge­burt Her­ku­la­num und Pom­pe­ji ver­schüt­tet wor­den wa­ren und an dem im Jahr fünf­zehn­hun­dertzwei­und­sie­ben­zig der hei­li­ge Bar­tho­lo­mä­us im himm­li­schen Ehren­saal in kopf­schüt­teln­der Be­trach­tung vor dem Glas­schrank mit sei­ner Er­den­haut stand, brumm­te:

      »Hm, hm, hm!«

      und sich frag­te:

      »Hab ich die mir ei­gent­lich da­für von mei­nen lie­ben Ar­me­ni­ern ab­zie­hen las­sen?« –

      Am Tage vor­her, das heißt nicht vor dem Un­ter­gang von Her­ku­la­num und Pom­pe­ji oder der Pa­ri­ser Blut­nacht des hei­li­gen Bar­tho­lo­mä­us, son­dern an ei­nem we­der his­to­risch noch ethisch gleich­wer­ti­gen drei­und­zwan­zigs­ten Au­gust ei­nes der letz­ten Jah­re des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts hat­te vor sie­ben­zig Jah­ren das Men­schen­kind, das jetzt auf­recht im Bet­te saß, das Licht der Welt, wie man eu­phe­mis­tisch sagt, er­blickt, und sei­ne ge­gen­wär­ti­ge Mit­welt: Ver­wandt­schaft, Freund­schaft und Be­kannt­schaft – Pa­tro­nen- und Kli­en­ten­tum, schi­en sich wirk­lich ge­freut zu ha­ben, den Tag un­ter ih­ren Er­leb­nis­sen mit­fei­ern zu kön­nen. Ein lan­ger Satz, aber dem Ge­scheh­nis an­ge­mes­sen! –

      Es roch um den er­wa­chen­den Ju­bel­greis nach Ku­chen – Ge­burts­tags­ku­chen, Hoch­zeit­ku­chen, Be­gräb­nis­ku­chen – nach dem Ku­chen al­ler Er­den­fest­lich­kei­ten! und der Ju­bel­greis mit den müh­sam wie­der zu­sam­men­ge­such­ten Kör­per- und Geis­tes­kräf­ten bin

      Ich,

      nun der Schrei­ber die­ser Blät­ter.

      Auf die Po­stil­le ge­bückt zur Sei­te des wär­me­n­den Ofens und – im­mer noch den Ku­chen­ge­ruch des Le­bens in der Nase?…

      Sie­ben­zig Jah­re nun und – für das Al­ter im­mer noch merk­wür­dig gut auf den Bei­nen, wie man das aus­drückt! und fünf­und­drei­ßig Jah­re so un­ge­fähr, seit mein Weib zu dem blau­en Him­mel auf und in den Som­mer­son­nen­schein und den Kin­der­lärm der Gas­se hin­ein, dem ihr Un­fass­ba­ren, Un­be­greif­li­chen ge­gen­über, wild-böse durch den jun­gen Schmerz ge­macht, un­serm Schick­sal zu­schluchz­te:

      »Das schö­ne Wet­ter, und mein Kind nicht mehr da­bei!«…

      Seit län­ger als drei­ßig Jah­ren wächst auch das Gras auf dem Hü­gel, der mei­ne Frau ne­ben dem Kin­de deckt. Gute und schlech­te Wit­te­rung hat, seit die Lie­ben mich des We­ges al­lein zie­hen lie­ßen, nach ge­wohn­ter Wei­se auf Er­den ge­wech­selt und – ich habe mich gut »kon­ser­viert«. Alle sa­gen das, und auch mein all­er­gnä­digs­ter Lan­des­herr wird, wenn ich ihm dem­nächst mei­nen Dank für den huld­reichst ver­lie­he­nen ho­hen Or­den zu Fü­ßen le­gen wer­de, viel­leicht eine ähn­li­che freund­li­che Be­mer­kung fal­len­las­sen. Ja­wohl, es war ein sehr schö­nes Fest­wet­ter, und die Kin­der spie­len, lär­men, jauch­zen noch im­mer in den Gas­sen: mein Weib und mein Kind nicht mehr da­bei; aber wir an­de­ren recht ver­gnügt bei Ti­sche. Ich je­den­falls noch vor­han­den in per­fect he­alth and me­mo­ry – bei gu­ter Ge­sund­heit und kla­rem Be­wusst­sein – wie es in ei­nem, nicht bloß den nächs­ten Er­ben be­kannt­ge­wor­de­nen Te­sta­ment heißt!

      Fünf­zehn Jah­re be­deu­ten nach dem Wort des His­to­ri­kers eine lan­ge Zeit für den Men­schen und sein Le­ben, drei­ßig eine län­ge­re. Was al­les kann der Mensch hin­ter sich las­sen und vor sich brin­gen, bis er vor der Zahl sie­ben­zig und dem be­rühm­ten bib­li­schen Wort steht? Mir brauch­te kein sol­cher »Ju­bel­tag« zu kom­men, um mir das deut­lich zu ma­chen, nur et­was deut­li­cher konn­te es mir da­durch ge­macht wer­den.

      Ich ste­he we­der vor ei­ner ver­schüt­te­ten Er­den­welt noch im Reich der Him­mel vor mei­ner Mär­ty­rer-Ehren­haut: ich ste­he nur noch im­mer auf mei­nen Fü­ßen; aber es ist nicht wahr, was ei­ni­ge be­haup­ten, näm­lich dass ich das ein­zig und al­lein mei­nem gu­ten Ma­gen zu ver­dan­ken habe. Man darf üb­ri­gens der­glei­chen Ge­re­de in ei­nem Da­sein, wel­ches wie das un­se­ri­ge recht sehr auf eine gute Ver­dau­ung in


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