Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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der kurz ab­ge­wei­de­ten Gras­nar­be? Dort un­ten, zur Sei­te am Bach, lag der Stall, un­ter des­sen Tor die­ser Wirk­li­che Ge­heim­rat es zum ers­ten Mal im Le­ben er­fuhr, wie es be­kommt, wenn eine Schaf­her­de über einen weg­tram­pelt. Es war na­tür­lich sein da­ma­li­ger bes­ter Freund, Lud­chen Bock aus dem Nach­bar­hau­se, ge­we­sen, der ihm zu die­ser Er­fah­rung ver­half. Böse mein­te der es nicht, der hat­te nur sei­nen Spaß dar­an. Dass er er­zie­he­risch ein­wir­ken woll­te, ist gänz­lich aus­ge­schlos­sen, aber Ge­heim­rat Pro­fes­sor Dr. Feyer­abend wuss­te in der Tat durch ihn, sei­nen Freund Lud­chen, zu­erst, dass man sich nie ei­ner nach der Wei­de hin­drän­gen­den Her­de, und wenn es auch nur eine Schaf­her­de wäre, in den Weg stel­len soll, wenn man nicht von den Fü­ßen ge­ho­ben, in den Dreck ge­legt und bi­pe­disch wie qua­dru­pe­disch über­tram­pelt wer­den will. Als un­be­wuss­ten Päd­ago­gen hat­te er ihm über­haupt noch man­ches zu ver­dan­ken. Nicht nur die Häu­ser und Gär­ten der Jun­gen grenz­ten nach­bar­lich an­ein­an­der, son­dern sie wa­ren auch Nach­ba­ren auf der Schul­bank beim Rek­tor und Pas­tor pri­ma­ri­us Schus­ter.

      Bei die­sem hat­te der Ho­no­ra­tio­ren­sohn Frit­ze Feyer­abend Pri­vat­stun­den und lern­te La­tein, was er da­mals sich, sei­nem Va­ter und dem Rek­tor gern ge­schenkt hät­te. Lud­chen Bock lern­te es nicht. Des­sen Va­ter war ein be­gü­ter­ter Stein­bruch­be­sit­zer und dazu ein Acker­mann, und bei­des soll­te auch sein Nach­fol­ger im Erbe wer­den, und zu bei­dem brauch­te man kein La­tein.

      Je­den­falls hat­te er, Lud­chen, als Er­zie­her einen Vor­zug vor dem Rek­tor: was er lehr­te, das wuss­te er auch; aber ob der alte gute Rek­tor Schus­ter wirk­lich La­tein ver­stand, be­zwei­fel­te Frit­ze Feyer­abend zwar nicht, doch war es ihm nun­mehr längst zur Ge­wiss­heit ge­wor­den, dass dem nicht so war.

      Ja­wohl, was Lud­chen Bock lehr­te, das wuss­te er. Wie man­che tief­ge­fühl­te Lücke in sei­ner Bil­dung hat­te er dem Schul­bank- und Le­bens­ge­nos­sen aus­ge­füllt, wenn auch nicht aus dem Schul­sack. Frei­lich, Fritz­chens El­tern und vor­züg­lich sei­ne Mut­ter durf­ten bes­ser nicht von al­lem wis­sen, was Lud­chen schon ver­stand und ger­ne als Nach­bar und Freund wei­ter­gab.

      Wie kam der große Mann sei­ner Wis­sen­schaft, die Leuch­te der Hör­sä­le rund um den Erd­ball, durch den Rauch sei­ner Al­terspfei­fe auf sei­ne Ka­nin­chen­zucht mit Lud­chen Bock?

      Wie kam er über­haupt wie­der auf sei­nen ers­ten und bes­ten Freund im Le­ben, auf sei­nen Freund Lud­chen Bock? auf Al­ters­hau­sen und Lud­chen Bock? Wann tauch­ten das alte Nest und der alte Jun­ge nach un­ge­zähl­ten Jah­ren der Ver­ges­sen­heit zum ers­ten Mal wie­der in gan­zer Fri­sche in sei­ner Erin­ne­rung auf?

      Der neu­li­che Ju­bi­lar rieb sich erst lä­chelnd, nach­her so­gar la­chend die Stirn: bei sei­nem Ehren­fest­mahl im Kö­nigs­hof sah er Lud­wig Bock so deut­lich, wie im Kö­nigs­saal zu Fo­res Mac­beth sei­nen Freund Ban­quo, wenn auch nicht mit dem knie­schlot­tern­den Schau­der des mör­de­ri­schen Schot­ten­kö­nigs. Ge­mor­det hat­te Fritz­chen sein Lud­chen nicht, wenn auch oft ge­nug Blut zwi­schen ih­nen ge­flos­sen war – glück­li­cher­wei­se meis­tens nur aus den Na­sen. Wer oben­auf ge­kom­men war, hat­te mit der einen Faust im Haar­busch des Geg­ners die an­de­re je­des Mal zu grim­migs­ter Ham­mer­ar­beit auf Maul und Rie­cher des Geg­ners ver­wen­det, und der nächs­te Brun­nen oder Bach hat­te ge­nügt, mit dem Blut die Wut, das Gift, den Neid und – die Ge­wis­sens­bis­se weg­zu­spü­len. An der Fest­ta­fel im Kö­nigs­hof war der Freund dem Freun­de nur in der Ja­cke er­schie­nen, die ge­wöhn­lich die Spu­ren der letz­ten Bal­ge­rei auf­wies. Auf der Schul­bank des Rek­tors Schus­ter war Lud­chen Bock ne­ben Fritz­chen Feyer­abend nicht aus dem Bo­den auf­ge­stie­gen, son­dern er hat­te sich aus dem Lich­ter­glanz, dem fest­li­chen Ge­dünst, dem Stim­men­ge­wirr und Ta­fel­mu­siklärm ent­wi­ckelt.

      Fol­gen­der­ma­ßen:

      Selbst­ver­ständ­lich trug das sie­ben­zig­jäh­ri­ge Ge­burts­tags­kind alle sei­ne Or­den. Auch der jüngs­te, letz­te leg­te sich ihm an ei­nem feu­er­far­be­nen Band um den Hals und leuch­te­te un­ter den rund­um flim­mern­den und blit­zen­den wie der Mond un­ter den nie­de­ren Ster­nen oder gab doch je­den­falls kei­nem an Glanz was nach. Und Ex­zel­lenz, der Kul­tus­mi­nis­ter, hiel­ten die Rede, die Tisch­re­de auf den be­rühm­ten Mit­bür­ger und sein se­gen­rei­ches Er­den­wal­len und -wir­ken – so eine Rede, wäh­rend wel­cher der Be­re­de­te nicht weiß, ob er sich aus Schä­mig­keit und Be­schei­den­heit un­ter der Ta­fel­de­cke ver­krie­chen oder mit dem be­lor­beer­ten, mehr oder we­ni­ger kah­len Schä­del, sei­nes Selbst­be­wusst­seins schon von sel­ber voll ge­nug, die Saal­de­cke durch­sto­ßen muss. Und wäh­rend die­ser Rede, in ei­ner Kunst­pau­se die­ser Rede, als al­ler Au­gen auf den Ge­fei­er­ten ge­rich­tet wa­ren, als die Fest­mu­sik oben im Ju­bel­bra­ten­dunst jed­we­des Blas­in­stru­ment zum Tusch schon ge­gen den Mund hob und die Pau­ken­schle­gel zum letz­ten höchs­ten Los­don­nern fes­ter in die Fäus­te fass­te, ist es ge­we­sen, dass Lud­chen Bock plötz­lich wie­der ne­ben Fritz Feyer­abend auf der Schul­bank vorm al­ten Rek­tor saß, heim­tückisch grin­send und zäh­ne­flet­schend an sei­ner Schul­ter schnüf­fel­te und, als ob er dem Rek­tor zei­gen wol­le, dass er aus sei­ner Ja­cke her­aus­ge­wach­sen und der Är­mel, vom letz­ten Kampf her, dazu ein Loch am Ell­bo­gen habe, den Zei­ge­fin­ger »pet­zend« zum Lehr­stuhl auf­reck­te:

      »Herr Rek­tor, Feyer­abend ist un­rein!«

      – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

      Die­se Punk­te be­deu­ten das Er­schre­cken und Er­star­ren, das Zu­sam­men-, Auf- und Aus­ein­an­der­fah­ren im Fest­saal, wenn Ex­zel­lenz, auf den Brust­kas­ten des ge­fei­er­ten Grei­ses deu­tend, statt: »Auch durch die­ses hohe Zei­chen Höchs­tih­rer Gna­de ha­ben Ma­je­stät un­serm hoch­ver­ehr­ten usw.«, ge­sagt ha­ben wür­de: »Mei­ne Herr­schaf­ten, mein lie­ber al­ter Freund und Whist­ge­nos­se Feyer­abend hat eine Laus!«

      Sol­ches näm­lich be­deu­te­te vor dem Ka­the­der des Pas­tor pri­ma­ri­us Rek­tor Schus­ter zu Al­ters­hau­sen bei er­ho­be­nen, wenn nicht Schwur-, so doch Zei­ge­fin­ger vor sech­zig Jah­ren der Ruf: »Herr Rek­tor, Mül­ler – Schul­ze – Mei­er – Schmidt – Karl – Wil­li – Frit­ze«, oder wie deut­sches Volk sonst be­n­am­set wird, »ist un­rein!« Und die von der höchs­ten Ari­sto­kra­tie der Pla­ne­ten­stel­le bes­tens er­zo­ge­nen und rein­lichst ge­hal­te­nen Ho­no­ra­tio­rensöh­ne und -töch­ter konn­ten der­glei­chen Ruf und An­kla­ge über sich er­ge­hen las­sen müs­sen und aus dem Um­gang mit ih­ren Zeit- und Al­ters­ge­nos­sen eine In­sek­ten­samm­lung nach Hau­se brin­gen, nach der sie wahr­lich nicht so lan­ge ver­geb­lich in den »Bü­schen« um sich her zu su­chen hat­ten, wie neu­lich der al­te Dok­tor Feyer­abend im Busch­werk sei­ner Spa­zier­we­ge nach den Kerb­tie­ren sei­ner Ju­gend­zeit.

      Zu Hau­se gab es denn selbst­ver­ständ­lich bei den Müt­tern viel Ekel und ein großes Ge­schrei, wäh­rend die Vä­ter un­be­greif­li­cher­wei­se nur lach­ten und nicht mit dem Rek­tor über die Schan­de re­den woll­ten. –

      Durch die Sonn­tag­mor­gen­stil­le an sei­nem of­fe­nen Fens­ter, ei­ni­gen neu­en Rin­gen sei­nes Ta­bak­damp­fes nach­schau­end, ver­nahm


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