Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada

Hans Fallada – Gesammelte Werke - Hans  Fallada


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einen Platz am letz­ten Tisch, ganz hin­ten an der Wand, an­ge­wie­sen. Das ist gut, ich kann alle se­hen und be­ob­ach­ten und sit­ze ganz un­ge­stört.

      Vom Kal­fak­tor habe ich mir einen Be­cher mit hei­ßer Zi­cho­ri­en­brü­he ge­holt, und der Ober­pfle­ger hat mir drei di­cke Schei­ben Brot ge­ge­ben, zwei sind mit Mar­ga­ri­ne be­schmiert, eine mit Mar­me­la­de. Ich esse sie lang­sam und mit großem Ap­pe­tit, ich kaue sie gründ­lich, wer weiß, was es heu­te zum Mit­ta­ges­sen gibt. Das Kohl­was­ser hat mich sehr er­schreckt. Man­che be­kom­men mehr Brot, sie be­kom­men auch »Be­lag« drauf; der Be­lag be­steht aus Schnitt­lauch oder Zwie­beln oder Quark. Das sind, wie ich er­fah­re, die Au­ßen­ar­bei­ter, sie müs­sen den gan­zen Tag schwer ar­bei­ten, dar­um be­kom­men sie auch so wert­vol­le Zu­la­ge!

      Kurz nach dem Früh­stück er­tönt der Ruf: »An­tre­ten!«, und alle, die ar­bei­ten, tre­ten an, wer­den von ei­nem Wacht­meis­ter durch die Git­ter­tür hin­aus­ge­las­sen, und zu­rück blei­ben nur die Haus­ar­bei­ter, Kal­fak­to­ren ge­nannt, die Kran­ken und ich. Es gibt vie­le Kran­ke …

      Ich ste­he dann am Fens­ter und sehe zu, wie die Leu­te aus al­len Häu­sern auf dem Hof an­tre­ten. Es sind vie­le, vie­le Leu­te, links steht auch eine Ko­lon­ne Wei­ber. Vie­le Uni­for­men, die die­se Kran­ken be­wa­chen, bei der Ar­beit be­auf­sich­ti­gen, an­trei­ben, jede Flucht ver­ei­teln wer­den. Und dann wird der Hof leer. Ein weiß­berock­ter, di­cker Mann, der Herr Obe­rin­spek­tor, teil­te sie zur Ar­beit ein, man­che rück­ten mit Sen­sen ab, an­de­re mit Ha­cken, vie­le gin­gen in die Fa­brik.

      Nun gehe ich mit Hiel­scher den Gang auf und ab, auf und ab. Hiel­scher ist ein klei­ner Buck­li­ger, der mit ei­ner sanf­ten, sehr deut­li­chen Stim­me ein ge­pfleg­tes Deutsch spricht. Hiel­scher nennt mich »Herr Som­mer« und »Sie«; das tut mir gut. Er er­zählt mir vie­les in sei­ner sanf­ten, deut­li­chen Spra­che von die­sem Hau­se und sei­nen In­sas­sen. Sonst schält er Kar­tof­feln, seit sechs Jah­ren schält er Kar­tof­feln, seit elf Jah­ren ist er in die­sem Haus.

      »Ich bin Sitt­lich­keits­ver­bre­cher«, sagt er sanft und ge­wählt zu mir. »Der Me­di­zi­nal­rat hat mir ein Gut­ach­ten ab­ge­nom­men. Ich habe an­ge­bo­re­nen Schwach­sinn be­kom­men und dann man­geln­de Hem­mun­gen und stark ver­min­der­te Zu­rech­nungs­fä­hig­keit. Und dann habe ich einen Bu­ckel, das sieht man na­tür­lich, und hin­ken tue ich auch. Ist das schlimm, Herr Som­mer?«

      Ich bin ganz über­rascht von die­ser Fra­ge. »Schlimm?«, fra­ge ich ver­wirrt. »Wie­so mei­nen Sie schlimm?«

      »Nun, ob es eine schlim­me Krank­heit ist, oder ist es leicht, Herr Som­mer?« Und er sieht mich mit sei­nen leb­haf­ten und doch trau­ri­gen Au­gen an.

      »Nein, das ist wohl nicht so schlimm.«

      »Das den­ke ich auch«, sagt Hiel­scher. »Si­cher las­sen sie mich bald frei. Ha­ben Sie wohl ein biss­chen Ta­bak für mich, Herr Som­mer?«

      Ich sag­te dem Hiel­scher, dass ich selbst Sehn­sucht nach Ta­bak hät­te, ihm also lei­der kei­nen ge­ben kön­ne. Da­rauf er­losch Hiel­schers In­ter­es­se an mir ra­pi­de, er ver­ließ mich, und ich wan­der­te den Gang al­lein auf und ab.

      Die­ser Vor­mit­tag war end­los. Ich mar­schier­te und mar­schier­te, aber der Zei­ger der Uhr rück­te nicht vor­an. Manch­mal sah ich in einen der bei­den Ta­ges­räu­me, aber die dort ta­ten­los sit­zen­den, vor sich hin­dö­sen­den Ge­stal­ten, die­se Wracks, stie­ßen mich ab.

      Ge­schäf­tig mit Be­sen und Ei­mern wa­ren nur die Kal­fak­to­ren, wie in al­len Ge­fäng­nis­sen ja, jene ei­ni­ger­ma­ßen gut und sau­ber aus­se­hen­den Men­schen, ge­schickt und be­den­ken­los, vor den Be­am­ten krie­chend, jede Klei­nig­keit von ih­ren Mit­ge­fan­ge­nen hin­ter­brin­gend, be­stech­lich und roh ge­gen ihre Ka­me­ra­den. Ich sah sie von Zel­le zu Zel­le ge­hen, vor­geb­lich auf­räu­mend, in der Haupt­sa­che aber die Bet­ten nach ei­ner ver­steck­ten Schei­be Brot oder ei­ner Pfei­fe Ta­bak durch­su­chend.

      Es be­stärk­te mir mei­ne An­ti­pa­thie, als ich sah, dass der so ver­hass­te Lexer auch eine Art Kal­fak­tor war, ein Hilfs­kal­fak­tor, der wohl die längs­te Zeit des Ta­ges drü­ben in ei­ner der Ar­beits­zel­len des An­baus beim Bürs­ten­ma­chen steck­te, der sich aber im­mer wie­der ein Ge­wer­be auf der Sta­ti­on zu ma­chen wuss­te.

      Das Trep­pen­haus rei­nig­te ein Mann in mitt­le­ren Jah­ren mit ei­nem einst klu­gen, jetzt ver­wirr­ten und hoff­nungs­los trau­ri­gen Ge­sicht; von Zeit zu Zeit un­ter­brach er sei­ne Fe­ge­rei, riss ein Fens­ter auf und schrie durch die Git­ter­stä­be un­flä­ti­ge Schimp­fe­rei­en ge­gen ima­gi­näre Per­so­nen hin­aus.

      Ich be­ob­ach­te­te den Lexer, wie er sich an den Schel­ten­den her­an­sch­lich, ihn von hin­ten an­sprang und mit dem Kopf im­mer wie­der ge­gen die Ei­sen­tral­jen schlug. Gel­lend schrie er da­bei: »Sollst du nicht ar­bei­ten, du Lump? Musst du im­mer schrei­en? Fres­sen willst du, aber dei­ne Ar­beit tust du nicht! War­te nur, du!« Und er schlug von Neu­em.

      Ich wäre dem Ver­wirr­ten ger­ne zu Hil­fe ge­kom­men, aber das Ei­sen­git­ter zum Trep­pen­haus war ver­schlos­sen, und ich hat­te mir zu­dem in der letz­ten Nacht fest vor­ge­nom­men, mich in kei­ne der Strei­tig­kei­ten hier zu mi­schen und voll­kom­men neu­tral zu blei­ben. Je un­auf­fäl­li­ger ich leb­te, um so güns­ti­ger muss­te mich der Arzt be­ur­tei­len. Au­ßer­dem hat­te ich vor die­sem Lexer Angst. Ich hat­te auch alle Ur­sa­che dazu.

      Ich habe die­sen Mann oder viel­mehr Ben­gel – er war erst Mit­te der Zwan­zi­ger und weit in der Ent­wick­lung zu­rück­ge­blie­ben – lan­ge mit den im­mer wach­sa­men Au­gen des Has­ses be­ob­ach­tet. Er war der ge­bo­re­ne Blut­hund. Sein Schöns­tes war es, die Mit­ge­fan­ge­nen zu quä­len, im­mer kniff er an ih­nen her­um, schubs­te sie um­her, schlug sie, ver­klatsch­te sie beim Ober­pfle­ger. Nichts war ihm zu ge­ring. Brach­te ein Ge­fan­ge­ner von sei­nem Spa­zier­gang ein heim­lich er­gat­ter­tes Zwie­bel­chen heim – ent­we­der Lexer jag­te es ihm ab oder zeig­te den Kum­pel beim Ober­pfle­ger we­gen Dieb­stahls an. Und da die Zwie­bel wirk­lich ge­stoh­len war, frei­lich nur aus dem An­stalts­gar­ten, so muss­te der Dieb für vier­zehn Tage in Ar­rest. Schwä­che­re lock­te Lexer in stil­le Ecken und schlug sie so lan­ge, bis sie ih­ren Ta­bak, oder was ihm sonst von ih­ren Be­sitz­tü­mern be­geh­rens­wert er­schi­en, her­aus­ga­ben. Bei Stär­ke­ren ver­such­te er es mit List, täusch­te sie mit großen Ver­spre­chun­gen von Brot und hielt nie et­was.

      Bei den Be­am­ten aber war Lexer gar nicht un­be­liebt. Er spiel­te da eine Haus­nar­ren­rol­le, sein fre­ches, gel­les Mund­werk hat­te im­mer einen schlag­fer­ti­gen Witz be­reit, meist auf Kos­ten ei­nes Mit­ge­fan­ge­nen, er ver­rich­te­te je­den Dienst für die Be­am­ten rasch, ge­schickt und wil­lig und ließ sich, bei ir­gend­ei­ner Ge­mein­heit er­wi­scht, mit ko­misch jam­mern­der Mie­ne durch­prü­geln. »Man kann dem Schwei­ne­hund nicht böse sein«, sag­ten die Wacht­meis­ter und dul­de­ten ihn und sei­ne scham­lo­se Ty­ran­nei über die an­de­ren Ge­fan­ge­nen wei­ter. Vor al­lem war er ih­nen wohl nütz­lich, sie er­fuh­ren durch ihn al­les, was im Bau vor­ging.

      Lexer war schon mit sechs Jah­ren in ein Wai­sen­haus ge­kom­men, und von da an hat­te er im­mer nur we­ni­ge Wo­chen oder Mo­na­te in der Frei­heit zu­ge­bracht, im­mer wie­der war er in die fes­ten Häu­ser des Staa­tes zu­rück­ge­kehrt:


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