Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada

Hans Fallada – Gesammelte Werke - Hans  Fallada


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wenn al­les an­de­re ver­sag­te. Eine Mi­nu­te spä­ter lie­ge ich wie­der im Bett. Nicht viel zu früh, gar nicht viel zu früh! Denn da steht schon der Ober­pfle­ger an mei­nem Bett und legt die Hand auf mei­ne Schul­ter. »Wa­chen Sie auf, Som­mer!«

      Ich er­wa­che, ich hof­fe, ge­ra­de rich­tig, nicht zu leicht, nicht zu schwer.

      »Ste­hen Sie auf, Som­mer!«

      Ich tue es und ste­he nun im Hemd vor ihm.

      »Som­mer, ha­ben Sie noch et­was Ver­bo­te­nes in Ihren Ta­schen?«

      »Nein, Herr Ober­pfle­ger!«

      »Sie wis­sen doch, dass al­les Schnei­den­de in die­sem Hau­se streng ver­bo­ten ist, zum Bei­spiel Ta­schen­mes­ser, Ra­sier­klin­gen, auch Na­gel­fei­len! Das wis­sen Sie doch?«

      »Ja­wohl, Herr Ober­pfle­ger, das hat mir ei­ner ge­sagt.«

      »Und Sie ha­ben nichts Ver­bo­te­nes in den Ta­schen?«

      »Nein, Herr Ober­pfle­ger.«

      Eine kur­ze Pau­se. Dann: »Som­mer, ich war­ne Sie noch im Gu­ten! Ge­ste­hen Sie, und ich will ein Auge zu­drücken. Sonst ste­cke ich Sie nach die­sem ers­ten Tag für vier Wo­chen in Ar­rest!«

      »Ich habe nichts zu ge­ste­hen, Herr Ober­pfle­ger!«

      »Schön. Dann dre­hen Sie mal Ihre Ta­schen um.«

      Ich tue es, fan­ge mit der Ja­cke an, die be­wuss­te Ho­sen­ta­sche spa­re ich mir bis zu­letzt auf.

      »Ma­chen Sie die Zei­tung aus­ein­an­der, Som­mer!«

      Ich tue es. Nichts, wirk­lich nichts.

      Der Ober­pfle­ger steht einen Au­gen­blick nach­den­kend, dann nimmt er mei­ne Klei­dungs­stücke, ei­nes nach dem an­de­ren, selbst un­ter Kon­trol­le, aber wie­der nichts. »Zie­hen Sie sich an, Som­mer.«

      Ich tue es.

      »So, und nun schi­cken Sie mir den Lexer her, Sie selbst blei­ben bis zur Frei­stun­de im Ta­ges­raum.«

      »Ja­wohl, Herr Ober­pfle­ger!«

      Ich habe ih­nen eine bild­schö­ne Ar­beit ge­macht; un­ter der Auf­sicht des Ober­pfle­gers ha­ben sämt­li­che Kal­fak­to­ren die gan­ze Zel­le Stück für Stück um­ge­dreht und durch­sucht. Man­cher­lei fan­den sie, aber kei­ne Ra­sier­klin­ge. Zum Schluss be­schimpf­ten sie den Lexer, sie ver­mu­te­ten ir­gend­ei­nen idio­ti­schen, sinn­lo­sen Schel­men­streich von ihm. Aber Lexer zu­min­dest hat’s ge­wusst, dass ich tat­säch­lich eine Ra­sier­klin­ge ge­habt hat­te. Ich hat­te ihn rein­ge­legt. Und selt­sam, ob­gleich ihn alle, vom Ober­pfle­ger an, be­schimpf­ten, hat­te er jetzt kei­ne Wut auf mich. Ich hat­te ihn rein­ge­legt, das im­po­nier­te ihm. Von da an band er nie wie­der di­rekt mit mir an, wenn er auch das Stän­kern nie ganz las­sen konn­te.

      41

      Der Nach­mit­tag war end­los. Die ein­zi­ge klei­ne Ab­wechs­lung war, dass wir zur »Frei­stun­de« nach drau­ßen ge­führt wur­den, für zwei Stun­den, von zwei Uhr bis vier Uhr nach­mit­tags. »Drau­ßen« war ein klei­ner Gras­gar­ten in­ner­halb der ho­hen Ge­fäng­nis­mau­ern, viel­leicht vier­hun­dert Qua­drat­me­ter groß, wo ein ein­zi­ger schma­ler Weg, ge­ra­de für zwei Men­schen breit ge­nug, um einen Gras­fleck lief. Die Son­ne schi­en, es war ein schö­ner Som­mer­tag. Aber was die Son­ne be­schi­en, war nicht schön.

      Ich rede jetzt nicht von der Um­ge­bung, rote, nack­te oder mit to­tem, grau­em Ze­ment be­klei­de­te, sta­chel­be­wehr­te, hohe Mau­ern, die Git­ter an den Fens­tern, die blin­den Schei­ben – all das kann schon al­lein für sich den schöns­ten Som­mer­son­nen­tag sei­nes Glan­zes be­rau­ben. Der blaue Him­mel ist nicht für dich, Ge­fan­ge­ner, so blau; die Son­ne, Ge­fan­ge­ner, die doch dei­ne Haut wärmt, scheint nicht für dich. Dir fehlt die Wei­te der Land­schaft, nur zu Gas­te bist du bei Him­mel, fri­scher Luft und Son­ne, dei­ne Mi­nu­ten sind ge­zählt, Ge­fan­ge­ner. Dei­ne Welt ist das trü­be, düs­ter hal­len­de, tote Haus, in dem nie ein be­frei­tes La­chen klingt, fremd wur­dest du der Son­ne, Ge­fan­ge­ner.

      Aber das al­les mei­ne ich hier nicht. Ich mei­ne die Ka­me­ra­den, die Lei­dens­ge­fähr­ten, die nun, der Däm­mer­nis ent­ris­sen, in ih­ren ent­färb­ten Lum­pen an der Wand leh­nen, auf ei­ner Bank hocken, und in Holz­pan­tof­feln oder bar­fuß den Sand­weg ent­lang­schur­ren. Wie das un­barm­her­zi­ge Son­nen­licht die­se Ge­sich­ter ent­schlei­ert, die nur noch wie fer­ne, ver­sun­ke­ne Erin­ne­run­gen an­mu­ten, Wehe und Trau­er, Tier und irre Verzweif­lung!

      Ich schlie­ße die Au­gen, und ich sehe sie da wie­der ste­hen, hocken, schlur­ren, wie ich sie hun­dert­mal ge­se­hen habe und viel­leicht noch tau­send­mal se­hen wer­de.

      Da ist ein lan­ger, schlott­ri­ger Mann, sein kurz ge­scho­re­ner, ei­sen­grau­er Kopf ist dicht mit blu­tig­ro­ten oder ei­tern­den Schweins­beu­len, wie man in die­sem Hau­se die Fu­run­kel nennt, be­deckt, sein stopp­li­ges Ge­sicht ist hart und kan­tig, und sei­ne dunklen, tief lie­gen­den Au­gen sind völ­lig ohne Licht.

      Un­un­ter­bro­chen mur­melt die­ser Rhein­län­der, der wohl einst ein Stra­ßen­händ­ler war, vor sich hin: »Zwei Zent­ner Kanal­stra­ße 20, einen Zent­ner Mei­er, Trift­stra­ße 10, Ge­wer­be­po­li­zei, Ge­wer­be­po­li­zei …« Er hebt die Stim­me, er sieht zu den blin­den Git­ter­fens­tern em­por, auf Be­stel­lun­gen war­tend: »Pflanz­kar­tof­feln, Pflanz­kar­tof­feln, kauft Pflanz­kar­tof­feln!« Kei­ne Be­stel­lun­gen kom­men, er schüt­telt ver­zwei­felt den häss­li­chen Kopf und be­ginnt von Neu­em: »Zwei Zent­ner Kanal­stra­ße 20, einen Zent­ner …«

      Fragt man ihn aber, wie viel wohl die Uhr ist, so sieht er nach dem Son­nen­stand und gibt dir ganz ver­nünf­tig und an­nä­hernd rich­tig Aus­kunft, be­ginnt aber mit dem letz­ten Wort der Aus­kunft sei­ne ewi­ge Li­ta­nei von vor­ne. »Pflanz­kar­tof­feln, Pflanz­kar­tof­feln, kauft Pflanz­kar­tof­feln!« Wie mir das noch in den Ohren klingt!

      Und da ist je­ner an­de­re, den ich schon kurz er­wähnt habe, der Stim­men hö­ren­de Schi­zo­phre­ne, des­sen ar­men, trau­ri­gen Kopf der Blut­hund Lexer so un­barm­her­zig ge­gen das Ei­sen­git­ter schlug – er schlurft auf Pan­tof­feln, de­ren gan­zes hin­te­res Ende fehlt, rund­um, rund­um. Plötz­lich aber bleibt er ste­hen, er hebt den Arm, er droht ge­gen Him­mel, Mau­ern und Git­ter, aber er sieht Him­mel, Mau­ern und Git­ter nicht, er sieht einen un­sicht­ba­ren Feind, den er nun in der un­flä­tigs­ten Wei­se be­schimpft.

      Er ist der ein­zi­ge Sach­se un­ter uns, und sei­ne Schimp­fe­rei­en er­fol­gen in ei­nem so un­ver­fälsch­ten Säch­sisch, dass die paar, die noch ein Fünk­chen Ver­stand ha­ben, lä­cheln. Aber es ist ei­gent­lich gar nichts zu lä­cheln, wenn die­ser ver­lo­re­ne Sohn aus gu­tem Hau­se den un­sicht­ba­ren Feind be­schimpft, dass er ihn hin­dert, den El­tern selbst al­les zu er­klä­ren. Wa­rum schiebt er sich im­mer da­zwi­schen, was soll die­se »ewje Men­ken­ke«? Kann der Sohn den El­tern nicht selbst al­les am bes­ten er­klä­ren?

      Ich habe es doch ge­sagt, oder man hat es doch ver­stan­den, falls ich es nicht ge­sagt ha­ben soll­te, dass in die­sem dunklen Haus nur Kran­ke un­ter­ge­bracht sind, die sich ein­mal kri­mi­nell ver­gan­gen ha­ben? Hier gibt es Mör­der, Die­be, Sitt­lich­keits­ver­bre­cher, Ur­kun­den­fäl­scher, re­li­gi­ös Wahn­sin­ni­ge. Die meis­ten von ih­nen


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