Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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Ju­bel und Jam­mer um­fing.

      »Noch im­mer der alte Son­nen­schein, aber – die nicht mehr da­bei!« mur­mel­te der Greis an sei­nem Fens­ter seuf­zend, um sich im nächs­ten Au­gen­blick wie­der lä­chelnd die Stirn zu rei­ben.

      »Du, dar­in habe ich es bes­ser zu Hau­se als du. La­tein kann mei­ner nicht«, hör­te er es ne­ben sich – hör­te er wie­der­um Lud­chen Bock ne­ben sich, die stei­ni­ge Ber­gleh­ne im Son­nen­schein hin­un­ter nach Al­ters­hau­sen. »Das wäre noch schö­ner, wenn er mich auch dazu zum Rek­tor Schus­ter täte wie dei­ner dich! Aber dei­ner ist auch der Klügs­te in der gan­zen Stadt, sagt mein Va­ter, und der Nie­der­träch­tigs­te und Freund­lichs­te mit den Leu­ten auch, sagt mei­ne Mut­ter.«

      Wie es dem Al­ten am Fens­ter auf­klang, al­les, was die Leu­te von Al­ters­hau­sen von sei­nem jun­gen Va­ter sag­ten, und al­les – was er sel­ber von dem wuss­te aus Al­ters­hau­sen, da er noch un­ter sei­nem stren­gen Blick und ver­steck­ten Lä­cheln mit dem Rek­tor Schus­ter im Kampf darob lag, wer von bei­den am we­nigs­ten La­tein wis­se!

      Da war er in dem ge­gen­wär­ti­gen Son­nen­schein, als ob er nie auf­ge­hört habe, dar­in mit­zu­spie­len – – – – – – – – – – –

      »Ist denn das wirk­lich dein Ernst?« frag­te nach­her beim Mit­tags­tisch Schwes­ter Ka­ro­li­ne…

      Vor zwei Men­schen­al­tern wür­de Fritz­chen sei­nem Schwes­ter­chen Lin­chen un­be­dingt er­wi­dert ha­ben: »Mein blu­ti­ger!« Jetzt nick­te er nur lä­chelnd, je­doch da­bei seuf­zend und die Tor­heit sei­nes Vor­ha­bens voll­kom­men ein­se­hend. Ge­heim­rat Feyer­abend hat­te näm­lich sei­ner treu­en Haus­vor­mün­de­rin mit ei­nem Hin­weis auf das schö­ne Wet­ter, das wun­der­ba­re Wet­ter, sei­ne Ab­sicht aus­ge­spro­chen, zu ver­rei­sen, und auf ihre Fra­ge: »Wo­hin denn?« nur zu ant­wor­ten ge­wusst:

      »Ja, wenn ich das sel­ber wüss­te!«

      Wenn er ihr mit­ge­teilt ha­ben wür­de, dass er dies­mal nur sei­nen Freund Lud­chen Bock im Nach­bar­hau­se be­su­chen wol­le, so wür­de sie ihn ein­fach für ver­rückt er­klärt ha­ben. Sie hat­te die­se Re­dens­art so an sich, ge­brauch­te sie nicht sel­ten auch dem Bru­der ge­gen­über und hat­te dann und wann nicht ganz un­recht da­mit.

      Wenn er ihr ge­sagt ha­ben wür­de, er habe Ge­schäf­te in Pa­ris, Lon­don oder Rom, oder man wün­sche sei­ne Ge­gen­wart in Ma­drid, Rio Ja­nei­ro oder New-York, so wür­de sie das für mög­lich ge­hal­ten und nicht als au­ßer­halb der Le­bens­lauf­bahn des Bru­ders lie­gend ge­fun­den ha­ben; aber – wo lag das Land, wo wohn­ten die Men­schen, die der alte Mann jetzt, nach sei­ner »Quies­zie­rung« aus der Län­ge der Tage und der Schlaf­lo­sig­keit der Näch­te her­aus, auf­zu­su­chen – wie­der zu be­su­chen wünsch­te?

      Da er sel­ber es nicht wuss­te, wie hät­te er es der Gu­ten deut­lich ma­chen kön­nen, als er sie er­such­te, ihm noch ein­mal für den Be­darf der nächs­ten Wo­chen die nö­ti­ge Leib­wä­sche an Wol­le, Lei­nen – Un­ter­ho­sen, Nacht­ja­cken und -müt­zen usw. usw. – in den Rei­se­kof­fer aus ih­ren Schrän­ken zu ver­ab­fol­gen?

      Sein­er­zeit war er viel ge­reist, aber nicht, aber nie, wie ein Wan­ders­mann aus ei­nem Lud­wig Richt­er­schen Bil­der­buch, bloß des Früh­lings, des Som­mers, des Son­nen­scheins, des Er­den­grüns und der Him­mels­bläue we­gen. In Sa­chen sei­ner Wis­sen­schaft und Kunst, sei­nes Ru­fes hal­b­en, war er be­ru­fen wor­den zu Kon­gres­sen der Fach­ge­nos­sen, zu den Kran­ken­bet­ten des am bes­ten si­tu­ier­ten Tei­les der Mensch­heit. Mit dem ur­al­ten an­gel­säch­si­schen Rei­se­sän­ger konn­te er in die­ser Hin­sicht gleich­falls von sich be­rich­ten:

       Ich war mit Hun­nen und mit Hræd­go­ten;

       Mit Win­len war ich und mit Wickin­gen;

       Mit Sea­xen ich war und mit Schwerd­wa­ren;

       Mit Thu­rin­gen ich war und mit Thro­wen­den,

       Und mit Bur­gen­den; da er­hielt ich einen Ring! Da gab mir Gun­the­re er­freu­en­des Ge­schenk, Zum Loh­ne des San­ges; das war kein fau­ler Kö­nig! Mit Grie­chen war ich und mit dem Kai­ser, Er der Ge­walt hat­te der Won­ne­bur­gen, Der Wal­chen und Wal­chin­nen und des Wal­chen­rei­ches.

      Ja, an man­cher Saal­tür, in man­cher be­rühm­ten Stadt hat­ten ihn er­lauch­te Fach­ge­nos­sen fei­er­lichst-kol­le­gia­lisch be­grüßt, an der Tür man­ches Kran­ken­zim­mers er­lauch­tes­ter Pa­ti­en­ten in meh­re­ren Welt­tei­len hat­ten ihn lie­ben­de Ver­wand­te klop­fen­den Her­zens und wei­nen­den Au­ges er­war­tet und ihm den Vor­tritt ge­las­sen!

      »Schrei­tend in den Schick­sa­len durch der Men­schen Län­der vie­le«, war der graue Arch­ia­ter und Psych­ia­ter des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts ge­wan­dert; aber ge­sun­gen hat­te er nicht, wie der weiß­bär­ti­ge Bar­de des sie­ben­ten oder ach­ten. Nein, ge­sun­gen hat­te er we­der in den Ver­samm­lungs­sä­len, den Au­di­to­ri­en der Uni­ver­si­tä­ten noch vor den Kö­ni­gen, den Ed­len und dem Vol­ke! Und am Her­zen, wenn nicht am ani­ma­li­schen, hat­te er das al­les auch nicht ge­fasst und zu sich hin­ge­zo­gen; we­der in den Won­ne­bur­gen noch in den Spi­tä­lern, in den Ir­ren­häu­sern, den Dach­stu­ben und Kel­ler­woh­nun­gen der Mensch­heit. Aber ob er von sel­ber hin­ge­gan­gen war oder ob er be­foh­len wor­den war – auf den Bei­nen und Rä­dern war er häu­fig ge­nug in sei­nem Le­ben ge­we­sen, und des­we­gen hät­te Schwes­ter Line sich gar nicht ge­wun­dert, wenn er noch ein­mal ver­rei­sen woll­te, und hät­te kein Wort dazu ge­sagt. Doch nun – wuss­te er dies­mal nicht, wo­hin er woll­te, und blieb fest da­bei, dass er es nicht wis­se: soll­te das wirk­lich das ers­te Zei­chen be­gin­nen­der Al­ters­schwä­che sein?

      Er blieb bei sei­nen Wor­ten und »dum­men Re­dens­ar­ten«, wenn er aber je zu ir­gend­ei­ner Le­bens­zeit von sich sel­ber aus ir­gend­wo­hin ge­gan­gen war, so war das jetzt – an dem Tage, an wel­chem er sei­ne letz­te Rei­se, sei­ne Ju­bi­lä­ums­fahrt nach Al­ters­hau­sen an­trat!…

      Nach dem Bahn­hof brach­te sie ihn na­tür­lich wie im­mer und in dem Ge­fühl, dass ihre se­li­ge Mut­ter ihr auf­ge­tra­gen habe, was das Äu­ßer­li­che be­traf, sich sei­ner so gut und sorg­lich als mög­lich an­zu­neh­men und ihn nicht durch sei­ne ei­ge­ne Uner­fah­ren­heit und an­de­rer Men­schen Schlech­tig­keit zu Scha­den kom­men zu las­sen. Sie war die ers­te aus der Drosch­ke her­aus, sie war es, die »ihm das Ge­päck be­sorg­te«. So häu­fig er in drei bis vier Welt­tei­len sol­ches Ge­schäft sel­ber für sich ver­rich­tet ha­ben moch­te, die Fä­hig­keit dazu trau­te sie ihm, so­lan­ge sie ihn un­ter ih­ren ei­ge­nen Au­gen hat­te, nie zu. Aber das ist nun ein­mal so und bleibt hof­fent­lich so: nim­mer hat ein neid- und gif­t­er­füll­ter Kon­kur­rent und Kol­le­ge uns so viel Fä­hig­kei­ten ab­ge­spro­chen, als uns Schwes­ter, Gat­tin und Toch­ter wegstrei­chen. Nur Groß­müt­ter und Müt­ter schrei­ben uns manch­mal mehr an Tu­gen­den und Ver­diens­ten zu, als wir von Rechts we­gen vor der Welt be­an­spru­chen kön­nen. Wie sel­ten hat eine Groß­ma­ma einen Rü­pel zum En­kel, wie sel­ten eine Mama einen Esel zum Sohn! –

      »Ich weiß nicht, wie es kommt, Fritz, aber jetzt fällt mir dein Sie­ben­zigs­tes doch auch auf die Ner­ven«, sag­te Schwes­ter


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