Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada

Hans Fallada – Gesammelte Werke - Hans  Fallada


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we­gen. Er kam aber nur sel­ten vor.

      Man­che Stun­de bin ich mit die­sem grund­schlech­ten Men­schen spa­zie­ren ge­gan­gen und habe sei­nen gif­t­er­füll­ten Er­zäh­lun­gen ge­lauscht, mit de­nen er je­den sei­ner Mit­ge­fan­ge­nen ver­läs­ter­te. Mit ei­ner tie­fen Scha­den­freu­de schil­der­te er die Ge­mein­hei­ten der an­de­ren und ihre Rein­fäl­le. Er schi­en je­des De­tail ih­res Vor­le­bens zu wis­sen, und mit be­son­de­rer Wol­lust be­ob­ach­te­te er die Ver­än­de­run­gen in der Ge­stalt und im We­sen ei­nes Sitt­lich­keits­ver­bre­chers, der sich frei­wil­lig hat­te ent­man­nen las­sen, in der Hoff­nung, ei­ner An­stalts­ver­wah­rung zu ent­ge­hen (eine Hoff­nung, die ihn täu­schen soll­te).

      Von sich selbst wuss­te er da­ge­gen nichts Un­güns­ti­ges zu be­rich­ten. Er hat­te von sei­nem Va­ter ein blü­hen­des Schuh­wa­ren­ge­schäft über­nom­men, und es war rui­niert, weil die Men­schen so ge­mein wa­ren. Er hat­te ge­hei­ra­tet und war ge­schie­den, weil sei­ne Frau auch »so eine« ge­we­sen war. Er hat­te Freun­de und Ver­wand­te be­ses­sen, und nie­mand be­ant­wor­te­te mehr sei­ne Brie­fe, denn nie­mand will noch et­was wis­sen von ei­nem Mann, der in ei­ner An­stalt sitzt. Und na­tür­lich un­schul­dig – wenn er je sei­ne Straf­ta­ten auch nur von fer­ne streif­te, mur­mel­te er et­was von »Ar­beits­lo­sig­keit« und »Not kennt kein Ge­bot«.

      Am amüsan­tes­ten fand ich die­sen durch­aus üb­len Men­schen aber, wenn er von sei­nen ei­ge­nen Er­leb­nis­sen in den An­stal­ten und mit ih­ren Ärz­ten be­rich­te­te. Er hat­te un­ter an­de­rem auch zwei Jah­re in ei­ner Uni­ver­si­täts­kli­nik zu­ge­bracht und war in die­ser Zeit vier­mal, in je­dem Se­mes­ter ein­mal, den Stu­den­ten des lei­ten­den Pro­fes­sors vor­ge­führt wor­den. Ich höre noch die eit­le Selbst­ge­fäl­lig­keit in der Stim­me die­ses Dumm­kop­fes, wenn er die an­geb­li­chen Wor­te des Pro­fes­sors wie­der­hol­te: »Wie be­ur­tei­len Sie die­sen Mann, mei­ne Her­ren? Ja­wohl, wir wis­sen, die­ser Mann hat Kennt­nis­se und weiß sich zu be­neh­men. Er macht Ein­druck auf die Frau­en, kurz ge­sagt, er ist ein Sa­lon­mensch …«

      Und das al­les soll­te der Pro­fes­sor von die­sem Flick­schus­ter ge­sagt ha­ben, der nie von sei­nem Schus­ter­sche­mel her­un­ter­ge­kom­men war, der fast kein Hoch­deutsch spre­chen konn­te, son­dern sich fast aus­schließ­lich des hei­mi­schen Platt be­dien­te! Na­tür­lich war je­des Wort ge­lo­gen, der Pro­fes­sor moch­te schon so et­was ge­sagt ha­ben, aber nicht von Schus­ter Buck, son­dern von ei­nem an­de­ren, in der glei­chen Vor­le­sung vor­ge­stell­ten Kran­ken.

      Oder aber Buck er­zähl­te mir, wie »un­ser« Me­di­zi­nal­rat ge­gen al­les Recht ein Ge­richts­gut­ach­ten über ihn er­stat­tet hat­te (auch Buck nann­te das, wie im Hau­se üb­lich: »Er hat mir ein Gut­ach­ten ab­ge­nom­men«), ohne den Be­gut­ach­te­ten über­haupt zu ken­nen.

      »Also nach Ihren Vorak­ten«, warf ich ein.

      »Gar nicht!« gab Buck em­pört zu­rück. »Ich sage Ih­nen doch, er hat über­haupt nichts von mir ge­wusst, das gan­ze Gut­ach­ten hat er sich von A bis Z aus den Fin­gern ge­so­gen!«

      Und nun folg­te eine un­end­lich um­ständ­li­che, zwei Stun­den lan­ge Er­zäh­lung, wie der Me­di­zi­nal­rat mit­hil­fe ei­nes Ge­richts­se­kre­tärs und ei­nes fei­len An­wal­tes in die Zel­le des Un­ter­su­chungs­ge­fan­ge­nen Buck ge­schmug­gelt wor­den war, und am Ende ging aus die­ser Er­zäh­lung klipp und klar her­vor, dass der Me­di­zi­nal­rat drei- oder vier­mal bei dem Schus­ter Buck auf der Zel­le ge­we­sen war und ihm sehr wohl »ein Gut­ach­ten ab­ge­nom­men« hat­te. Ich hü­te­te mich aber sehr wohl, den Schus­ter Buck auf die­sen klei­nen Un­ter­schied zwi­schen An­fang und Ende sei­nes Be­rich­tes auf­merk­sam zu ma­chen, denn im Punk­te Wahr­heits­lie­be war er wie alle Lüg­ner sehr emp­find­lich, und ich woll­te mir den ge­fähr­li­chen Men­schen kei­nes­falls zum Fein­de ma­chen.

      Lie­ber hör­te ich denn zu, wenn er mir von sei­nem Krach mit dem ver­rä­te­rischen Rechts­bei­stand er­zähl­te, dem er sein Ver­trau­en ent­zo­gen und der dar­auf zu jam­mern an­ge­fan­gen habe: »Wer be­zahlt mir aber nun mei­ne fünf­und­sieb­zig Mark? Ich habe die­sen wich­ti­gen Brief für Sie ge­schrie­ben …«

      »›Für die­sen Brief wol­len Sie fünf­und­sieb­zig Mark?!‹ habe ich ihm geant­wor­tet. ›Wis­sen Sie, wie ich die­sen Brief nen­ne? Idio­ti­schen Quatsch nen­ne ich ihn. Da­für zah­le ich nie fünf­und­sieb­zig Mark!‹« Und so ging, Schus­ter Bucks Be­richt nach, der Streit im­mer wei­ter, bis der An­walt, völ­lig zer­schmet­tert, nicht etwa auf sei­ne fünf­und­sieb­zig Mark ver­zich­te­te, son­dern – zu mei­ner Über­ra­schung – den Schus­ter bei sei­nem Ter­min ver­tei­dig­te, na­tür­lich wie­der­um wie ein Idi­ot. »Aber«, wie Buck be­merk­te, »von den An­wäl­ten taugt doch kei­ner mehr als der an­de­re, und von uns wol­len die Brü­der nur mü­he­los Geld zie­hen!«

      Sol­che In­kon­se­quen­zen sind aber ty­pisch für lan­ge Ge­fan­ge­ne, eben prü­geln sie sich, schon sind sie die bes­ten Freun­de. Eben sehe ich den Schus­ter vor der Tür des doch so ver­hass­ten Ober­pfle­gers, ent­schlos­sen, einen Kal­fak­tor an­zu­zei­gen, weil er ihm bei der Kaf­fee­aus­ga­be zu viel Satz in den Be­cher ge­mo­gelt hat, und schon hat der­sel­be Buck mit dem glei­chen Kal­fak­tor ein Tausch­ge­schäft ab­ge­schlos­sen: eine klei­ne Ta­bak­pfei­fe ge­gen eine Schei­be Brot und einen Kamm. Hat schon im mensch­li­chen Le­ben drau­ßen nichts dau­ern­den Be­stand, so kann man hier im Bau nicht fünf Mi­nu­ten mit et­was Blei­ben­dem rech­nen. Stän­dig wech­seln die Kon­stel­la­tio­nen, und nur das ist blei­bend: der Neid und der Hass je­des ge­gen je­den, die tie­ri­sche Feind­schaft al­ler ge­gen alle. Im Bun­ker gib­t’s kei­ne Treue, kei­ne Freund­schaft, nicht den pri­mi­tivs­ten An­stand.

      »Friss, oder du wirst ge­fres­sen, Som­mer!« Ich lern­te ihn schwer, die­sen Satz. Ich habe ihn bis heu­te noch nicht rich­tig ge­lernt. Ich wer­de ihn nie ler­nen – nicht aus An­stän­dig­keit, son­dern weil ich nur ein schwa­cher Mensch bin.

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      Ehe ich end­gül­tig zu mei­nen ei­ge­nen Er­leb­nis­sen zu­rück­keh­re, muss ich noch ei­nes Man­nes ge­den­ken, ei­ner schil­lern­den Ge­stalt, der wäh­rend der ers­ten Zeit mei­nes Auf­ent­hal­tes für kur­ze Tage bei uns auf­tauch­te, um dann für im­mer zu ent­schwin­den, ein Gruß aus der großen, mir so frem­den Welt.

      Ich hat­te schon am ers­ten Tage von ei­nem Ge­fan­ge­nen ge­hört, der we­gen ei­ner Schlä­ge­rei schon die ach­te Wo­che im stren­gen Ar­rest saß, bei Was­ser und spär­li­chem Brot und bei har­tem La­ger. Wenn ich über­haupt – mit ei­nem Schau­der über die mir un­er­träg­lich schei­nen­de Dau­er des Iso­lierar­res­tes – an die­sen Mann dach­te, so stell­te ich mir einen Kerl wie den etwa drei­ßig­jäh­ri­gen Lies­mann vor, einen Kerl mit bru­ta­lem, schar­fem Ge­sicht, der über dem einen Auge einen schwar­zen Lap­pen trug, und der wort­los und fins­ter auf der Sta­ti­on leb­te. Je­der ging ihm aus dem Wege, auch die Streit­süch­tigs­ten wag­ten nicht, Hän­del mit Lies­mann an­zu­knüp­fen, der be­kannt da­für war, auch nur bei ei­ner An­deu­tung ei­nes krän­ken­den Wor­tes so­fort zu­zu­schla­gen und nicht eher mit Schla­gen auf­zu­hö­ren,


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