Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada

Hans Fallada – Gesammelte Werke - Hans  Fallada


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war. Er hat­te ge­se­hen, mit sei­nen ei­ge­nen Au­gen hat­te er es ge­se­hen, wie Quan­gel die Kar­te auf ei­ner Trep­pen­stu­fe nie­der­leg­te – er tat das manch­mal, wenn die Trep­pen­fens­ter kei­ne Fens­ter­bän­ke hat­ten.

      »Ich habe es ge­se­hen, mit mei­nen ei­ge­nen Au­gen habe ich es ge­se­hen!«, schrie der Auf­ge­reg­te den Wacht­meis­ter an und schwenk­te die Kar­te. »Le­sen Sie hier bloß mal, Herr Wacht­meis­ter! Das ist ja Hoch­ver­rat! Der Kerl ge­hört an den Gal­gen!«

      »Schrei­en Sie doch bloß nicht so!«, sag­te der Schu­po miss­bil­li­gend. »Sie se­hen doch, der an­de­re Herr ist ganz ru­hig. Der läuft schon nicht weg. Nun, war es so, wie der Herr sagt?«

      »Blöd­sinn!«, ant­wor­te­te Otto Quan­gel böse. »Er hat mich ver­wech­selt. Ich habe eben mei­nen Schwa­ger zum Ge­burts­tag be­sucht, in der Goltz­stra­ße. Hier in der Maa­ßen­stra­ße habe ich kein Haus be­tre­ten. Fra­gen Sie mal mei­ne Frau …«

      Er sah sich su­chend um. Eben dräng­te sich Anna wie­der durch den dich­ten Kreis der Neu­gie­ri­gen. Sie hat­te so­fort an die zwei­te Kar­te in ih­rer Hand­ta­sche ge­dacht. Sie muss­te sie auf der Stel­le los­wer­den, das war das Wich­tigs­te. Sie hat­te sich durch die Leu­te ge­scho­ben, hat­te einen Brief­kas­ten ge­se­hen und ganz un­auf­fäl­lig – alle sa­hen nur auf den schrei­en­den An­klä­ger – die Kar­te in den Kas­ten ge­steckt.

      Nun stand sie wie­der bei ih­rem Mann und lä­chel­te ihm er­mu­ti­gend zu.

      Der Schu­po hat­te un­ter­des die Kar­te ge­le­sen. Sehr ernst ge­wor­den, schob er sie un­ter den Är­me­lauf­schlag. Er wuss­te von die­sen Kar­ten; je­des Re­vier war nicht ein­mal, es war zehn­mal auf sie auf­merk­sam ge­macht wor­den. Die Ver­fol­gung auch der kleins­ten Spur war Pf­licht.

      »Sie kom­men alle bei­de zur Wa­che mit!«, ent­schied er.

      »Und ich?«, rief Anna Quan­gel em­pört und schob ih­ren Arm in den ih­res Man­nes. »Ich gehe auch mit! Ich las­se mei­nen Mann nicht al­lei­ne ge­hen!«

      »Has­te recht, Mut­ta!«, sag­te eine tie­fe Stim­me aus dem Zuschau­er­kreis. »Bei die Brü­der weeß man nie – pass man uff uff den Ju­ten!«

      »Ruhe!«, schrie der Wacht­meis­ter. »Ruhe! Zu­rück­tre­ten! Aus­ein­an­der­ge­hen! Hier gib­t’s gar nichts zu se­hen!«

      Aber das Pub­li­kum war an­de­rer An­sicht, und der Schu­po, der ein­sah, dass er un­mög­lich auf drei Men­schen auf­pas­sen und eine Men­ge von an­nä­hernd fünf­zig Passan­ten zer­streu­en konn­te, gab es auf, die Leu­te zum Aus­ein­an­der­ge­hen auf­zu­for­dern.

      »Ir­ren Sie sich wirk­lich nicht?«, frag­te er den auf­ge­reg­ten An­ge­ber. »War denn auch die Frau da­bei auf der Trep­pe?«

      »Nein, die war nicht da­bei. Aber ich irre mich be­stimmt nicht, Herr Wacht­meis­ter!« Er fing wie­der an zu schrei­en. »Mit mei­nen ei­ge­nen Au­gen habe ich ihn ge­se­hen, schon drei Stun­den hat­te ich am Guck­loch in mei­ner Tür ge­ses­sen …«

      Eine schril­le Stim­me rief miss­bil­li­gend: »So ein ver­damm­ter Acht­gro­schen­jun­ge!«

      »Also kom­men Sie alle drei mit!«, ent­schied der Wacht­meis­ter. »Ge­hen Sie doch aus­ein­an­der! Sie se­hen doch, die Herr­schaf­ten wol­len durch­ge­hen! So ’ne blö­de Neu­gier­de! Ja, bit­te, da lang, mein Herr!«

      Auf dem Re­vier muss­ten sie fünf Mi­nu­ten war­ten, ehe sie in das Zim­mer des Vor­ste­hers ge­ru­fen wur­den, ei­nes großen Man­nes mit ei­nem ge­bräun­ten, of­fe­nen Ge­sicht. Die Kar­te Quan­gels lag auf sei­nem Schreib­tisch.

      Der An­klä­ger wie­der­hol­te sei­ne Be­schul­di­gun­gen.

      Otto Quan­gel wi­der­sprach. Er hat­te nur sei­nen Schwa­ger in der Goltz­stra­ße be­sucht, nie hat­te er ein Haus in der Maa­ßen­stra­ße be­tre­ten. Er sprach ohne jede Er­re­gung, die­ser alte Werk­meis­ter, als der er sich auch aus­wies, er war ein auch dem Vor­ste­her wohl­tu­en­der Ge­gen­satz zu dem schrei­en­den, stets auf­ge­reg­ten, spu­cken­den An­klä­ger.

      »Sa­gen Sie mal«, sag­te der Vor­ste­her lang­sam zu dem, »wie­so ha­ben Sie ei­gent­lich drei Stun­den hin­ter dem Guck­loch ge­stan­den? Sie konn­ten doch gar nicht wis­sen, dass je­mand mit sol­cher Kar­te kam. Oder?«

      »Ach, da wohnt doch sol­che Nut­te in un­serm Haus, Herr Vor­ste­her! Läuft im­mer in Ho­sen rum, lässt die gan­ze Nacht das Ra­dio lau­fen – da woll­te ich auf­pas­sen, was die für Ker­le in die Woh­nung schleppt. Und da kam die­ser Mann …«

      »Bin nie in dem Haus ge­we­sen«, wie­der­hol­te Quan­gel hart­nä­ckig.

      »Wie soll denn mein Mann dazu kom­men, sol­che Sa­chen zu ma­chen? Glau­ben Sie, ich wür­de das zu­ge­ben?«, rief Anna da­zwi­schen. »Wo wir über fünf­und­zwan­zig Jah­re ver­hei­ra­tet sind, und nie hat was ge­gen mei­nen Mann vor­ge­le­gen!«

      Der Vor­ste­her warf einen flüch­ti­gen Blick auf das star­re Vo­gel­ge­sicht. Zu­zu­trau­en ist dem schon al­ler­hand!, schoss es ihm flüch­tig durch den Kopf. Aber dass er sol­che Kar­ten schreibt?

      Er wand­te sich dem An­klä­ger zu: »Wie hei­ßen Sie? Mil­lek? Sie sind doch ir­gend­was bei der Post, stimm­t’s?«

      »Ober­post­se­kre­tär, Herr Vor­ste­her. Es stimmt.«

      »Und Sie sind doch der Mil­lek, von dem wir in der Wo­che durch­schnitt­lich zwei An­zei­gen be­kom­men, dass die Kauf­leu­te schlecht wie­gen, dass am Don­ners­tag Tep­pi­che ge­klopft wor­den sind, dass je­mand sein Ge­schäft vor Ih­rer Tür ge­macht hat und so wei­ter und so wei­ter. Das sind Sie doch?«

      »Die Men­schen sind ja so schlecht, Herr Vor­ste­her! Al­les tun sie mir zum Tort! Glau­ben Sie mir, Herr Vor­ste­her …«

      »Und heu­te Nach­mit­tag ha­ben Sie also auf eine Frau auf­ge­passt, die Sie als Nut­te be­zeich­nen, und jetzt zei­gen Sie die­sen Herrn an …«

      Herr Ober­post­se­kre­tär ver­si­cher­te, dass er nur sei­ne Pf­licht tue. Er habe die­sen Mann die Post­kar­te ab­le­gen se­hen, und da ihn ein Blick auf das Ge­schrie­be­ne be­lehr­te, dass hier Hoch­ver­rat vor­lie­ge, sei er dem Man­ne so­fort nach­ge­eilt.

      »Soso!«, sag­te der Vor­ste­her. »Ei­nen Au­gen­blick mal …«

      Er setz­te sich an sei­nen Schreib­tisch und tat, als lese er die Kar­te noch ein­mal, die er doch schon drei­mal ge­le­sen hat­te. Er dach­te nach. Er war der Über­zeu­gung, dass die­ser Quan­gel ein al­ter Ar­bei­ter war, des­sen An­ga­ben stimm­ten, der Mil­lek da­ge­gen ein Que­ru­lant, des­sen De­nun­zia­tio­nen sich noch nie be­wahr­hei­tet hat­ten. Am liebs­ten hät­te er die drei nach Haus ge­schickt.

      Aber im­mer­hin war da die­se Kar­te ge­fun­den wor­den, dar­um war nicht her­um­zu­kom­men, und es lag nun ein­mal der stren­ge Be­fehl vor, auch der kleins­ten Spur nach­zu­ge­hen. Der Vor­ste­her woll­te sich kei­ne Läu­se in den Pelz set­zen. Sehr gut war er oben so­wie­so nicht an­ge­schrie­ben. Er war der Ge­fühls­du­se­lei ver­däch­tig, im Ge­hei­men soll­te er mit Aso­zia­len und Ju­den sym­pa­thi­sie­ren. Er muss­te sehr vor­sich­tig sein. Und im Grun­de, was ge­sch­ah die­ser Frau und die­sem Man­ne Übles, wenn er sie der Ge­sta­po übergab? Wa­ren sie un­schul­dig, wür­de man


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