Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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und hoch­ge­gip­fel­te Bäu­me.«

      Ja, wenn er das nur zu Ge­sicht be­kom­men hät­te; aber das war ihm ja, so­weit es Al­ters­hau­sen be­traf, al­les »ver­baut« wor­den im Ver­lauf des letz­ten hal­b­en Jahr­hun­derts! Wie konn­ten ihn die lie­ben Ge­stal­ten und Bil­der, die ihn hier er­war­ten moch­ten, vor die­sem neu­en Sta­ti­ons­ge­bäu­de in Empfang neh­men? Und die lan­ge, fre­che, öde Häu­ser­rei­he da, die Trep­pe hin­un­ter, jen­seits der Land­stra­ße! und das »Bahn­hofs­ho­tel«! Das soll­te sein Al­ters­hau­sen sein, sein Ge­burts­ort, in wel­chem er sei­nen bes­ten ers­ten Freund, Lud­chen Bock, be­su­chen woll­te?

      Ja, da stand er, und –

       »da er sein Va­ter­land an­sah,

       Hub er bit­ter­lich an zu wei­nen und schlug sich die Hüf­ten,

       Bei­de mit fla­cher Hand, und sprach mit kla­gen­der Stim­me:

       ›Weh mir! zu wel­chem Volk bin ich nun wie­der ge­kom­men?‹«

      Er hät­te nur den Sta­ti­ons­vor­stand fra­gen kön­nen; aber auch die­ser Herr, des­sen Auf­merk­sam­keit er ei­ni­ge Au­gen­bli­cke lang er­regt zu ha­ben schi­en, ver­schwand, ohne nur zum Gruß an die rote Müt­ze ge­grif­fen zu ha­ben. Be­trof­fen wie Odys­seus in Phorkys’ Bucht sah der Fremd­ling im Va­ter­lan­de auf sein Ge­päck:

       »Wo ver­berg ich dies vie­le Gut? und wo­hin soll ich sel­ber

       Ir­ren? O wäre doch dies im phä­aki­schen Lan­de ge­blie­ben!«

      »Soll ich Sie das nach dem Ho­tel tra­gen?« frag­te eine wei­ner­li­che Kin­der­stim­me hin­ter ihm, und wie der land­frem­de Kö­nig von Itha­ka hat­te er kei­ne Ah­nung, dass nur die­se Stim­me es war, die ihm sa­gen konn­te, dass er wirk­lich noch ein­mal zu Hau­se in Al­ters­hau­sen an­ge­langt sei und sei­ne Fahrt nach Traum­land zum Zweck füh­ren kön­ne. – – –

      Der grei­se An­kömm­ling sah sich um nach dem Fra­ge­stel­ler und sah in ein al­tes, al­tes, feis­tes, run­zel­lo­ses, un­bär­ti­ges Grei­sen­ge­sicht und in Au­gen, de­ren Zwin­kern un­ter schlaf­fen Li­dern her­vor ihm nur zu gut aus sei­ner Wis­sen­schafts- und Le­ben­spra­xis be­kannt war.

      »Ich bin ja Lud­chen!« grein­te das Ge­s­penst, und Frit­ze Feyer­abend aus Al­ters­hau­sen, der we­der in den Won­ne­bur­gen der Fürs­ten die­ser Erde noch sonst­wo dem Er­de­ne­lend ge­gen­über mit den Au­gen ge­zwin­kert hat­te, fuhr zu­sam­men und trat drei Schrit­te zu­rück und stam­mel­te:

      »Lud­chen Bock?!«

      »Lud­chen – Lud­chen Bock!- lach­te das Ding kin­disch ver­gnügt. »Soll ich Sie Ihren Kof­fer tra­gen? ich weiß den Weg. Ich weiß al­les hier, und sie ken­nen mich alle. Wenn die an­de­ren Jun­gens nicht wä­ren, wäre ich der ein­zi­ge. Soll ich Sie Ihren Kof­fer in die Stadt tra­gen? Ich bin Lud­chen Bock! Fra­gen Sie nur, wen Sie wol­len hier; sie ken­nen mich alle und wis­sen, wer ich bin! Die ver­fluch­ten an­de­ren Jun­gen!… aber sie trau­en mir alle.«

      »Ich auch, Lud­chen!« sag­te der Wirk­li­che Ge­hei­me Ober­me­di­zi­nal­rat Pro­fes­sor Dr. Feyer­abend. »Aber nach dem Rats­kel­ler möch­te ich zum Über­nach­ten, nicht nach der neu­en Wirt­schaft da drü­ben. Gibt es den Rats­kel­ler noch bei euch hier in Al­ters­hau­sen?«

      Das alte blöd­sin­ni­ge Stadt­kind starr­te den al­ten frem­den Herrn an, wie ver­blüfft ob der Dumm­heit der Fra­ge. Dann lach­te es nur, wie die Weis­heit lacht, wenn sie durch Tat­sa­chen ant­wor­tet, griff nach dem Kof­fer der Schwes­ter Ka­ro­li­ne, schwang ihn sich auf die Schul­ter, schritt mit ei­nem Kopf­ni­cken rück­wärts über die Schul­ter dem Frem­den vor­an den Steig vom Bahn­hof hin­un­ter, über die Land­stra­ße, vor­bei an der neu­en Häu­ser­rei­he, die dem noch mal auf Be­such ge­kom­me­nen Stadt­sohn bis jetzt Al­ters­hau­sen ver­deck­te. Wil­len­los, schwan­kend, wie be­täubt durch solch ra­sches Wie­der­fin­den folg­te der »große Mann« aus der »großen Welt« sei­nem bes­ten ers­ten Freun­de in der Welt.

      Sein Schick­sal hat­te an man­chem End­punkt sei­ner Le­bens­fahr­ten für man­nig­fa­che Über­ra­schun­gen ge­sorgt, aber so wie jetzt doch noch nie. Er war an vie­len Or­ten von man­cher­lei Men­schen­tum er­war­tet und auf al­ler­lei Wei­se in Empfang ge­nom­men wor­den, aber so wie jetzt noch nicht.

      »Hat der alte No­th­na­gel den Rats­kel­ler noch?« frag­te er idio­tisch wie sein Füh­rer – zeit­ver­ges­sen, als ob nicht fast zwei Men­schen­al­ter ver­flos­sen sei­en, als der No­th­na­gel, den er un­ter dem Ein­druck der Stun­de mein­te, den Rats­kel­ler von Al­ters­hau­sen in­ne­hat­te.

      Der eine hin­ter dem an­de­ren über­schrit­ten die zwei Freun­de vom Bahn­ho­fe her die Land­stra­ße, lie­ßen das Bahn­hofs­ho­tel, von des­sen Schwel­le aus ein et­was ku­ri­os aus­se­hen­der Por­tier dem Stadt­sim­pel Lud­chen eine Faust wies, zur Lin­ken und von der Brücke an das, was seit sech­zig Jah­ren an Bau­lich­kei­ten zu Al­ters­hau­sen hin­zu­ge­kom­men war, im Rücken. Wie wenn ein Thea­ter­vor­hang mit grie­chi­schem Tem­pel und der dazu ge­hö­ri­gen Staf­fa­ge drauf em­por­rollt und da­hin­ter auf der Büh­ne Wil­helms Schreib­stu­be aus den Ge­schwis­tern er­scheint, so war das!… Von dem lei­se hin­si­ckern­den Bach, der doch zur Rech­ten der Brücke den drei­e­cki­gen Teich bil­de­te, bis zu den Res­ten der mit­tel­alt­ri­gen Stadt­mau­er das Wie­sen­tal ent­lang und den grau­en Dä­chern drü­ber und dem stump­fen Turm der Stadt­kir­che – von den Wäl­dern und Berg­gip­feln im Halb­kreis rund­um gar nicht zu re­den – al­les, al­les, wie es war vor sech­zig Jah­ren, al­les, wie Frit­ze Feyer­abend es hier ge­las­sen hat­te, mit sei­nes Schick­sals Faust am Kra­gen, auf sei­nen Le­bens­weg hin­ge­dreht und für­der­ge­sto­ßen:

      »Nicht zu viel um­se­hen, Kind! Marsch, Jun­ge!« – – –

      Er hat­te sich stets auf sei­nen kla­ren Kopf et­was ein­ge­bil­det, der Wirk­li­che Ge­hei­me Ober­me­di­zi­nal­rat Pro­fes­sor und Dok­tor Fried­rich Feyer­abend: au­gen­blick­lich sah’s in ihm ne­be­lig aus, und so war’s recht gut, dass über ihm, beim Wie­de­r­ein­zug in die ers­te Er­den­hei­mat, we­nigs­tens der Abend­him­mel sei­ne Schön­heit, Hei­ter­keit und Klar­heit wei­ter be­hielt.

      So schö­nes Wet­ter, und – bei­de alte Kin­der von Al­ters­hau­sen noch da­bei! –

      Von Schritt zu Schritt wur­de das Ver­gan­ge­ne le­ben­dig. So­gar die Pflas­ter­stei­ne un­ter den Fü­ßen fin­gen an zu re­den, nicht bloß die Häu­ser, die Mau­ern, die Fens­ter, die Tü­ren und Tor­we­ge und die Trep­pen und Bän­ke da­vor – al­les, al­les sag­te:

      »Gu­ten Abend, Herr Ge­hei­mer Ober­me­di­zi­nal­rat! Herr­je, se­hen wir dich auch mal und so wie­der, Frit­ze Feyer­abend?«

      Da schrill­te es hin­ter ih­nen:

      »Lud­chen! Lud­chen! Lud­chen Bock!«

      und der Schat­ten­füh­rer mit Schwes­ter Ka­ro­li­nes ele­gan­tem Rei­se­kof­fer auf der Schul­ter wen­de­te sich er­bost und droh­te mit der Faust:

      »In­fa­me Krö­ten! Da sind die an­de­ren Jun­gens wie­der! Mit Stei­nen soll man nicht schmei­ßen, der Rek­tor hat’s ver­bo­ten und die Po­li­zei auch, aber – wenn ich einen fas­se!«

      Er setz­te das


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