Die wichtigsten Werke von Johann Karl Wezel. Johann Karl Wezel

Die wichtigsten Werke von Johann Karl Wezel - Johann Karl Wezel


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einziges männliches Parlement in Frankreich und in England. Jedes unter den Mitgliedern hatte sein eignes Fach, nämlich jedes tat den Vortrag über solche Vorfälle, wovon es nach seinen Umständen die zuverlässigsten oder doch wenigstens die zahlreichsten Nachrichten einholen konnte; und ihre Gerichtsbarkeit erstreckte sich zwar eigentlich nur zwo Meilen in der Runde, doch wenn in ihrem Gebiete zuweilen die Sachen langsam gingen, so taten sie einen Sprung über ihre Grenze, oft einen recht herzhaften Sprung, sechs, acht Meilen weit, bis in die nächste Stadt. In diesem Falle konnte niemand so weit schreiten als die Kammerjungfer; die andern hüpften wohl auch, aber sie kamen nicht weit und stolperten gleich in ihren eigentümlichen Bezirk wieder zurück. Was aber in diesem lebte und webte, es mochte zum Lehr-, Nähr- oder Wehrstande gehören, Pudelmützen oder Parucken, Degen oder Mistgabeln, Korsette oder Jacken tragen, kurz, alles, was nur von den Naturkündigern zum Tierreiche gerechnet wird und das Herz hatte, sich in diesem Umkreise blicken zu lassen, mußte eine strenge Behandlung seiner Angelegenheiten erfahren. Kein Wort, keine Bewegung, kein Atemzug, kein Fleckchen im Leibe und außer dem Leibe blieb vor den scharfen Augen dieser Richterinnen verborgen. Außerdem besaßen sie eine Kunst, die manchen schwerbegreifenden Richtern zu wünschen wäre: Wenn nicht genug Data, genug Umstände vorhanden waren, den statum causae gehörig zu formieren, so wußten sie doch aus den wenigen bekannten eine so zusammenhängende Geschichte auf die geschickteste Weise herauszupressen, daß man eine Seele von Stroh hätte haben müssen, um sie nicht höchst wahrscheinlich und höchst begreiflich zu finden; und diese Geschichten, die wie der Honig aus vielerlei Blüten zusammengesaugt waren, hatten auch allzeit, wie der Honig, eine ganz andre Farbe, einen ganz andern Geschmack als der Saft, aus welchem sie zubereitet waren.

      Ohne den Kopf in große Allongeparucken versteckt zu haben oder auf Wollsäcken wie auf begeisternden Dreifüßen zu sitzen, waren ihre Debatten zuweilen sehr hitzig; sie fochten, sie kämpften, sie teilten sich in Parteien; zuweilen hatte der Vortrag die Figur orationis perpetuae, zuweilen wurde er zur altercatio, zuweilen zum Terzett, und oft wuchs er gar zum Quattro an. In diesem Falle war entweder die höchste mögliche Einigkeit oder die höchste mögliche Uneinigkeit unter ihnen; entweder stimmten sie bloß ein oder war ein jedes so voll von der vorhabenden Materie, daß eins mit Gewalt durch die Rede des andern durchbrechen mußte. Sogar über sich selbst waren sie sehr strenge Beurteilerinnen; doch wurde allzeit die bei öffentlichen Gerichten gewöhnliche Vorsicht gebraucht: Die Person, deren Sache eben vorgenommen wurde, durfte niemals gegenwärtig sein. Wenn die Frau Pastorin die Session verlassen hatte, so erhub sich ein Gelächter unter den übrigen, anfangs in einem leisen, leisen piano und nahm endlich bis zum höchsten fortissime zu; und alsdenn, Frau Pastorin! – wer die erste Bekanntschaft mit ihrem Namen in der Küche der Frau Schulmeisterin machte, mußte sie notwendig für einen Teufel oder für eine Brut davon, so scheußlich wie seine Tochter im Milton, halten. – Gewiß war es die unter den größten und den kleinsten Köpfen so gewöhnliche – obtrectatio – deutsch? – bei den Handwerksleuten in jedem Stande, Amt und Berufe – Brotneid; bei Geschöpfen von einer höhern Klasse – Rang-, Ehr-, Ruhm-, Verdienstneid; nichts andres war es, als was den Themistokles und Aristides um ihre beiderseitige Freundschaft und diesen ehrlichen Mann ins Exilium brachte; was den Caesar und Pompejus, den Titus und Domitian, Boileau und Perrault, Ecken und Luthern, Gottscheden und Bodmern, die Frau Geheimerätin A und die Frau Geheimerätin B, die Kammerjungfer C und die Kammerjungfer D entzweite und jedes bewog, wider das andre auf seine Art Krieg zu führen – mit dem Degen, mit der Feder, mit Schimpfwörtern, mit Verleumdungen, mit dem Blatteisen. – Ebendieses Ding, diese Eifersucht, dieser Neid oder wie man es nennen will – das ich, beiläufig zu sagen, unter die physischen Kräfte der Seele rechne und wovon das wißbegierige Publikum in der nächsten Ausgabe meiner Pneumatologie gleich nach der vis inertiae der menschlichen Seelen ein eignes lesenswürdiges Kapitel mit der Aufschrift: vis obtrectatoria, und darinnen eine Erklärung finden wird, ohngefähr auf den Schlag, wie Cartesius die magnetischen Kräfte erklärt – diese vis obtrectatoria brachte in der Abwesenheit der Frau Pastorin die obengemeldeten Wirkungen in den Lungen und Zungen der zurückgebliebnen drei Mitglieder dieser Versammlung hervor. Die Frau Pastorin nahm in der Session über alle übrige aus einem doppelten Grunde den Vorsitz: erstlich, weil sie Frau Pastorin hieß; zweitens, weil sie eine Ehefrau war. Außerdem trug sie Hauben mit Karkassen, und an beiden Hüften hatte ihre Kleidung eine kleine Erhöhung, die einer Knospe nicht unähnlich sah, aus welcher mit der Zeit eine Konsideration hervorwachsen könnte; und dafür sahn es auch wirklich die wunderlichen Leute an, da doch die eine Erhöhung an der rechten Hüfte des Auswuchses wegen nötig war und die andre bloß diente, den Körper im Gleichgewichte zu erhalten. Die Karkassen und, was ich beinahe vergessen hätte, die Allongen, die wie große Kometenschwänze sich quer über ihre Hauben ausbreiteten, waren freilich Todsünden, die ich nicht zu verteidigen vermag, wiewohl sie vielleicht nur dienen mochten, den ganzen Staat, wovon einen Teil der böse Auswuchs nötig machte, im Gleichgewichte zu erhalten.

      Die nämliche Strenge mußte die Kammerjungfer nach ihrem Abtritte von der Frau Schulmeisterin und der dicken Anne erfahren; und da es sehr wenig Politik verraten würde, wenn ich die Geheimnisse der Kammerjungfern durch die Hände des Setzers ins Publikum kommen lassen wollte, so sage ich kein Wort weiter.

      Unglücklicherweise fühlte der junge Tobias seinen Beruf zum Predigen nicht eher und nicht später als während diesen Versammlungen und konnte ihn auch zu keiner andern Zeit ausüben, weil den übrigen Teil des Tages der Vater mit der Schuljugend des Kirchspiels seinen Rednerstuhl einnahm. Die Beredsamkeit meines Helden war ein Ideal von Beredsamkeit, so wie es Cicero in seinem »Orator« schildert, und beinahe durchgängig von der erhabnen Art; nichts als eine Reihe von Ausrufungen, Fragen, tiefgeholten Seufzern – eine eigne Figur in der Kanzelrhetorik! – Diese affektenvolle Sprache, die vielleicht keiner unsrer heutigen Prediger in schönem Geschmacke so sehr in seiner Gewalt haben mag, erfoderte eine starke Anstrengung der Stimme, einen heftigen, schreienden Ton, wie er für einen Redner sich schickt, der nichts Geringers, als Leidenschaften zu erregen, zur Absicht hat. Solange seine Mutter in der Küche den Vortrag hatte, so konnte seine Beredsamkeit ungehindert so stark wie der Rheinfall rauschen und die Herzen seiner Zuhörer wie Steine und Klötze mit sich fortwälzen; denn die ihrige war völlig eine Oktave höher gestimmt, und wenn die seinige dem Rheinfälle glich, so war ihre allen Meeren zusammengenommen gleich. Wenn aber die Kammerjungfer auftrat – alsdann, Tobias, wurde der Strom deiner Beredsamkeit plötzlich mitten in seinem Laufe verdämmt. Das arme Mädchen hatte in einem verliebten Duelle, wo sie ihre Tugend tapfer verteidigte, aber doch endlich unterliegen mußte, eine Kontusion oder Verrenkung am Halse bekommen; ein ungeschickter Chirurgus sah es für einen Anlauf der Mandeln an, kurierte sie nach dieser Meinung, und der Hals verschwoll. Durch die Hülfe beßrer Hände erhielt zwar ihr Hals seine vorige schlanke Länge größtenteils wieder; doch blieb zeitlebens eine starke Engbrüstigkeit, ein kurzer Atem und eine äußerst schwache und heischre Stimme zurück. Ihre Beredsamkeit konnte also nicht mit Feuer und Flammen um sich werfen, sondern sie war ganz in der Manier des Caesars, simplex, pressum, elegans dicendi genus. Die Zuhörer mußten alle Nerven ihrer Ohren anstrengen und konnten doch bei dem Gepolter des einkochenden Wassers oder dem Gezische der überlaufenden Suppe kaum etwas vernehmen. Ihre Erzählungen waren allzeit wichtig, weil sie aus dem Schlafzimmer der gnädigen Frau kamen; und nun stürmte vollends Tobias mit vollen Affekten über das arme, winselnde Stimmchen so gewaltsam her, daß der Ton nicht weiter als aus der Lunge zwischen die Vorderzähne kommen konnte, alsdann von der schweren Küchenluft zurückgestoßen wurde und im Halse erstickte. Sollte die Frau Knaut hierbei nicht in die äußerste Wut geraten? – Was geschah? Sie bat die Rednerin um einen Augenblick Geduld, stürzte den pathetischen Redner vom Rednerstuhle, jagte ihn mit Ohrfeigen und Stößen, um die Hitze seiner Begeisterung zu dämpfen, in die Wohnstube, und nun blieb er so lange in dem Zustande, der – wenn uns doch unsre Philosophen mit Namen versorgten, sie haben ja so nichts zu tun; itzt fehlt mir schon wieder einer! – Genug, die Sache ist: Tobias saß auf dem Stuhle, den Ellebogen auf den Tisch und den Kopf auf die Hand gestützt, und tat weiter nichts, als daß er alles, was in dem Horizonte seiner Sinne, das heißt, von den zwei ihm gegenüber stehenden Wänden und einem Winkel der Stube auf ihn wirkte, in seinem Körper gewisse Veränderungen hervorbringen ließ – oder vielmehr nicht ließ, denn er konnte es ja nicht hindern! –, also gewisse Veränderungen


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